Depressive wahrnehmung ändern?

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Prausi
Beiträge: 19
Registriert: 19. Aug 2023, 11:55

Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von Prausi »

Liebe Forumsteilnehmer!

ich bin neu hier. Habe seit ca. drei Jahren leichte und seit etwa einem Jahr eine schwere Depression und schon vieles versucht. Mir ist aufgefallen, dass man in der Depression eine ganz andere Wahrnehmung der Welt hat als andere Menschen - man sieht alles negativer und problematischer. Sicher kennt ihr das, wenn ihr eure Sicht mit der anderer vergleicht. Nun zu meiner Frage: Diese Wahrnehmung ist ja "erlernt" und kommt nicht von heute auf morgen. Hat jemand Erfahrungen damit, welche Methoden hilfreich sind, um diese Wahrnehmungsmuster wieder zu verändern? Das geht sicher nicht von heute auf morgen, aber vielleicht gibt es da etwas?

Herzliche Grüße und danke schon im Voraus!
Prausi
Senif
Beiträge: 1362
Registriert: 23. Jul 2023, 21:42

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von Senif »

Hallo Prausi,

willkommen im Forum :hello:

Meine Wahrnehmung hat sich schon geändert, und es hat sehr sehr lang gedauert. Ich war dann irgendwann berentet und habe mehr und mehr schöne Sachen gemacht, um mich zu stabilisieren. Problematisches hab ich minimiert. Das hieß bei mir, wenig Nachrichten, Menschen, die mir nicht gut getan haben und mich auch runter gezogen haben (ohne dass es ihre Absicht war), hab ich mich gelöst, nicht mehr alles perfekt machen wollen (auch weil ich immer gedacht habe, da ist ein Mangel und da, und ich werde nur geliebt, wenn ich alles richtig mache usw), Pausen einlegen - am Anfang auch sehr große Pausen .... . Nach und nach kam dann auch die Freude zurück - Hobbys konnte ich wieder etablieren, Schritt für Schritt. Dabei hab ich mich auch daran orientiert, was mir vor der Depression mal Spaß gemacht hat. In dem ich problematisches in meinem Leben etwas außen vor gelassen habe, und mich mit mehr schönen Dingen beschäftigt hatte, konnte ich lernen, dass alles 2 Seiten hat und es Menschen gibt, die das Negative nicht überhand nehmen lassen. Es geht immer irgendwie weiter.
Am Ende bin ich dann auch aus der Opferhaltung rausgekommen und hab mein Leben wieder in die Hand genommen. Dadurch habe ich auch Selbstwirksamkeit erfahren und gemerkt, ich kann in meinem Rahmen Dinge verändern. Das tat sehr gut. Ich war kein Opfer mehr von meinen Erkrankungen. Aber wie gesagt, dass ist dann der letzte Schritt gewesen.

LG Senif
Prausi
Beiträge: 19
Registriert: 19. Aug 2023, 11:55

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von Prausi »

Lieber Senif!

danke für die ausführliche und schnelle Antwort. Da war ja viel Hilfreiches dabei. Im MOment ist es bei mir so, dass ich gar nichts Positives mehr wahrnehmen kann. Selbst meine Katze streicheln fühlt sich nur neutral an. Kennst du das? und wie lange hat es denn ungefähr gedauert, bis du erste Erfolge in der Veränderung deiner Wahrnehmung bemerken konntest?

LG Prausi
MissMikse
Beiträge: 466
Registriert: 14. Mär 2023, 20:07

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von MissMikse »

Hallo Prausi, willkommen im Forum!

Die Wahrnehmung der Menschen ist allgemein sehr verschieden, weil jeder andere Werte hat, andere Erfahrungen, andere Denkmuster usw. und somit durch eine sehr individuelle "Brille" auf die Welt schaut. Depressive haben eben eine sehr "dunkel getönte" Brille, durch die die Welt ihren Glanz verliert, die Farben, das Licht usw.

Ich hatte mal eine Phase, wo ich absolut gar nichts mehr gefühlt hab. Auch nichts mehr wirklich bewusst wahrgenommen. Ich hab wie ein Roboter das nötigste gemacht, sonst nichts. Ich war weder traurig, noch deprimiert, ich hab nicht geweint, ich hab mich nicht gefreut, ich hab nichts mehr gefühlt. Ich bin völlig mechanisch aufgestanden, ins Bad, was zu essen gemacht (keine Ahnung wie), rum gesessen und Löcher in die Luft gestarrt, wieder ins Bett und geschlafen.

Ich hab in der Therapie eine Methode kennengelernt, wo ich selbst auf einem Stuhl sitze und das Problem beschreibe. Meistens stellte sich dann raus, dass mein verletztes "inneres Kind" (ich weiß nicht, ob du das kennst) gerade am Werk ist. Auf dem Stuhl gegenüber sitzt mein Problem "in Person" (z.B. meine Mama). Nachdem ich gesagt habe, wie es mir geht (dem Kind), wechsle ich den Stuhl und versetze mich in mein Gegenüber (z.B. meine Mama) und versuche, deren Sicht der Dinge zu schildern. Danach wechsle ich noch auf einen 3. Stuhl und beurteile die Situation als neutraler Beobachter und versuche, einen Rat zu geben, wie man das Problem lösen kann. So lernt man auch, die Dinge mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Ansonsten hilft es auch immer mal, sich zu fragen, ob es Menschen gibt, denen es aktuell schlechter geht als dir selbst. Ich weiß nicht, ob ich es hier gelesen hab, aber der Spruch trifft es ganz gut:
Wenn du traurig bist, weil du keine Schuhe hast und dann einen Mann triffst, der keine Beine mehr hat, dann bist du nicht mehr traurig. (Oder so ähnlich.)
Versuch dich jeden Tag zu fragen, ob es etwas Gutes gab an dem Tag, auch wenn du es nicht wirklich fühlen konntest. Aber wenn du neutral von aussen drauf schauen würdest: was könnte gut gewesen sein? Schreib das auf! Manchmal übersieht man die vielen guten Kleinigkeiten.

Es gibt hier den Thread "3 gute Dinge des Tages", wo du mitschreiben kannst oder Inspiration findest und den Thread "Werkzeugkasten" mit Tipps und Anregungen, wie man aus dem Loch wieder raus kommt, wie man auch Dinge verändern kann usw. Stöber doch einfach mal durch.

Liebe Grüße
anna_lyle
Beiträge: 359
Registriert: 31. Dez 2016, 08:31

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von anna_lyle »

Hej Prausi,
willkommen hier!
Danke für deine Beschreibung und die Frage. Ja, mein Denken ist auch stark negativ, wenn ich depressiv bin. Es ist eine selektive Wahrnehmung und zusätzlich oft eine sehr negative Interpretation der wahrgenommen Dinge.

Ich habe einen Freund, mit dem ich sehr offen sprechen kann. Dem erzähle ich manchmal, was ich gerade denke und bitte ihn um Feedback. Gerade wenn ich sehr dunkle Gedanken habe. Sein Feedback gibt mir zumindest eine Idee davon, wie stark negativ eingetrübt mein Denken gerade ist.

In dem Buch "Die Mauer überwinden" habe ich konkrete Anleitung gefunden, wie ich meine negativen Interpretationen in hilfreichere Gedanken umformulieren kann.

Und das Buch "Lieblosigkeit macht krank" hat mir geholfen, meinen Fokus auf das zu lenken, was mir gut tut. Wie ich aktiv werden kann um liebevoller mit mir selbst umzugehen.

Vielleicht resoniert was bei dir :-)

Liebe Grüße und schönen Tag!
niri76
Beiträge: 86
Registriert: 26. Aug 2022, 10:06

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von niri76 »

Hallo Prausi!

Du hast recht, dass ist wirklich ein Prozess den man da durchlaufen muss. Aber es lohnt sich.
Mir hilft z. B. den Wahrheitsgehalt dieser negativen Gedanken zu prüfen. Meistens sind die Szenarien, die mach sich ausmalt stark übertrieben und treten in der Regel nur sehr selten ein.

Gedanken machen Gefühle. Und nicht jeder Gedanke ist wahr. Das hat mir auch geholfen und die Tatsache, dass durchschnittlich sein völlig reicht. Keiner ist perfekt und das Streben danach ist eine vergebene Mühe.

Auch das im Hier und Jetzt sein hilft mir. Es fällt mir oft zwar noch schwer, aber es wird. Das erreiche ich indem ich jede Tätigkeit die ich mache ganz aufmerksam und langsam mache. Hat aber wirklich lange gedauert, bis ich es umsetzten konnte.

Grüße
niri
Prausi
Beiträge: 19
Registriert: 19. Aug 2023, 11:55

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von Prausi »

Liebe MissMikse, lieber Niri, liebe anna-lyle,

vielen Dank für eure Antworten und Tipps :) Das Buch "Die Mauer überwinden" habe ich mir bestellt. Mein Therapeut meint, man muss die ganzen schlimmen Gefühle aushalten, durchleben, immer wieder beweinen, weil sie aus der Kindheit kommen und nicht verarbeitet wurden, nun getriggert wurden und deshalb wieder ausbrechen. Oh man, kennt ihr das?
Und noch eine Frage an euch: wie lange hat es denn in etwa bei euch gedauert, bis durch die Übung an der Wahrnehmungsverzerrung erste positive Veränderungen spürbar waren? Tage? Wochen? Monate?
Ich dank euch schonmal im Voraus für eure Antworten.

Liebste Grüße
Prausi
MissMikse
Beiträge: 466
Registriert: 14. Mär 2023, 20:07

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von MissMikse »

Hallo Prausi,

naja, grundsätzlich muss man die noch nicht verarbeiteten Gefühle aus der Kindheit mal zulassen, beweinen usw. Aber dann muss man anfangen, das zu verarbeiten und hinter sich zu lassen. Du kannst nicht dein Leben lang deiner Kindheit hinterher weinen. Sonst kommst du nie raus aus den Depris.

Einen konkreten Zeitraum zu nennen ist schwierig. Ich hatte sehr, sehr viele Baustellen in meinem Leben, auch aus sehr unterschiedlichen Bereichen. Und das aufräumen der Baustellen ging parallel zur Wahrnehmungs-Veränderung.
Ich glaube auch nicht, dass man sich vornehmen kann: "So, ich lerne jetzt, meine Wahrnehmung zu verändern. Bin voraussichtlich in x Tagen/Wochen/Monaten fertig damit." Das kommt nach und nach, Schritt für Schritt. Und selbst jetzt kommen manchmal noch kleinere Baustellen auf und ich muss meine Wahrnehmung korrigieren bei Dingen, die vorher nicht aufgefallen sind, weil andere, größere Themen im Vordergrund standen.

Schlussendlich muss man wohl ein ganzes Leben lang daran arbeiten und kontrollieren, ob die eigene Wahrnehmung noch stimmt oder nicht und bei Bedarf wieder korrigieren.
anna_lyle
Beiträge: 359
Registriert: 31. Dez 2016, 08:31

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von anna_lyle »

Hi Prausi,

irgendwann hab ich gelernt, auf einer Meta-Ebene wahrzunehmen, WAS mich da gerade triggert. Dann bin ich nur noch 10-30% wütend oder traurig und kann mein Hirn einschalten und prüfen, was für Gedanken da gerade auftauchen. Und ob diese Gedanken mir gut tun. Dann habe ich die Wahl, mich weiter zu quälen oder was liebevolles zu denken. Ich prüfe, ob meine Gedanken gerade was mit der aktuellen Situation zu tun haben, oder automatisch abspulen (z.B. ganz alte Glaubenssätze, wie: "Keiner interessiert sich für mich.")
Die Aufmerksamkeit auf das JETZT richten. Was passiert da gerade?
Ich fände es sehr schlimm, andauernd meine Kindheit betrauern zu müssen...
Wichtig ist, aus der depressiven Starre rauszukommen und Selbstwirksamkeit zu erleben :-)
Bei meinem letzten depressiven Schub hat das etwa 4 Wochen gedauert, dann ging es aufwärts. Das ist aber sehr individuell.
Lg anna_lyle
rst65
Beiträge: 23
Registriert: 10. Nov 2003, 16:44

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von rst65 »

Hallo Prausi.. das ist wirklich schwer zu sagen. Aber ich habe das auch schon in zwei Wochen geschafft. Leider nur für 6 Wochen, dann wieder in ein Loch gefallen. Das gute, es ist dann meistens nicht so heftig und hoffentlich nicht so lange, aber das kann ich noch nicht sagen, bin gerade bei 7 Tagen. Geht aber schon besser.. Dir alles gute
Luna1959
Beiträge: 679
Registriert: 20. Mai 2015, 17:35

Re: Depressive wahrnehmung ändern?

Beitrag von Luna1959 »

Hallo Prausi, willkommen im Forum

Meine Wahrnehmung ist auch durch mein negatives Denken über mich ziemlich verzehrt. Die mir in der Kindheit eingetrichterten Glaubenssätze und Erfahrungen "kleben" in mir.
Z.B. Vor einigen Tagen hatte ich Geburtstag und erlebte mit einem Teil der Familie einen wunderschönen Nachmittag am See. Dabei kam es zu einem kurzen Konflikt mit meinem 6jährigen Großneffen, wo ich etwas ungeschickt reagierte. Er ist ein lieber Junge, dem aber wenig Grenzen gesetzt werden, wenn er was will.
(Meine Therapeutin meinte heute, sie fände meine Reaktion durchaus angemessen.)
Jedenfalls war's dann so, dass meine Gedanken danach nur über mein vermeintliches "Fehlverhalten" kreiste, und das Schöne des Zusammenseins keine Chance mehr hatte. Und genau das kenne ich so gut. Aber plötzlich kam mir die Frage, wie war die Realität des gesamten Tages. Die Realität war, dass er halt kurz getobt und geschmollt hat und dann war's auch schon wieder erledigt.
Ich bemühe mich momentan sehr, bei auftauchenden negativen Gedanken über mich, bewusst auf die Realität zu schauen. Also ein wenig, wie MissMikse das mit dem 3. Stuhl beschreibt. Noch ist das sehr anstrengend, aber ich hoffe, damit so manche falsche Wahrnehmung über mich, die mir die Freude vermiest, zu ändern.
Noch etwas fiel mir in den vergangenen Tagen auf: Diese derzeitige extreme Hitze setzt mir sehr zu und zwar schon gleich beim Aufstehen. Dann machte ich mir aber bewusst, dass es ja noch kühl in der Wohnung und auch bei der morgendlichen Hunderunde durchaus noch angenehm ist. Das hat auch was damit zu tun: die Realität zu sehen und die ist am Morgen schön und angenehm.

Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe.

Schönen Tag noch
Die Vernunft empfiehlt immer das, was andere gerne möchten.
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