Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

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Faustus
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Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von Faustus »

Hallo - ist das normal ?

Ich habe es schon oft in meinem Leben gehabt, dass ich in ploetzlichen Situatioen voellig falsch reagiert habe. Gestern hat mir diese Falschreaktion 250 Euro gekostet.

Ich war auf einem Bahnhof in Sueddeutschland. Als ich durch die Unterfuehrung zum Zug ging, stolperte ich ueber ein kleines schwarzes Behaeltnis und ich war ueberzeugt davon, dass es sich um Muell handelte. Als ich weiterging, rief von hinten jemand "hallo" und hielt das Teil in der Hand. Ich zuckte mit den Schultern und verschwand schnell, da ich Angst bekam, als "Muellwerfer" angemacht zu werden.

Spaeter im Zug entdeckte ich, dass irgendein Hirni meinen Rucksack geoeffnet hatte (wohl in krimineller Absicht) und ein optisches Geraet hinausgefallen war. Jetzt wusste ich auch, was der "Muell" war ! Ein 250 Euro teures Okular ...

Mehr noch als der Verlust des Okulars nervt mich, dass ich doch nur 10 Schritte zurueckgehen musste um die Situation zu klaeren - um festzustellen, dass der Typ mich nicht anschwaerzen, sondern mir helfen wollte ! Aber schon immer entwickle ich Phobien, wenn mir Leute etwas hinterherrufen und ich ignoriere sie. Weil ich zu lange Aussenseiter war/bin und sehr oft Angst bekomme. Auch kam mir garnicht in den Sinn, dass ich etwas verloren haben koennte. Es war alles so hirnlos, und nun stehe ich mit meinem Schaden dar. Wieder einmal falsch reagiert.

Gibt es fuer solche Verhaltensstoerungen einen Ueberbegriff ? Ist es schon Derealisierung, dass ich gar nicht SEHE dass jemand mir helfen will anstatt mich zu hassen ?

Jetzt bin ich wieder unten, und den ganzen gestrigen Tag dachte ich an das S-Thema. Nicht wegen der 250 Euro (die killen mich nicht), sondern weil ich wieder einmal so enttaeuscht von meiner Zerstreutheit war.



Alles Gute,



Faustus
albert
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Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von albert »

Hallo Faustus,
mir sind solche Erlebnisse gut bekannt aus meiner eigenen Jugend. Man könnte sagen, dass in solch einem Fall eine Verhaltenstherapie etwas bewirken kann. Natürlich macht ein fehlender Selbstwert viel aus. Aber ich denke, das ist nicht alles. Dieses Benehmen mit zwei "linken" Händen hörte erst auf, nachdem meine Schäden aus der Kindheit bearbeitet worden waren. Auch hatte ich Gelegenheit, soziale Kommunikation einzuüben in der Zeit zwischen den depressiven Schüben. Heute bin ich ein anderer Mensch, sozusagen runderneuert, wirke auch völlig anders als vor zwanzig Jahren. Es brauchte seine Zeit, diese Verstellungen im Leben aufzubrechen und Verbesserungen zu erreichen; aber es hat sich gelohnt.
Herzliche Grüße
Albert
Faustus
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Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von Faustus »

Hallo Albert !


Danke fuer Deine Antwort ! Ganz so jung bin ich nicht mehr ... und auch bin ich eigentlich relativ sozialkompetent. Habe kein Problem, zu telefonieren oder Vortraege vor -zig Leuten zu halten. Nur sind es eben diese schnellen Aenderungen, in denen ich falsch reagiere, weil ich durch mein truebes Sinnen viel zu langsam bin. Vielleicht ist auch Derealisierung darin enthalten, ich sehe mich jedenfalls oft nicht als Mensch sondern eher wie irgendeine Maschine. Klingt beknackt (ist es auch), aber es ist ein Fluchtraum von mir. Ich hasse mich dafuer. Aber das hilft hier nicht weiter. In keiner Therapie konnte mir je weitergeholfen werden, und derzeit sitze ich auch wieder voellig auf dem Trockenen. Mal warten, was die Psychiatrie hier bringt - vielleicht ist die tiefenpsychologische Analyse ja in England besser als die, die ich vor 10 Jahren in Deutschland machte (war in meinen Augen eher eine Verhaltenstherapie).

Naja, der Frust und die Enttaeuschung ueber meine Dysfunktionalitaet werden gerade wieder einmal in Selbsthass kanalisiert. Manchmal moechte ich mir selbst Gewalt antun, aber wozu - was bezwecke ich damit ? Diese Gedankenspirale ist so verwirrend, dass ich manchmal am liebsten weg sein moechte.

Weiss auch nicht warum ich nicht funktioniere.


Sorry, ich rede wieder mal Stuss - aber ich weiss momentan nicht wie ich mich ausdruecken soll.

Alles Gute,


Faustus
Captain Kirk
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Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von Captain Kirk »

Hi Faustus, ich finde es nicht merkwürdig, dass Du Vorträge ohne Probleme halten kannst. Da "spielst" Du ja auch auch die Rolle des Fachmanns, hast alles unter Kontrolle und weißt Bescheid.

Aber als Privatperson .. das ist ne andere Sache. Da stehst Du den Situationen nackt, nicht wie Gott Dich schuf sondern so wie Du Dich siehst, gegenüber. Ein schwaches Selbstwertgefühl, Gefühle von Minderwertigkeit, Schuld usw. rufen dann automatisch die dementspreche Situationsanalyse mit entsprechendem Verhalten auf den Plan.


Gruß
c.
MissMarple

Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von MissMarple »

Hallo Faustus,

mal etwas ganz anderes, mehr so von der "praktischen Seite", hast Du versucht, Dich mit dem Fundbüro des Bahnhofs in Verbindung zu setzen ?

Vielleicht hat Dir ja ein ehrlicher Mensch hinterher gerufen, Dein optisches Gerät im Fundbüro abgegeben und es "wartet" auf Dich.

Grüße nach London

Birgit
albert
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Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von albert »

Hallo Faustus,
deine Antwort klingt in manchen Teilen wie erschöpft.
Ich möchte einiges aus meiner Biografie erwähnen. Bin Jahrgang 48, hatte schon als Kind Probleme, habe es aber nicht artikulieren können. Die zwei Psychiater, zu denen ich in den sechziger Jahren auf Krankenschein ging, entpuppten sich als Enttäuschungen. Damals bezahlten die Krankenkassen keine Therapiekosten, aber die Ärzte nahmen gerne die Überweisung vom Hausarzt. Entsprechend lange habe ich die Psychiater gemieden, zwanzig Jahre lang. Erst nach meinem Zusammenbruch 1988 bin ich wieder in die Praxis eines Psychiaters gegangen. Dieser hat mir tatsächlich helfen können, einfach indem er mir die richtigen Fragen stellte. Danach war ich in Kontakt mit verschiedenen Menschen, von denen ein Teil eine therapeutische Wirkung auf mich hatte. Ich habe diese nicht gesucht, ich bin ihnen begegnet.
Hans-Walter, mit dem ich Anfang der Neunziger viel gesprochen habe, sagte mir auf den Kopf zu, dass ich gehemmte Agressionen habe. Bei einer Gelegenheit wies er mal auf einen Mann in einigen Meter Entfernung und erklärte ihn für hoch agressiv. Eines Tages werde er seine Agressionen gegen sich selbst richten und die Prognose laute Selbstmord. Ich habe nichts dazu gesagt, aber sofort gewusst, dass er mich damit gemeint hatte. Es hat danach noch einige Jahre gedauert, bis sich mein Zustand wesentlich gebessert hat. Eine Voraussetzung dafür war, dass ich lernte, meine seelischen Verletzungen in der Traumreise zu behandeln. Ich bin Naturwissenschaftler aus Leidenschaft und ich glaubte nicht an Übersinnliches, das war so etwas Verschrobenes, aber danach habe ich akzeptiert, dass es Phänomene gibt, die ich nicht erklären kann. Also habe ich damit angefangen, damit zu arbeiten. Heute sind die Traumreisen meine wichtigste Stütze im Leben. Ich habe eine Stinkwut im Bauch wegen meiner Situation, aber ich habe mich unter Kontrolle trotz aller Demütigungen und Benachteiligungen; z. Z. arbeite ich für ein Technikergehalt als Laborassistent, besuche mit anderen Laboranten einen Kurs über Strahlenschutz und werde vom Lehrpersonal auf meine Situation angesprochen. Ich unterhalte mich dann lächelnd mit ihnen und erkläre, dass es mir auch schon schlechter ergangen war. Heute kann ich konstruktiv an der Verbesserung meiner Situation arbeiten; ich weiß, was ich zu tun habe und ich weiß, dass ich es erreichen kann.
Meine Kräfte kann ich einteilen. Es gibt Zeiten, in denen ich meinen Motor drossele, sonst würde ich zusammenbrechen. Das sind diese Zeiten, in denen das Gespenst der Depression latent im Untergrund lauert und auf die Auslöser wartet. So wie dieses Jahr und es heißt, kleinere Brötchen backen, nicht zu viel leisten wollen. Beim kleinsten Zeichen einer beginnenden Depression wird sofort das Haus repariert, das ist eine mehr als sinnbildliche Verhaltenstherapie in der Traumreise. Nächstes Jahr wird es mir wieder anders gehen, dann habe ich wieder ein erhöhtes Leistungspotential. So ist mein Zyklus.
Im Verlauf von mehr als 15 Jahren habe ich sehr verschiedenartige Therapien durchgemacht und jede hat mir etwas gebracht.
Auch den Unterschied zwischen Fachmann und Privatmann kenn ich gut. Wobei ich Lehrer erlebt habe, die keine gute Meinung von mir hatten. Das ist die Schwierigkeit des depressiv veranlagten Menschen, der sich zurückhält in einer vermeintlichen Bescheidenheit und doch nur auf die Gelegenheit wartet, sich der Öffentlichkeit zu stellen und es ist die Schwierigkeit in dieser deutschen Gesellschaft, dass sie solch eine Charaktereigenschaft nicht wahrnehmen will.
Im persönlichen Gespräch nuschele ich öfter und spreche nicht verständlich, das war z. B. ein Vorwand, mich von Lehrtätigkeiten fernzuhalten. Dennoch habe ich später erfolgreich Kurse im Rahmen der Lehrgänge für die Sportfischerprüfung gehalten.
Ich wünsche dir weiterhin alles Gute und Besserung.
Herzliche Grüße
Albert
wuschel
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Registriert: 9. Mai 2003, 10:56

Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von wuschel »

Faustus
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Registriert: 13. Feb 2003, 09:52

Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von Faustus »

Hallo allerseits,


und danke fuer Euer Feedback ! Ich habe jetzt wieder mehr Kraft, darauf einzugehen ...

@Birgit: Ich stehe mit der Bahn in Kontakt, aber die Leute die mir nachriefen haben das Teil nicht am Servicepoint abgegeben. Entweder liessen sie es liegen oder sie steckten es ein. Auf jeden Fall isses wech ...

@Albert: "Erschoepft" ist genau der richtige Ausdruck ! Und verwirrt zugleich. Alles zerfaellt momentan in seine Einzelteile, ich muss mein Leben unbedingt wieder neu ordnen. Aber wo anfangen ?

Danke auch fuer Deine Kurzbiographie, ich kann Parallelen erkennen. Wobei ich inzwischen beruflich ganz gut reden kann, und bei Vorlesungen, Vortraegen etc auch Enthusiasmus zeige. Dennoch, manchmal moechte ich nur allein sein. Schwer zu beschreiben. Bereits im Studium kannte ich das. Wenn in kleinen Gruppen diskutiert wurde, beteiligte ich mich nicht daran weil ich immer zu langsam reagierte. Nicht im Kopf, nur im Interface nach aussen.

@Captain: Danke auch fuer Deinen Beitrag. Ja, es gibt da eine Bifurkation zwischen dem Fachmann und dem "Menschen". Und als "Mensch" sehe ich mich ungern, eher als Maschine. Denn sobald ich mich als Mensch sehe, verabscheue ich mich. Ich war mal auf einem Psychoseminar, "Aussoehnung mit dem Inneren Kind", wo es mir zeitweise gelang mich als Menschen mit Fehlern zu akzeptieren. Aber inzwischen hat mich meine Traumwelt wieder.

@Wuschel: Vielleicht waere die Flucht nach vorn ja richtig - aber ich habe Angst, dann noch chaotischer zu werden als ich es heute schon bin ... zerstreut war ich schon oefters im Leben, auch schon als Kind. In meinen Gedanken gefangen. Ob ich ein Gelaender anfasste, obwohl ich doch gerade gesehen hatte wie es frisch gestrichen wurde. Oder die Sache mit der angelassenen Hose auf der Toilette .... tja, man lacht darueber aber es kann unheimlich verletzen.


Alles Gute wuenscht


Faustus
albert
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Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von albert »

Hallo Faustus,
erschöpft und verwirrt zugleich, diesen Zustand kenne ich selbst aus früheren Zeiten.
In einem dieser Schübe hatte ich sogar meine schriftliche Ausdrucksfähigkeit verloren. Ich habe mir das in mühsamer Kleinarbeit wieder aneignen müssen. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätten die therapeutischen Wirkungen in einer sinnvollen Reihenfolge stattgefunden. Nichts in dieser Reihenfolge war geplant, es ist so gekommen. Als erstes die Verhaltenstherapie und als vorläufig letztes die Familientherapie, um die Beziehungsprobleme aufzuarbeiten. Mehr als einmal hatte ich gehofft, dass endlich Schluss wäre mit der Hängepartie, aber war nicht, dann kam noch etwas. Erst Anfang Dezember, also vor anderthalb Monaten wurde mir bei einem Wochenendseminar offenbar, dass noch etwas zu klären sei mit einem Dreijährigen. Ich lasse jetzt mal offen, ob das nur ein Nachklang zu den Beziehungsproblemen ist oder ob noch etwas Größeres daraus wird.
Es gab viel, das ich hinter mir gelassen habe; ich habe viel verloren, womöglich werde ich noch einmal einen großen Verlust erleiden. Aber auf der anderen Seite habe ich wieder viel gewonnen: den inneren Frieden und ein Lebensziel. Das sind Dinge, die ich mir nicht mehr nehmen lasse. Ich habe viele Jahre dafür hart gearbeitet. Heute macht es mir nichts mehr aus, dass ich oft etwas langsamer denke und schalte als der Sitznachbar. Das ist ein Teil meines Wesens.
Eines ist sicher: jeder Mensch muss seinen eigenen Weg finden.
Ich wünsche dir weiterhin alles Gute auf deinem Weg.
Herzliche Grüße
Albert
Faustus
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Re: Nichtreaktion auf schnelle Situationsaenderungen

Beitrag von Faustus »

Lieber Albert !



Hab Dank fuer Deine Worte ! Ich wuensche Dir, dass der Spuk bald wirklich ein Ende hat und Du Dich wieder den angenehmeren Dingen des Lebens widmen kannst.


Alles Gute,


Faustus
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