Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

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Caipirinha
Beiträge: 11
Registriert: 28. Jun 2021, 19:52

Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Caipirinha »

Ein freundliches Hallo in die Runde, ich bin neu hier.
Ich weiß nicht, wie oft ich schon einen Text gestartet habe, ihn komplett verworfen oder nicht fertiggestellt habe. Er ist leider etwas länger geworden, aber ich lasse ihn jetzt so, bevor ich ihn gar nicht reinstelle.

Zu mir: ich bin depressiv, das habe ich mir nach langer Gegenwehr endlich eingestanden. Und auch wenn es mir leichter fällt, es nach außen hin als Burnout zu bezeichnen, weiß ich, dass die Arbeit und die damit verbundene Überlastung zwar der finale Auslöser der jetzigen Episode ist, aber eben nicht der alleine Verursacher. Ich bin es, ich denke nicht gesund und das bereits seit vielen Jahren, wenn nicht schon in bestimmten Bereichen schon immer. Aber ich konnte es viele Jahre ganz tief in mein inneres einschließen und habe nach außen hin die taffe Leistungsträgerin und Führungspersönlichkeit gespielt. Ja, ich schreibe gespielt, denn für mich fühlte es sich immer so an, als würde ich nur eine Rolle spielen und bald jemand dahinterkommen, dass es alles Fassade ist. Ich war gut in der Fassade. So gut, dass ich bei meinem vorherigen Arbeitgeber immer weiter aufgestiegen bin, da ich immer das Gefühl hatte, ich muss mich über die Arbeit definieren. Meinen eigenen Ansprüchen aber konnte ich nie wirklich genügen.

Ich kündigte 2019 nach 20 Jahren meine Leitungsposition bei meinem vorherigen Arbeitgeber, da ich dachte, dass ich nur eine Auszeit und einen Tapetenwechsel bräuchte und alles würde wieder in Ordnung. Rückblickend stand ich bereits da kurz vor einem totalen Zusammenbruch, dachte aber, ich hätte rechtzeitig die Reißleine gezogen und es läge an den äußeren Umständen. Bereits zu der Zeit bin ich oft unter Tränen zusammengebrochen, hatte aber dort Kolleginnen, die immer ein offenes Ohr hatten und die ich auch heute noch zu meinen Freundinnen zählen kann. Ich bin ein paar Monate allein gereist (bin 40 und Single) und habe mir nach meiner Rückkehr eine neue Stelle gesucht. Dort startete ich im Mai 2020 als Teamleitung, stieg bereits wenige Monate weiter auf, bin seitdem 3 Teams mit über 40 Mitarbeiter*innen direkt überstellt und stellvertretende Leitung des gesamten Fachbereichs mit weit über 100 Mitarbeiter*innen. Die Beförderung habe ich mir wahrscheinlich verdient, ich habe mich schließlich gegen sehr gute Mitbewerber*innen durchgesetzt. Aber es fühlte sich eben nicht so an. Mein eigenes Selbstbild weicht so extrem von dem ab, was ich offenbar nach außen zeige, dass ich immer dachte, ich müsste noch mehr leisten, um dem gerecht zu werden. Ich habe mich wegen mehrerer Personalausfälle komplett verausgabt, arbeitete dank Homeoffice Wochenenden durch und 70 Stunden-Wochen waren eher die Regel als die Ausnahme. Dank Corona war das Privatleben ja eh komplett heruntergefahren. Damit habe ich mich final in eine schwere depressive Episode gestürzt, aus der ich keinen Ausweg finde. Ich bin an meinen eigenen Ansprüchen gescheitert. Privat ist es nicht anders. Ich befand mich nie für genug; nicht attraktiv genug, nicht schlank genug, nicht witzig genug, nicht begabt genug, nicht liebenswert genug. Daher habe ich mich immer selbst boykottiert und bis heute keine Beziehung länger als 5 – 6 Monate ausgehalten.

Ich habe mir Hilfe gesucht, bin seit Ende Februar 2021 nach einem totalen Zusammenbruch durch meinen Hausarzt krankgeschrieben und habe nach einer langen und sehr beschwerlichen Suche (hier hätte ich fast aufgegeben, aber das ist ein anderes Thema) eine Therapeutin gefunden, bei der ich ab Ende August eine Gruppentherapie beginnen werde. Der bereits im März gestellte Reha-Antrag wurde nach der zunächst erfolgten Ablehnung (ich war ja nie krank) und eingelegtem Widerspruch (musste zu einem von der RV beauftragten Gutachter) gerade final bewilligt. Allerdings ist der Antrittstermin erst im Dezember, also erst in 5 Monaten.

Ich frage mich, wann ich endlich mit einer Besserung rechnen kann. Von allein komme ich da nicht raus und jede Unterstützung braucht so lange, bis sie startet und dann kann ja nicht vom ersten Tag eine Besserung erwartet werden.Wie lange dauert dieser Mist? Bin ich zu ungeduldig? Ich fühle mich unnütz und wertlos, da ich in meiner derzeitigen Verfassung nicht einmal an Arbeit denken kann und mich alltägliches bereits überfordert.

Wie war es bei euch? Wie lang war euer Weg, bis ihr da raus wart und wieder arbeiten gehen konntet?

LG Caipirinha
Suchende2
Beiträge: 1233
Registriert: 29. Sep 2020, 08:05

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Suchende2 »

Hallo Caipirinha,

herzlich willkommen im Forum.

Wie lange der Weg dauert, kann ich Dir nicht sagen, ich befinde mich noch auf dem Weg.
Was ich aber inzwischen gelernt habe, ich sollte Geduld mit mir haben. Das fällt mir sehr schwer, aber langsam verstehe ich, daß ich es ohne Geduld mit mir selbst nie schaffen werde. Bei anderen Menschen habe ich immer sehr viel Geduld. Nur bei mir selbst ist es schwierig.

Ich wünsche Dir noch viele Antworten und alles Gute,
Suchende
Sunshine5678
Beiträge: 986
Registriert: 19. Nov 2019, 20:06

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Sunshine5678 »

Hallo Caipirinha,

Ich bin von deiner Schilderung beeindruckt wie klar du alles ableitet und definierst. Da bist du in meinen Augen schon einen ganz grossen Schritt gegangen.
Leider kann ich dir auch nicht sagen wie lange es dauert, weil auch jeder Mensch anders ist.
Ich wünsche dir viel Kraft und Geduld und vor allem Liebe zu dir selber.
LG Claudia
:hello:
Kada
Beiträge: 272
Registriert: 13. Mär 2016, 23:10

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Kada »

Liebe Caipirinha,

in vielen Punkten finde ich mich in deinem Beitrag wieder: das berufliche Auspowern, die Fassade der Powerfrau und das sehnsüchtige Warten auf Gesundung.

Seit April hänge ich auch wieder im Loch und kann nicht arbeiten (bin selbstständig). Ich mache etwas Homeoffice und alles fällt mir schwer. Wenn ich so recht überlege, habe ich mich auch völlig über die Arbeit definiert und finde im Augenblick auch keine Alternative. Klar, ich habe Hobbys, aber sie erfüllen mich jetzt nicht. Diese Leere ist schwer auszuhalten.

Du fragst, wie lange dieser Zustand noch anhält. Das kann uns leider niemand sagen. Ich befürchte, dass das, was sich lange aufgebaut hat, auch lange braucht, um wieder zu verschwinden. Aber es wird wieder besser, das weiß ich aus früheren Episoden (auch wenn ich es momentan selbst nicht glauben kann!).

Wir müssen wohl oder übel geduldig sein, leider.

Alles Gute!
Kada
Greta1962
Beiträge: 281
Registriert: 21. Sep 2020, 20:13

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Greta1962 »

Hallo Caipirinha!

Wie lang der Krankheitsschub dauert und dich in beruflicher und privater Hinsicht so außer Gefecht setzt, wird dir hier niemand sagen können.

Meine Therapeutin sagte, ungefähr so lange, wie es gekommen ist, braucht es um wieder zu gehen. Was natürlich nicht heißt, dass man jetzt so lange nicht arbeiten kann - schließlich konnte man vorher auch arbeiten. Man muss es aber trotzdem akzeptieren und sein Leben umstellen.

Bei mir ist es ca. 20 Jahre schleichend gekommen - und wenn es so lange braucht, bis es wieder geht, dann werde ich es vielleicht gar nicht mehr erleben. Aber ich bin "glücklicherweise" schon fast 60 - und glaube nicht, dass ich noch mal arbeiten kann. Ich fühle mich so müde, schlapp und leer, unsicher, voller Ängste, dazu ohne Konzentration ... ich bin froh, wenn ich mein normales Leben irgendwie durchstehen kann und nicht jeden Abend denke "was für ein schlechter Tag - und keine Aussicht, dass das Morgen besser wird!" ... da könnte ich mir Arbeit überhaupt nicht vorstellen, zumal das ein Teil war, der meine Depression begünstigt hat.

Bei dir ist das sicherlich anders. Du musst aber trotzdem lernen, da etwas zu ändern - dein Anspruchsdenken, perfekt zu sein ... und es wäre vielleicht auch eine gute Idee, dein Arbeitspensum runterzuschrauben. Vielleicht die Arbeitszeit reduzieren - 80 % oder so? Verantwortung abgeben, keine Führungsposition mehr ... usw. Kurz: Druck rausnehmen! Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich könnte mir gut vorstellen, dass dir schon das helfen würde. Denn Arbeit kann ja auch Inspiration, Anregung sein - und in einer Depression durchaus helfen.

Alles Gute für dich!
Liebe Grüße von ..... Greta
Windwolke
Beiträge: 188
Registriert: 6. Mai 2021, 11:02

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Windwolke »

Hallo Caipirinha,
auch ich bin schwer beeindruckt. Was für eine Powerfrau! Was du bereits alles geschafft, gemeistert und wie du es zu Höchstleistungen gebracht hast, so dass du wirklich Karriere machen konntest, entlockt mir einfach nur ein „Boah!“, noch dazu, wenn es nie wirklich auf einem stabilen Selbstwert-Fundament basiert hat. Ich frage mich da nur, wie kann man überhaupt einen solch erfolgreichen Weg so lange durchhalten! Es ist für mich, die ich durch ein kaputtes Selbstwertgefühl und die Depression beruflich nichts Vorzeigbares erreicht habe, vollkommen unglaublich.

Auch mein Mann war Führungskraft. Ich weiß, wie anstrengend das ist und welche Belastbarkeit man mitbringen muss, um den vielen Anforderungen nach oben und unten gerecht zu werden. Teilweise gab es personelle Probleme, die meinen Mann stark belastet haben, weil er ein guter Mitarbeiter, aber auch ein mitarbeiterfreundlicher Chef sein wollte. Das empfand ich als riesige Herausforderung und auch immer wieder Überforderung. Dass man da in einen Burnout abkippen kann, finde ich nur allzu verständlich. Mein Mann war auch jahrelang auf der Grenze dorthin balanciert. Mir ist unbegreiflich, wie man die innere Stärke haben kann, jahrelang ein solches Aufgabenspektrum zu bewältigen und dabei immer weiter aufzusteigen. Alle Achtung!

Im Laufe meines Lebens habe ich immer wieder erfahren, wie wichtig ein intaktes Selbstwertgefühl ist. Keines zu haben, bringt früher oder später die meisten Menschen in leidvolle Erfahrungen. Was du beschreibst mit deinem inneren Selbstbild, das so ganz anders war als das, was du nach außen geschafft hast zu leben, klingt für mich nach fehlender Selbstliebe, nach einem Selbstwertproblem. Im Beruf ist es ja eigentlich wichtig, seine Seele nicht offen zu zeigen. Aber es ist auch wichtig, nicht zwei so extrem unterschiedliche Leben zu leben - ein inneres und ein äußeres. Eine Selbstwert-Problematik entsteht ja in der Kindheit, wenn das Kind nicht um seinetwillen geliebt wird, sondern z. B. das Bedürfnis entwickelt, Leistung vorzeigen zu müssen, um geliebt zu werden. Meinst du, das passt auch für dich?

Toll, dass du schon viel Wichtiges in die Wege geleitet hast und so für dich sorgst. Ich finde immer, dass es ein Fiasko ist, wenn ein depressiver Mensch so lange warten muss, bis Hilfe-Maßnahmen beginnen. Ich an deiner Stelle würde wahrscheinlich noch zu einem guten Psychiater gehen und besprechen, wie du die Zwischenzeit überbrücken kannst. Medikamente könnten helfen, dass die Depression nicht tiefer wird und alles etwas leichter wird. Wenn der Hirnstoffwechsel Unterstützung bekommt, kann oft alles heller werden. Leider dauert es aber auch bei der medikamentösen Unterstützung oft länger, bis die Wirkstoffe greifen und ihre lindernde Wirkung zeigen.

Wenn du glaubst, Gespräche könnten dir bei der Überbrückung helfen, könntest du vielleicht beim Sozialpsychiatrischen Dienst schnell Hilfe finden. Oder bei einer Ehe-, Familien-, Lebensberatungsstelle. Da sitzen gute Leute, und mir haben die Gespräche immer sehr, sehr gut getan, weil das Selbstwertgefühl Unterstützung bekommt. Man lernt mit sich selbst liebevoller, verständnisvoller umzugehen. Das könnte bis zur Gruppentherapie eine gute Sache sein.

Depression dauert von Wochen bis Jahre bei jedem Menschen unterschiedlich. Wenn man sich Hilfe organisiert, so wie du, und wenn man sich bemüht, sein eigenes Verhalten entsprechend anzupassen, stehen die Chancen gut, dass es nicht extrem lange dauert. Aber Geduld und Kraft braucht man immer. Depression ist eine scheußliche Krankheit, aber man kann lernen, damit umzugehen. Bei mir klingt sie auch trotz oft absoluter Hoffnungslosigkeit und Unfähigkeit, wo selbst das Aufstehen kaum noch möglich ist und extreme Ängste mich quälen, immer! nach einigen Monaten vollständig ab. Dann bin ich wieder der Mensch, der ich vorher war. Und durch meine vielen inzwischen erlebten Psychotherapien und psychologischer Gespräche, die für mein Leben ein riesengroßer Gewinn waren, hab ich gelernt, mir in jeder Lage gut Mutter zu sein. Das innere Erleben, das in meiner Kindheit und Jugend extrem instabil, unsicher und komplexbeladen war, hat sich gewandelt. Heute kann ich gut für mich sorgen, bin unabhängiger von inneren und äußeren Ansprüchen und finde mich o.k., so wie ich bin. Allerdings bin ich längst nicht mehr berufstätig.

Ich wünsche dir viele hilfreiche Menschen!

LG Windwolke
Thomas68
Beiträge: 2
Registriert: 10. Jul 2021, 10:24

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Thomas68 »

Hallo Caipirinha,

wenn ich deinen Text so lese, dann fällt mir auf, dass du eigentlich nur von deiner Arbeit redest und deinen Wert wohl auch recht stark an deine berufliche Leistungsfähigkeit geknüpft siehst.

Aber was ist mit dir?

Ich weiß nicht viel (ich beginne gerade erst, das Thema für mich selber zu erkunden), aber eines weiß ich: Arbeit, Karriere, Funktionieren mögen Auslöser für akute Krisen sein. Mit den eigentlichen Gründen haben sie aber in der Regel nichts zu tun. Die liegen irgendwo in der Person und ihrer Geschichte vergraben.

LG
Thomas
Hörnchen2020
Beiträge: 34
Registriert: 29. Nov 2020, 21:03

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Hörnchen2020 »

Hallo, Caipirinha,
ich entdecke in deiner Geschichte vieles von mir. Ich war bis zu einem Burnout im Frühjahr 2020 stellvertretende Leitung. Auch ich hatte immer eine Fassade, die für andere sehr erfolgreich war, die dahinter aber für mich sehr negativ aussah. Ich bin dann in eine schwere Depression gerutscht. Meine Familie und eine Kollegin haben dafür gesorgt, dass ich zum Arzt gegangen bin und mich habe krankschreiben lassen. Ich hatte Glück und habe nach zwei Wochen einen ersten Termin beim Psychologen gehabt und nach knapp drei Monaten (jetzt vor genau einem Jahr) bin ich in eine Klinik gegangen. Dort habe ich mit der Einnahme von Antidepressiva begonnen und bin 11 Wochen dort geblieben. Nach sechs Monaten Krankschreibung habe ich mit einer Wiedereingliederung begonnen, aber ohne Führungstätigkeit. Das fiel mir zu Beginn sehr schwer und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es jemals wieder besser geht. Aber ich konnte die Wiedereingliederung sehr lang ziehen und so bin ich mittlerweile wieder bei der vollen Stelle. Die Führungstätigkeit habe ich aufgegeben und zum Glück haben die Kollegen mir deutlich gemacht, dass sie es für sehr mutig halten, diesen Schritt zu gehen.
Ich denke, dass die Antidepressiva viel dazu beigetragen haben, dass ich alles etwas lockerer sehe und durch die Therapie habe ich meine absoluten Negativfilter abgelegt( ich glaube es zwar immer noch nicht immer, aber ich habe gelernt, dass meine Psyche mir da oft einen Streich spielt und nicht alles wahr sein muss, was ich denke).
Also mittlerweile geht es mir recht gut, ich habe aber noch Angst davor, dass sich das morgen wieder ändert, weil jegliche Kritik mich wieder herunterzieht.
Ich habe jetzt viel von mir geschrieben, aber ich hoffe, dass du etwas daraus ziehen kannst. Ich würde mir an deiner Stelle auch einen Psychiater suchen, denn Antidepressiva sorgen dafür, dass man die Chance bekommt, alles nicht mehr ganz so negativ zu sehen. Und die Fassade hinterfrage ich dank der Therapie.
Alles Gute für dich
Hörnchen
Strohi
Beiträge: 388
Registriert: 17. Mai 2015, 22:45

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Strohi »

Hallo Caipirinha,

ich finde es toll, dass Du hier bist, Dich im Forum registriert und angemeldet hast!
Ich finde es toll und auch mutig von Dir, dass - und wie - Du uns von Dir erzählt hast!

Ich finde mich in Deiner Beschreibung selbst wieder, mit zwei Ausnahmen:
- als Vorsitzender des elfköpfigen Betriebsrats war ich auch in einer Art "Führungsposition", ohne allerdings Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter "unterstellt" zu haben, meine Position war "primus inter pares", also "Erster unter Gleichen"
- ich hatte während meiner Beschäftigung nie das Gefühl, eine Rolle zu spielen - das kam, mit all' seinen psychisch-seelischen Nebenwirkungen (auch der wahnsinnigen Angst, nun erkannt zu werden als ein "Schauspieler in eigener Regie, verbunden mit der Frage, ob es ein richtiges Leben in einem falschen Leben geben kann, oder ob es nicht für meine Umwelt und für mich besser wäre, dies zu einem Ende zu führen), erst und mit aller Wucht auf mich zu als ich arbeitsunfähig und in Reha sowie in ambulanter Gesprächstherapie war (acht Jahre später bin ich erwerbsunfähig und bekomme Erwerbsminderungsrente, nicht mehr nur zeitlich befristet, sondern bis zum Beginn der Regelaltersrente in ungefähr vier Jahren).

Du fragst, wie lange der Mist dauere und wann Du mit einer Besserung rechnen kannst. Darauf kann ich Dir zwei-geteilt antworten:
- auf der Startseite dieses Forums steht, als Zitat von einer oder einem Betroffenen, der richtige und zutreffende Satz: "Depression stellt oft den 100-Meter-Läufer vor die Aufgabe, Marathonläufer zu werden."
- meine Depression, die von den Erziehungsmethoden meiner Eltern verursacht wurde und jahrzehntelang in mir schlummernd mein Denken, Fühlen und Tun unbewusst beeinflusst hat, brach 2009/2010 akut aus, sie wurde Anfang 2011 offiziell fachärztlich diagnostiziert; seit damals nehme ich Antidepressiva, Anfang 2012 war ich in einer Reha, 2014 in einer Akut-Klinik, 2015 in einer Tagesklinik, 2016 in einer Reha-Klinik mit anschliessender Behandlung in der Psychiatrie und darauffolgender Behandlung in einer Reha-Klinik, seit Anfang 2012 bin ich fast durchgängig (die "Pausen" dazwischen waren die Suche nach einem neuen Therapieplatz) bei nunmehr der vierten Verhaltenstherapeutin in einer ambulanten Psychotherapie. Noch immer ist mein Leben seitdem eine stetige "Berg- und Talfahrt", wobei ich einschränkend dazu sagen muss, dass 2014 zur Diagnose "Depression" die Diagnose "Persönlichkeitsstörung" dazu kam.

Also, ich vermute mal, dass Du Dich eher (!) auf eine längere Wegstrecke einstellen musst als auf eine schnelle Besserung.

Ich wünsche Dir alles Liebe und Gute auf Deinem Weg und viel Erfolg bei und mit Deinen Therapien.

Herzliche Grüsse, Strohi
Caipirinha
Beiträge: 11
Registriert: 28. Jun 2021, 19:52

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Caipirinha »

Vielen Dank euch allen für die lieben Antworten und dass ihr eure Gedanken mit mir teilt.

In einem Forum zu schreiben ist für mich noch immer etwas schwierig, daher hat es jetzt auch ein paar Tage gedauert. Es ist schön, von euch zu lesen. Ich weiß natürlich, dass jeder verschieden ist und Vergleiche schwierig sind.

Ihr alle schreibt von Geduld, das würde ich natürlich auch jedem anderen raten. Ich würde sagen: „Kümmere dich erst einmal um dich und dass es dir wieder gut geht und verschwende keine Gedanken an die Arbeit, die kann warten.“ So etwas kann ich mir selbst aber nicht zugestehen. Schließlich muss jemand ja auf der Arbeit meinen Ausfall kompensieren und gerät damit vielleicht in eine ähnliche Überlastung. Es fällt mir sehr schwer, geduldig zu sein. Ich verstehe nicht wirklich was mit mir los ist und kann es natürlich noch weniger anderen erklären. Es fällt mir leichter, den die Depression auslösenden Anteil der Arbeit zu schildern, als Prägungen aus meiner sehr schwierigen Kindheit, die vermutlich den Mammutanteil einnehmen. (Der Gutachter für die Reha bezeichnete mich in einem Nebensatz als „vernachlässigtes Kind“.) Bei jedem Besuch bei meinem Hausarzt aber werde ich gefragt, wie es mir geht, ob ich perspektivisch schon über eine Wiedereingliederung nachgedacht hätte und es nervt mich, dass ich darauf keine Antwort habe. Ich kenne mich nicht mehr. Woher soll ich wissen, wann ich soweit bin? Bin ich bereit, wenn ich nicht mehr bei Kleinigkeiten in Tränen ausbreche? Wenn ich es wieder schaffe länger als eine halbe Stunde zu lesen? Wenn soziale Kontakte nicht mehr so extrem anstrengend sind? Wenn ich es schaffe jeden Tag einen Spaziergang zu machen? Wenn sich die parallel zu meinem Zusammenbruch plötzlich aufgetretene Hauterkrankung bessert (Haut ist ja sprichwörtlich ein Spiegel der Seele)? Wenn … - ja wenn was? Weiß man das irgendwann einfach?

Mir ist bewusst, dass ich meine berufliche Situation irgendwann massiv überdenken muss. Bereits vor meinem Ausfall hatte ich ja nach meiner Kündigung einen mehrmonatigen Roadtrip im Ausland unternommen und gehofft, in dieser Zeit herauszufinden, was ich will. Vielleicht war mein Schritt in den neuen Job (neuer, größerer Arbeitgeber, anderes Fachgebiet) nicht groß genug. Leider ist eine entsprechende Erkenntnis ausgeblieben und während der ersten Corona-Welle wurden wenige interessante Stellen ausgeschrieben. Ich schließe nicht aus, meine Tätigkeit dort voll aufzugeben. Bisher wurde mir seitens der Therapeutin und meines Arztes aber davon abgeraten voreilige Entscheidungen zu treffen. Ihr kennt es sicher, Entscheidungen zu treffen ist in der depressiven Phase eine nahezu unlösbare Aufgabe…
@Windwolke, du schreibst, dass du dich fragst, wie ich trotz eines geringen Selbstwertes beruflich so weit gebracht habe. Dazu kann ich nur sagen: ich bewundere dich und andere, die es eben ohne entsprechendes Fundament in eine stabile Beziehung geschafft haben. Denn so etwas erfordert eine Stärke, die ich bisher nicht aufbringen konnte.

Ich habe mich auf die Arbeit gestürzt und mein Privatleben vernachlässigt. Beides hätte ich vermutlich nicht geschafft. Ich habe zu viel von mir und den Beziehungen erwartet. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum mich ein Mann lieben könnte. Aus falschem Selbstschutz habe ich daher echte Nähe nie zulassen können. Aus meiner Sicht war daher der Fokus auf die berufliche Karriere viel leichter. Ich wollte nie so werden wie meine Eltern, daher musste ich mir beweisen, dass ich etwas aus mir machen kann, auch wenn ich aus schwierigen Verhältnissen komme.

Gestern hatte ich den ersten Termin bei einer Psychiaterin, den ich mir bereits Anfang März besorgt hatte. Sie bedauerte, dass ich nicht schon vor Jahren gekommen bin und bestätigte die Diagnose einer schweren depressiven Episode. Sie bot mir Antidepressiva an, wofür ich mir aber Bedenkzeit erbat. In einem Monat habe ich dort den nächsten Termin. Warum habe ich nicht gleich zugegriffen? Weil meine Therapeutin mir zunächst davon abgeraten hat. Auch mein Hausarzt meinte, ich sollte es erst einmal ohne versuchen. Ich weiß nicht, auf wen ich jetzt hören soll. Insgesamt kennt mich die Therapeutin in meiner derzeitigen Verfassung am besten. Außerdem ist meine Urtikaria derzeit so schlimm, dass ich bereits überdosierte Medikamente zu mir nehmen muss. Beides auf einmal war mir zu viel.

Ich danke euch für eure netten Wünsche und Tipps. Auch für euren Weg wünsche ich euch alles Gute und ich hoffe, bald auch von einem Fortschritt berichten zu können.

LG
Caipirinha
Lavendel64
Beiträge: 545
Registriert: 27. Dez 2017, 14:44

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Lavendel64 »

Hallo Caipirinha,

hmmm, für mich hört sich das überhaupt nicht nach Wiedereingliederung an. Du hängst noch so stark an der Arbeit und würdest (sorry dass ich das so sage, aber anders hilft es nicht weiter) vermutlich in die gleiche Spirale geraten. Der Fall wäre womöglich tiefer.

Ich war nach einem ähnlichen Zusammenbruch 9 Monate krank geschrieben. Von dieser Zeit war ich zwei Monate in der Tagesklinik. Bevor ich die Tagesklinik in Angriff nahm (5 Monate Wartezeit...) war ich an einem ähnlichen Punkt wie Du ... hatte mich ein wenig erholt und dachte, ich könne wieder arbeiten. Glücklicherweise hatte ich ein Umfeld, das mir dringend abriet. Erst dadurch und die Klinik wurde ein anderer Prozess in Gang gesetzt. Der Roadtrip war eine gute Idee, aber du wirst weiterhin abgelenkt ... das KANN funktionieren, muss aber nicht. Eine Klinik oder Reha (hast du das mal angedacht?) nimmt dich aus dem Leben raus, du bist nur noch auf Dich selber fokussiert und deine Psyche bekommt den Raum, den sie braucht, um mal richtig "aufzuräumen". Unterstützt von wöchentlichen therapien.

Im Nachhinein (5 Jahre später ....) bin ich glücklich, diesen Weg gegangen zu sein, so schwer er auch war. Eine ambulante Therapie hätte mir diese Vielseitigkeit (Ausgleich durch Chi-gong, Nordic Walking, Schwimmen, Maltherapie, Infostunden) nicht bieten können. Ich habe gelernt, mich selber zu achten und die Bedürfnisse, die damit zusammenhängen. Man fällt in alte Muster - klar - aber man erkennt es und kann zeitig gegensteuern. Mal ein verlängertes Wochenende machen. Faul auf dem Sofa liegen und sich nicht schlecht dabei fühlen, sondern es sich einfach mal gönnen.

Ich bin über die Wiedereingliederung wieder in den Job gekommen (habe den zweiten aufgegeben) und arbeite jetzt 32 Stunden. Damit habe ich für MEIN Leben ein Gleichgewicht geschaffen, das zwar mal aus den Fugen gerät, aber jetzt gibt es Möglichkeiten und ein Netzwerk, über das ich schnelle Hilfe bekomme. Berufliche Anerkennung bedeutet kein 70-Stunden-Job, sondern die Qualität deiner Arbeit. Deine Grenzen musst du selber aufzeigen - allerdings musst du sie vorher kennenlernen.

LG Lavendel
***Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen ***
Suchende2
Beiträge: 1233
Registriert: 29. Sep 2020, 08:05

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Suchende2 »

Guten Morgen Caipirinha,

ich habe auch lange keine Medikamente genommen, nehme aber inzwischen Medikamente. Und trotz der einen oder anderen Nebenwirkung der AD, bin ich froh, sie inzwischen zu nehmen. Die positive Wirkung überwiegt sehr! Ein AD nehme ich unterdosiert zum Schlafen. Meine Therapeutin meinte, mehr benötige ich nicht, bis sie einen Versuch mit mir gemacht hat und endlich verstanden hat, was ich ihr sage. Darauf schickte sie mich zum Psychiater und nun habe ich auch etwas für den Tag.

Ich habe auch eine Urtikaria. Wenn Du die normalen Antihistamine überdosiert nimmst, kannst Du einige Antidepressiva nicht nehmen, da diese auch auf den Histaminspiegel wirken.
Ich empfehle Dir, mit Deinem Hautarzt zu sprechen, ob Du Xolair bekommen kannst. Dann bist Du bei den AD freier in der Medikamentenwahl. Bei mir hilft Xolair gut und ich habe dadurch extrem viel Lebensqualität zurückerhalten. Da ich nicht weiß, was für eine Form der Urtikaria Du hast, weiß ich nicht, ob Dein Hautarzt es Dir verschreiben kann, oder Du zur Sprechstunde einer Klinik gehen mußt. Ich benötigte für meine Form eine Genehmigung der Krankenkasse für einen 1/2 jährigen Versuch. (Zur Zeit läuft der Verlängerungsantrag).

Ich wünsche Dir alles Gute,
falls Du es wünscht, können wir uns über die Urtikaria auch über PN austauschen,
Suchende
Caipirinha
Beiträge: 11
Registriert: 28. Jun 2021, 19:52

Re: Falsches Selbstbild und der lange Weg zur Besserung

Beitrag von Caipirinha »

Hallo Lavendel,

danke für die offenen Worte. Ich selbst würde mir eine Rückkehr zum jetzigen Zeitpunkt auch noch nicht zutrauen. Ich bin zwar schon fast 5 Monate krankgeschrieben, aber so richtig gebessert hat sich die Depression bisher nicht. Ich schlafe zwar etwas besser, habe mich zu Ärzten und Therapeuten getraut und kann inzwischen etwas darüber sprechen bzw. schreiben. Das allein war schon ein ziemlicher Prozess, obwohl meine Therapie noch gar nicht richtig angefangen hat, sondern ich nur probatorische Sitzungen hatte. Ich weiß aber aus diesen Sitzungen, dass ich noch sehr viel Arbeit vor mir habe. Der Start der Gruppentherapie steht mir ja noch bevor, mal sehen wie das wird. Dass die Wartezeiten überall (Reha, Therapie, Psychiater) so lang sind, damit hatte ich zu Beginn meines Ausfalls nicht gerechnet und dachte, ich sei längst wieder einsatzfähig.

Ja, es stimmt, der Roadtrip hat mich leider nicht weitergebracht. Er hat mir aber den Blick dafür eröffnet, wie schön die Natur ist und was für tolle Orte es gibt. Es war eine schöne Zeit, wo sich die Probleme auf „wann gibt es die nächste Dusche“, „habe ich genug Trinkwasser“, „finde ich ein schönes Plätzchen zum Übernachten“ oder „schaffe ich es bis zur nächsten Tankstelle“ beschränkt haben. Es hat mich aus dem Alltag gebracht, aber die da vermutlich bereits aufkeimende Depression konnte ich damit nicht besiegen. Eine Reha hatte ich auf Rat meines Arztes bereits Anfang März beantragt. Natürlich wurde diese zunächst abgelehnt, war ja noch nie krank. Inzwischen wurde sie genehmigt, nachdem ich zu einem Gutachter musste. Leider startet sie erst Anfang Dezember, also erst in 5 Monaten. Wie mir die Psychiaterin berichtete, sind die Wartezeiten für eine Klinik derzeit leider noch länger. Bei der Reha-Einrichtung habe ich mich auf die Warteliste setzen lassen, da ich auch kurzfristig anreisen könnte. Ich hatte sehr auf eine frühere Reha gehofft, um eine geregelte Alltagsstruktur zu haben, denn damit habe ich noch große Schwierigkeiten. Tatsächlich habe ich keinen wirklichen Ausgleich, weiß oft nichts mit mir anzufangen, kann mich aber auch zu wenig aufraffen. Allein bei sozialen Kontakten zwinge ich mich dazu, so wenig wie möglich abzusagen und den Kontakt zu engen Freunden zu halten. Ich habe in einer früheren Phase mal viele Freunde verloren, weil ich mich extrem distanziert und mit fadenscheinigen Ausreden kurzfristig abgesagt hatte.

Schön, dass es dir inzwischen gut geht, du deine Bedürfnisse jetzt kennst und dein Leben danach ausrichtest. Das zeigt mir, dass es ein DANACH gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ich hoffe sehr, dass ich das auch irgendwann von mir berichten kann. Darf ich fragen, ob du Antidepressiva genommen oder es ohne gemeistert hast?

LG
Caipirinha
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