Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

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johanna73
Beiträge: 293
Registriert: 11. Okt 2011, 20:22

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

Beitrag von johanna73 »

Hallo,

kennt jemand von Euch den Gedanken, dass, wenn man nur wüsste, welches Ereignis der eigenen Vorgeschichte Schuld ist an der eigenen Traurigkeit, die Traurigkeit sich in Luft auflösen würde?

Habe gerade durch Zufall folgenden Titel entdeckt:

http://www.rowohlt.de/buch/Jennifer_Tee ... 55190.html

Darin schildert die Enkeltochter von Amon Göth, wie sie eines Tages plötzlich durch einen Zufall erfährt, wer sie ist, und wie sie mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Vorgeschichte ihre eigene Depression bewältigt.

Kennt Ihr auch solche Geschichten und habt Ihr auch manchmal das Gefühl, dass, wenn Ihr nur diesen Baustein finden würdet, der Euch fehlt, von Eurer Traurigkeit befreit würdet?

Nicht dass jede Depression mit einer unbewältigten Vergangen der eigenen Familie zu tun hat, aber der Gedanke ist einfach zu schön, dass es so etwas gibt.

Andererseits: Die meisten von uns erfahren ihre Familiengeheimnisse eben nicht. Bei mir weiß ich nicht, wer meine Großväter waren, werde es wohl auch nie erfahren. Die meisten Menschen, die Familiengeheimnisse haben, werden diese wohl nie erfahren ...

LG
j.
Haferblues
Beiträge: 1005
Registriert: 21. Okt 2012, 12:50

Re: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

Beitrag von Haferblues »

Hallo Johanna,

ich hab dieses Buch auch eben verschlungen. Jennifer Teege ist eine starke Frau. Trotzdem glaube ich nicht ganz, dass sie für alle Zeiten jetzt verschont ist von Depressionen. Schön wärs ja.

Ein so extremes Familiengeheimnis hat wohl nicht jeder. Aber in die +++-Sch..... waren viele verstrickt. Mein eigener Großvater auch, allerdings als kleines Licht. Mein Bruder hat extra Geschichte studiert und eine Arbeit über die alten Wehrmachtssoldaten geschrieben. Er hat in keinem Archiv etwas über unseren Großvater gefunden. Die Familie hat immer geschwiegen. Ich weiß nur, dass er in Dachau war (SS-Mann) und später im Osten. Nach Kriegsende hat er sich als Franzose ausgegeben und zur Familie durchgeschlagen.

Das habe ich erst als Erwachsene erfahren, da war mein Großvater längst gestorben. Das hat aber nicht sooo viel mit meiner Depression zu tun, glaube ich. Meine ganze Familie spinnt. Die Familie meiner Vaters (Naziseite) hat immer einen auf heile Familie gemacht. Dabei war offensichtlich nix heil. Da gab es noch ganz andere Baustellen (uneheliche Kinder meines Großvaters, sein Vater hatte sich erschossen). Die Familie meiner Mutter (eher Sozi) ist auch völlig desolat. Da gehts um uneheliche Geburten (eine Schande), weggegebene Kinder (noch eine Generation früher) und Prostitution (Pssssst!!!!). Ich habe das immer nur im Streit erfahren, wenn es hieß: "du bist genau wie .....".

Echte Fakten erfuhr ich nie. Irgendwann hatte ich genug von dem ganzen Schweigen. Bin gegangen.

Ich habe lange in der Altenpflege gearbeitet und viele Geschichten aus dem Krieg und der Zeit davor und danach gehört. Ich kann mir vorstellen, dass viele Leute schreckliche Dinge erlebt haben, die sie aus Scham verschweigen. Ich sag ja immer: diese ganze Generation hat eine Macke.

Glücklich die, die noch was erfahren können. Meine Familie weigert sich bis zuletzt, irgendwas zu sagen. Wir müssen halt zusehen wie wir klarkommen. Wohl oder übel.

viele Grüße
Rifka
Lebenskünstler sind Menschen, die schon vollkommen glücklich sind, wenn sie nicht vollkommen unglücklich sind.
Danny Keye
Schwert10
Beiträge: 257
Registriert: 9. Mär 2011, 15:50

Re: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

Beitrag von Schwert10 »

Hallo dejavue,
ja, den Gedanken kenne ich auch. Ich habe auch mal gehofft, alles würde sich in einem Aha-Erlebnis auflösen. Ich habe geradezu nach einem besonderen traumatischen Erlebnis gesucht, daß hinter meiner Depression stecken könnte. Zum Glück (sage ich heute) war da keins. Eher lauter kleine Ereignisse, die jemand mit besseren Fähigenkeiten der Selbstregulierung vermutlich locker weggesteckt hätte.
Zu Anfang war ich eher enttäuscht , aber heute bin ich froh. Es gibt für meine Depression nicht die eine Ursache, sondern vermutlich mehrere auf verschiedenen Ebenen. Verlassenheitsgefühle in der Kindheit, mangelndes Selbstwertgefühl, genetische Veranlagung, hohe Sensibilität...
Heute weiß ich ich, daß ich noch umlernen kann, ich kann meine Haltung gegenüber mir selbst und meiner Umwelt verandern, neues Verhalten erlernen.
Ich glaube, viele Menschen wollen wissen, warum sie sind, wie sie sind, vor allem wenn sie glauben, etwas stimme mit ihnen nicht. Und wenn man krank wird wie wir, will man das auch. Es nimmt einem ein bißchen das Gefühl des Ausgeliefertseins, wenn man die Ursachen zu kennen meint. Leider ist das in den seltendsten Fällen auch schon die Heilung. Aber es kann hilfreich sein, die oder den Auslöse zu kennen. Wenn man allerdings stecken bleibt in der Suche nach den Ursachen, ist das auch nichts. Um gesund zu werden, muß man meiner Meinung nicht unbedingt wissen, was uns krank gemacht hat, Man muß herausfinden, was uns gesund macht. Es gibt ja Leute, die meinen, Depression wird durch einen falschen Hirnstoffwechlel ausgelöst und nicht durch schwierige Vergangenheitserfahrungen. Genaugenommen weiß es keiner so genau, es könnte beides sein oder nur eins von beiden oder was ganz anderes...
Das Leben ist wertvoll

ob es nun strahlend ist wie ein diamant

oder dunkel wie kohle

beide sind aus demselben stoff.
Breizh-izel
Beiträge: 127
Registriert: 31. Jul 2013, 22:10

Re: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

Beitrag von Breizh-izel »

Hallo Ihr Zusammen,

es ist eine Reaktion auf Wakora Beitrag.Ich habe immer unter schlechte Erreignisse gelitten,solange ich sie in mir gekämpft habe.Als bald ich die angenommen habe, ist es mir immer gut gegangen.Wenn ich etwas gelebtes nicht akkzeptieren kann, wächst bei mir den Druck und die negative Macht des Erreignises.Ich kreise dann nur um den Erreignis um und um mich auch.Die schlechte Erfahrungen machen mich als Mensch, als Personn. Ich glaube, dass es die Bedeutung "seine Kreuz selber zu tragen" ist.

Viele Grüße

Keryvon
Zarra
Beiträge: 5734
Registriert: 12. Mär 2010, 15:16

Re: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

Beitrag von Zarra »

Liebe j.,

>[wakora:] Eher lauter kleine Ereignisse, die jemand mit besseren Fähigenkeiten der Selbstregulierung vermutlich locker weggesteckt hätte. [...] Leider ist das in den seltendsten Fällen auch schon die Heilung. Aber es kann hilfreich sein, die oder den Auslöse zu kennen. [...] Man muß herausfinden, was uns gesund macht. [...] Genaugenommen weiß es keiner so genau, es könnte beides sein oder nur eins von beiden oder was ganz anderes...
Ich halte es auch eher damit. Wakora hat das gut beschrieben. Und so war es bei mir wohl auch eher.

Ja, ich habe eine Zeitlang "gegraben", in meinen Erinnerungen gesucht (auch "normal": "was war ich für ein Kind?"), versucht, meine Mutter auszufragen (ich wage zu behaupten, daß bei uns die mittelmäßigen Makelpunkte genannt wurden - nicht täglich und nicht ausführlich und natürlich nicht zum Kaffeetisch mit jedermann, aber man wußte sie) - da kam nichts "gesuchtes Gravierendes". ... aber vielleicht können gerade in Kindheit und Jugend auch an sich "kleine" Sachen "traumatisierend" wirken, wenn man sich ihnen hilflos ausgeliefert fühlt und wenn sie nicht relativiert werden? - Als in einer Klinik aufgrund meines Verhaltens nochmals kurz die (echte, "klinische") Traumafrage aufkam, war ich auch nochmals versucht - und ich bin froh, daß die das damals nach der Nachfrage einfach abgehakt haben. Es hätte nicht weitergeführt. - Ich wäre allerdings nicht der Illusion erlegen, daß dann ein "Knall" käme - dann wüßte man höchstens, wo man mit der "Arbeit" ansetzen könnte. -
Und das andere, was ich weiß (daß ich in meinen ersten Lebenswochen ohne Kontakt zu meiner Mutter in der Kinderklinik war, da ich zu früh geboren wurde - das war damals einfach so), führt auch nicht weiter. Denn ich kann mich nicht erinnern. Und ich kann es nicht ändern. Und was ich heute machen kann, damit ... - da hat in dieser Hinsicht auch noch keiner was gesagt.

>Kennt Ihr auch solche Geschichten und habt Ihr auch manchmal das Gefühl, dass, wenn Ihr nur diesen Baustein finden würdet, der Euch fehlt, von Eurer Traurigkeit befreit würdet?
Ich kann die Verführung durch den Gedankengang verstehen ... doch so pauschal glaube ich es auf keinen Fall; in Einzelfällen (!!) kann das ..., aber sicher auch nicht Knall auf Fall, sondern eher dadurch, daß man vielleicht mehr bestimmte Zusammenhänge oder Verhaltensweisen von anderen versteht, besser relativieren kann.

Für mich ist eine wichtige, relativierende Frage auch immer: Wie geht es anderen Menschen, die das gleiche erlebt haben? Klar, ist gleich nicht gleich. Aber so in der Masse betrachtet. Das relativiert eben manche Katastrophe als Ursache.

Und die Frage nach Großvätern ist sicher unterschiedlich zu beantworten, sicher auch je nachdem, was einem das Umfeld als "normal" signalisiert und wie man dazu steht. Auch da ein komplexes Zusammenspiel.

Ich habe in den letzten Monaten aufgrund des Todes meiner Mutter sicher noch mal viel über manches nachgedacht - ihre Kriegserlebnisse ... (sie waren relativ alte Eltern, meine Mutter 1926 und mein Vater 1930 geboren), wie sehr mich doch ihre Erzählungen geprägt haben (sie hat eher zuviel erzählt, war zu wenig in der Gegenwart und zuviel - negativ - in der Vergangenheit) ... auch im Vergleich zu Gleichaltrigen mit jüngeren Eltern - da sieht man deutlich Unterschiede, ... wie "wirklich" nah (!) mir manches ist, obwohl ich es nicht selbst erlebt habe.

Ich habe nur eine meiner Großmütter kennengelernt, die starb, als ich ca. zweieinhalb war. Der Großvater und die andere Großmutter waren vorher verstorben. Von meinem Gefühl her kenne ich sie alle einfach nicht. Nichts zu machen. Lücke. Und der andere Großvater: Es hilft mir, meinen Vater etwas mehr zu "verstehen", wenn ich weiß, daß er als uneheliches Kind auf dem Dorf aufwuchs. Das wußte ich früh. Irgendwann auch, daß sein Vater auch in diesem Dorf ... und irgenwann spät wohl auch den Namen. Ich hätte es als Jugendliche nicht gepackt, diesem "Großvater" gegenüberzutreten, der nie mit meinem Vater Kontakt aufgenommen hatte - vermutlich hätte er mich nur irritiert, wäre es nur ein weiterer Verwandter gewesen, den ich nicht so toll gefunden hätte, ... und der mich womöglich noch abgelehnt hätte (Ablehnung hatte ich auch so genug). Inzwischen ist er lange tot.

Ich werde irgenwann nochmals Verwandte meines Vaters treffen (vor allem eine Cousine von ihm, aber halt um etliche Jahre jünger). Ja, ich will Dinge fragen, wie mein Vater war, wie meine Großmutter war (ich habe beim Haushaltauflösen noch eine alte Brille und ein "Schmuckstück" gefunden, die ihr gehört haben müssen), vielleicht auch nach diesem Großvater (hängt von deren Reaktion dann ab, ich habe auch keine Ahnung, ob die zu diesem Mann überhaupt etwas sagen können, ihn kannten). Aber letztendlich glaube ich nicht, daß dies etwas an meinem Leben ändert. Und es ist auch egal, in welchem Jahr genau dieser Großvater verstorben ist. -- Das ist alles in meinem Fall so. Ich weiß sehr wohl, daß dies jemand anders ganz anders empfinden kann und daß ihm auch diese Familienbande viel wichtiger sind.

LG, Zarra
johanna73
Beiträge: 293
Registriert: 11. Okt 2011, 20:22

Re: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

Beitrag von johanna73 »

Liebe Rifka, liebe wakora, lieber Keryvon, liebe Zarra,

danke für Eure Antworten und Erfahrungen. Ja, sicher waren es viele Dinge, die bei einer Depression zusammenkommen. Ich habe meine Mutter ja auch nie ausgequetscht darüber, wer wir ihr Vater gewesen sein könnte (sie hat es nie erfahren, sie hat verzweifelt versucht, von ihrer Mutter etwas darüber zu erfahren, aber die hat es mit ins Grab genommen). Ich denke eben nur, dass solche Geheimnisse und Tabus doch immer Folgen haben, manchmal sind ja die Phantasien darüber schlimmer als die Realität ...

Dass meine Familie väterlicherseits und mütterlicherseits wohl eher keine Widerstandskämpfer waren, steht fest und ich fände es ehrlich gesagt auch nicht interessant, das Mitläufertum oder die Mittäterschaft meiner Familie im Einzelnen zu kennen. Ich kann gut mit dieser durschnittlichen Schuld, mit der meine Familie wohl belastet ist, leben. Meine Mutter hat darunter sehr gelitten.

Ist halt nur so ein Gedanke, dass, würde man eine Geschichte, über die immer geschwiegen wurde, kennen, manches besser zu verstehen wäre ...

Ansonsten teile ich Eure Einschätzung.

Gute Nacht
j.
Schwert10
Beiträge: 257
Registriert: 9. Mär 2011, 15:50

Re: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

Beitrag von Schwert10 »

Hi dejavue,
Ich glaube auch, daß manches besser zu verstehen ist, wenn man die Vergangenheit kennt. Ich habe beim Nachforschen in meiner eigenen Vergangenheit und meinen Erinnerungen zum Beispiel mitbekommen, daß mein Großvater vermutlich auch depressiv war, ich also durchaus eine genetische Vorbelastung haben könnte.Oder daß ich ein Frühchen war und mehrere Wochen keinen Körperkontakt hatte, weil das im Brutkasten nicht ging(damals).Ich fand Erklärungen für Verhalten meiner Eltern in ihren Lebensgeschichten, die zwar nichts entschuldigen , aber mir klarmachten, daß sie manchmal auch wohl nicht anders konnten.
Ich wurde nicht nur milder in meinem Urteil ihnen gegenüber, sondern auch mir selbst gegenüber. Und das ist gerade bei uns und unseren ziemlich vernichtenden Gedanken in der Depri ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Heilung. Ein Problem verstehen erleichtert durchaus das Finden einer Lösung,Erkenntnis ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung, aber eben nur der erste! Nichtsdestotrotz, wenn du was aus deiner Familiengeschichte erfahren kannst, versuch es. Es müssen ja nicht die großen schwierigen Themen sein, oft sind es kleine Persönliche Dinge, die dir schon viel verraten.
lg wakora
Das Leben ist wertvoll

ob es nun strahlend ist wie ein diamant

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beide sind aus demselben stoff.
Zarra
Beiträge: 5734
Registriert: 12. Mär 2010, 15:16

Re: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten - unbewältigte eigene Vorgeschichten

Beitrag von Zarra »

Liebe j.,

>manchmal sind ja die Phantasien darüber schlimmer als die Realität ...
Ja, ich glaube, das ist es was dann belastet - und zwar eben nicht mal "nachprüfbar" belastet, man kann sich noch nicht einmal richtig damit auseinandersetzen. Doch vielleicht ist man mit depressivem Hintergrund noch mehr versucht, sich Katastrophales oder Schlimmes und Schlimmeres auszumalen - während jemand anders das bis auf den Beweis des Gegenteils (und vielleicht auch dann, weil er es bis dahin ja nicht wußte) "wegwischt", einfach sein Leben lebt oder von normal Positivem, jedenfalls nicht ihn Belastendem, ausgeht.

>Ist halt nur so ein Gedanke, dass, würde man eine Geschichte, über die immer geschwiegen wurde, kennen, manches besser zu verstehen wäre ...
Ja, ich denke, das ist zwar nicht immer, aber meist auch so. Vor allem wenn etwas bewußt verschwiegen wurde!! - ... vielleicht wären manche Geschichten aber auch ganz verstörend und man könnte sie gar nicht einordnen?!?

Ich könnte mir übrigens auch vorstellen, daß Dich das Erleben Deiner Mutter belastet; denn es macht nochmals einen Unterschied, ob ich von meinem Großvater nichts weiß (für Menschen, die lange Zeit mit ihren Großeltern mag das komisch klingen, doch da ich praktisch ohne sie aufgewachsen bin, weil sie vorher verstorben waren, ... das war irgendwie nur bedingt interessant für mich) oder ob ich nicht mal weiß, wer mein Vater war.

LG, Zarra
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