Unterschied erkennen: Nur "schlecht drauf" oder depressiv

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yellohmellow
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Re: Unterschied erkennen: Nur "schlecht drauf" oder depressi

Beitrag von yellohmellow »

Ich bin da etwas skeptisch in Bezug auf das was im Artikel steht:

„ Die Hirnfunktion sei krankhaft verändert, das Herz funktioniere anders und der gesamte Stoffwechsel verändere sich. Selbst an den Stresshormonen sei das zu messen. “(Prof. Hegerl)

Das wirkt auf mich so, als ob Depression durch veränderte Körperfunktionen festgestellt werden kann.
Nach meiner Kenntnis führen diverse psychologische Testverfahren und ein ausführliches anamnestisches Gespräch zur Diagnose Depression oder auch nicht.

Oder bin ich da nicht mehr auf dem neuesten Stand?

LG yellohmellow
Ein Sommertag
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Re: Unterschied erkennen: Nur "schlecht drauf" oder depressi

Beitrag von Ein Sommertag »

Das ist auch einer der (vielen) Punkte, die ich kritisch sehe.

Außerdem sind viele Stresserlebnisse (Cortisol) körperlich messbar und auch jede Kommunikation wird das Gehirn umstrukturieren.
Im Fall der Trauer z.B. wird der Cortisolspiegel auch dauerhaft erhöht sein. Wie will man da eine Unterscheidung zur Depression ziehen?
Auch können kritische Lebensereignisse zum Ausbruch einer psychischen Störung beitragen. Übergänge sind wohl fließend. Wie will ein Arzt/Psychiater das durch die übliche Fragebogendiagnostik feststellen?

In den Handbüchern ICD und DSM sind ja die Kriterien definiert, die man für eine depressive Episode erfüllen muss. Hier ist kein einziges biologisches Kriterium vermerkt. Wenn das möglich wäre, würde es wohl sofort in die Tat umgesetzt werden, damit die Psychiatrie im Vergleich zu anderen medizinischen Disziplinen ernster genommen würde.

Ich muss immer an das Beispiel des toten Lachses denken, dem man im MRT noch das Erkennen menschlicher Emotionen hätte nachweisen könne.
Frei nach Felix Hasler: Man weiß noch nicht mal, wie ein "gesundes" Hirn funktioniert, wie soll man dann Aussagen über ein "gestörtes" Hirn treffen?

https://www.sueddeutsche.de/wissen/neur ... re-1.36460" onclick="window.open(this.href);return false;
yellohmellow
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Re: Unterschied erkennen: Nur "schlecht drauf" oder depressi

Beitrag von yellohmellow »

Ein Sommertag hat geschrieben:
Im Fall der Trauer z.B. wird der Cortisolspiegel auch dauerhaft erhöht sein. Wie will man da eine Unterscheidung zur Depression ziehen?
Das sehe ich ganz genauso. Natürlich gibt es Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche, der Bereich der psychosomatischen Erkrankungen macht das ja deutlich, aber so weit ist die Forschung nach meinem Wissensstand noch nicht, daß Depression aufgrund körperlicher Tests diagnostiziert werden kann.
Auch können kritische Lebensereignisse zum Ausbruch einer psychischen Störung beitragen. Übergänge sind wohl fließend. Wie will ein Arzt/Psychiater das durch die übliche Fragebogendiagnostik feststellen?
Da glaube ich schon, daß das möglich ist, die Tests umfassen ja einen sehr breiten Themenbereich, dazu zählen auf jeden Fall auch kritische Lebensereignisse. Außerdem, wie soll man sonst zur Diagnose „Depression“ kommen, wenn nicht durch psychologische Tests und ein ausführliches anamnestisches Gespräch? Man kann natürlich argumentieren, daß man ganz auf solche „Schubladen“ verzichten sollte. Aber das wird wohl so schnell nicht passieren, das System braucht Schubladen, leider...

LG yellohmellow
Ein Sommertag
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Re: Unterschied erkennen: Nur "schlecht drauf" oder depressi

Beitrag von Ein Sommertag »

Hey Yellohmellow,

ich sehe es auch so, dass Schubladen gebraucht werden, da sie eine kassenfinanzierte Behandlung legitimieren.

Was ich nicht so sehe, ist, dass man genau definieren kann, was eine Depression ist, dass diese genau abgrenzbar ist, von z.B. einer verlängerten Trauerreaktion.
Psychische Störungen treten zu einem hohen Grad komorbid auf. Nur in den seltensten Fällen wird es eine lupenreine Depression geben.
Ein Professor von mir hat gesagt, dass zu einer Diagnostik außerdem auch eine Lebenslaufdiagnostik (Ist jemand bei einer bestimmten Entwicklungsaufgabe steckengeblieben und arbeitet sich da immer wieder ab?) und die Betrachtung des Umfelds gehört und dass das unter zwei Tagen nicht zu schaffen sei. Wer bitte nimmt sich heute die Zeit für eine solch umfangreiche Diagnostik?

Dann gibt es so viele Symptome, die sich teilweise sogar widersprechen: vermehrtes Essen - Appetitlosigkeit, seelische "Lähmung" - Agitation, all das ist Depression.
Wie will man da eine objektive Diagnose treffen?

Die Kriterien, die zur Diagnostik erfüllt sein müssen (ICD oder DSM) sind durch ein Gremium festgelegt, teilweise durch Abstimmung per Handzeichen.
Das ist doch keine objektive Basis für eine Diagnostik. Solange es keine biologischen Parameter gibt, finde ich es schwierig, zu sagen, was Depression ist und was nicht. Meiner Meinung nach ist allenfalls eine Annäherung möglich. Daher werden doch auch nicht selten demselben Menschen durch unterschiedliche Fachkräfte unterschiedliche Etiketten verpasst.

Ab wann kann man sagen, ok, das ist jetzt ein normatives oder non-normatives kritisches Lebensereignis, das in den Krankheitswert einer Depression geführt hat? Laut Diagnosemanualen wird das durch den Faktor Zeit gelöst. Das habe ich mit den fließenden Übergängen gemeint. Wie soll man denn sagen können, das und das ist eine "normale" Reaktion auf ein Ereignis, das einen überfordert hat und wann hat es Krankheitswert?

Allen Francis, der die Federführung des DSM-III innehatte und später in seinem Buch "Normal" darüber berichtet hat, dass ihm zu dieser Zeit noch nicht bewusst war, wie schnell man durch das Festlegen einzelner Kriterien eine ganze Diagnosewelle lostreten kann, hat ebenfalls geschrieben, wie er und sein Team sich nach DSM gegenseitig diagnostiziert haben und dass, annähernd jedem aus dem Team mindestens eine Diagnose zugeschrieben werden konnte, sogar teils schwerwiegende, wie z.B. eine bipolare Störung.

Das Rosenhan-Experiment hatte zwar nur eine kleine Zahl an Probanden, es hat aber gezeigt, dass gesunden Menschen, die unter Vorgabe einer psychiatrischen Diagnose in der Psychiatrie landen, selbst "normale" Tätigkeiten wie das Schreiben eines Tagebuchs als pathologisch ausgelegt werden können. Suggestion ist wohl ein wesentlicher Faktor, sowohl auf Patienten- als auch auf Behandlerseite.

Es spielen so viele unterschiedliche Interessen in eine psychiatrische Diagnose hinein. Wenn in einer Klinik wenig oft schriftliche Gutachten zur Verlängerung anfallen, wenn eine schwere Diagnose erstellt wurde, wen verwundert es dann, wenn genau das getan wird?
Außerdem kann man teilweise nachvollziehen, bei welchem Arzt welcher Patient gewesen ist, weil es durchaus "Lieblingsmedikamente" gibt, die bevorzugt werden...

All das lässt mich an der Möglichkeit einer objektiven Diagnose bzw. einer individuellen Behandlung zweifeln.
yellohmellow
Beiträge: 231
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Re: Unterschied erkennen: Nur "schlecht drauf" oder depressi

Beitrag von yellohmellow »

Hallo Sommertag,

Deine Bemerkungen decken sich im Grunde mit meiner Meinung zum Thema. Ich habe als Betroffener selbst erlebt, wie unterschiedlich Diagnosen ausfallen, je nachdem, wer diese Diagnosen stellt. Im Laufe der Zeit war ich bei verschiedenen Psychiatern in Behandlung. Die Diagnosen lauteten mal Dysthemie, mal bipolare Störung, mal mittelgradige Depression, letztere offenbar die beliebteste Diagnose überhaupt. Ein von der Deutschen Rentenversicherung beauftragter (und bezahlter) Psychiater verstieg sich in seinem Gutachten sogar zur Diagnose „Rentenneurose“. Die ICD Nummer dazu muß wohl erst noch erfunden werden.

Kurzum: jeder Mensch ist ein Individuum. Deshalb greifen Schubladenbegriffe - was anderes sind im Bereich psychischer Erkrankungen Diagnosen nicht - zu kurz.

Immerhin gibt es bereits Ansätze, die Behandlung von psychischem Leid mehr auf das jeweilige Individuum zuzuschneiden. Ich bin sehr dafür, daß diese Ansätze weiter entwickelt werden.

LG

yellohmellow
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