Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

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ursus
Beiträge: 159
Registriert: 22. Apr 2004, 12:52

Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

Beitrag von ursus »

Hallo zusammen,

in einem älteren Thread (http://www.kompetenznetz-depression.de/ ... 1156599609) hatte ich mein Ordnungsproblem schon einmal beschrieben. Zwischenzeitlich sind mir beim Aufräumen meiner Wohnung ein paar Fortschritte gelungen. Perfekt ist es noch lange nicht, aber besser als früher.

Nur stelle ich fest, dass ich wieder alten Gewohnheiten verfalle und das frühere Chaos zurückzukehren droht. Mein Grundproblem: Ich will ALLES lesen, ALLES. Das ist absolut zwanghaft. Es gelingt mir nicht, mich von diesem Anspruch zu lösen, und deswegen stapeln sich wieder ungelesene Zeitungen. Beim Erlernen von Schnelllesetechniken im Selbststudium habe ich bisher versagt (zu allem Überfluss machen die Augen neuerdings Schwierigkeiten). Und das niederschmetternde Ergebnis der Bemühungen ist eine einzige Schlamperei. Ich bin nämlich nicht informierter als andere, sondern weniger informiert. Als kommunalpolitisch aktiver Mensch in einer Großstadt bringe ich es nicht fertig, eine Regionalzeitung zu lesen, weil ich mit der Süddeutschen genug zu tun habe - eine Ausgabe der Süddeutschen hat den Umfang eines mittleren Suhrkamp-Bändchens. Und wenn es darauf ankommt, muss ich mein Informations-Defizit gegenüber Parteifreunden und anderen mit betretenem Schweigen oder Ausreden bemänteln, was einfach nur peinlich wirkt. Und während die Regale platzen, kaufe ich die Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, obwohl ich kaum noch Zeit finde, ein Buch zu lesen.

Geht es euch ähnlich - dass ihr permanent an euren Ansprüchen scheitert? Dass euer Perfektionismus Schlamperei zur Folge hat? Und was tut ihr dagegen?

Liebe Grüße
ursus
ben1
Beiträge: 1379
Registriert: 13. Feb 2003, 09:52

Re: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

Beitrag von ben1 »

Hallo Ursus

kann ich soweit ganz gut verstehen, das Problem und find ich auch nachvollziehbar. Geholfen hat mir (und jetzt wirds bitter, also bitte nicht weiterlesen), mich von einem Ideal zu verabschieden, das ich nie war und nie sein werde, von einem ständig informierten Ben, der keine Angst davor haben muß, irgendwas nicht zu wissen oder nicht zu können, sondern mich als ganz normalen Menschen zu sehen und zu akzeptieren. Klingt einfach, isses aber nicht.

Wir bauen uns (mit Hilfe unserer Erziehung und Vorerfahrungen, mit vielen "tus" und "lasses") ein Menschlein auf, mit dem wir in der Gesellschaft bestehen können (so glauben wir zumindest). Diese Fassade ist sehr nützlich und es ist erst mal gar nix schlimmes bei - verzwickt wird die Lage dann, wenn wir uns so mit unserem Menschlein identifizieren, dessen Ängste und Werte so übernehmen, das von uns nix mehr übrig bleibt, als diese Spielfigur, die wir uns selbst geschaffen haben. Da gibts aber noch jede Menge Ursus "hinter den Kullissen" und da sollte man mal nachsehen! Wenn Du diesen Gedanken für bedenkenswert hältst, fang doch mal bei den anderen an (das is immer leichter) und schau Dir die Spielfiguren mal an - woran sie hängen, was sie fürchten, was sie antreibt. Das kann manchmal ganz schön komisch sein - ist aber meistens für die jeweiligen Spieler eher tragisch (und immer dran denken, "wir alle spielen Theater" - ein begnadeter Titel eines ebenso guten Buches von Goffman - nicht kaufen, nicht lesen )

Also Ursus, auch Du bist "nur" ein Mensch, also trau Dich auch, einer zu sein! Alle, die das nicht schaffen, landen entweder in der Klapse, kriegen nen Herzinfarkt oder werden Präsident der USA - alles keine wirklich attraktiven Alternativen zu einem ganz normalen Leben mit den Hochs und Tiefs, den Erfolgen und Misserfolgen, die halt Dein Leben so einzigartig und lebenswert machen.

Oder?

Ben
gfb
Beiträge: 1864
Registriert: 20. Feb 2005, 21:30

Re: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

Beitrag von gfb »

Hi Ursus,


> Mein Grundproblem: Ich will ALLES lesen, ALLES. Das ist absolut zwanghaft. Es gelingt mir nicht, mich von diesem Anspruch zu lösen

Welcome to the club!

Ende der 70er wohnte ich in Freiburg im Breisgau in einem 10 qm- Zimmer in der Altstadt, schräge Wände, auch sonst sehr beengt – und hatte den Anspruch, die ZEIT sowie den SPIEGEL zu horten; am Ende des zweiten Jahrgangs zog ich die Reissleine (schweren Herzens) und warf den ganzen Kran in die Altpapiertonne, obwohl es damals weder PCs noch DVDs gab…

Und heute?

Ich lebe in einer 52 qm- Wohnung, umgeben von ca. 80 Regalmetern bedruckten Papiers (jedes Jahr kommen an die zwei Meter dazu), auf den div. Festplatten finden sich an die 100 CDs der „Digitalen Bibliothek“ (ca. 3,5 Mio. Bedruckte Seiten), ich kann (vorausgesetzt, ich habe grad den einen oder anderen Euroschein der Hosentasche) an keinem Buchladen vorbei gehen…

Jedes Buch, das mir in die Hände fällt, eröffnet Aussichten auf Bücher, die ich noch nicht kenne, die zu kennen aber nicht eben unnütz wäre…

Es ist, als ginge man in einem verlassenen Haus durch die Zimmer und Säle: jede geöffnete Tür verweist auf neue Räume mit Türen und Möglichkeiten, die wiederum... undsoweiterundsofort…

Aber wenns dich trösten sollte:

Man muss nicht alles wissen, man muss "nur" wissen, wo man das findet, was man nicht weiss! oder so...

Und ab und an denk ich über die Begriffe „Bibliophilie“ vs. „Bibliomanie“ nach…

http://de.wikipedia.org/wiki/Bibliophilie

http://de.wikipedia.org/wiki/Bibliomanie


>Und während die Regale platzen, kaufe ich die Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, obwohl ich kaum noch Zeit finde, ein Buch zu lesen.

Das ist (mir) bekannt.

Leider!

Nur: ist das was Schlimmes?

Diese Erkenntnis, dass der Mensch zwar „dumm“ geboren wurde, aber deswegen noch lange nicht „dumm“ sterben muss?

> Geht es euch ähnlich - dass ihr permanent an euren Ansprüchen scheitert? Dass euer Perfektionismus Schlamperei zur Folge hat? Und was tut ihr dagegen?


Man lernt (bzw. versucht) damit zu leben.

Na ja...


Gruß von Friedrich
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"Warum sind wir so kalt?

Warum? Das tut doch weh!"



Erika Mann, "Die Pfeffermühle"
DorleB
Beiträge: 32
Registriert: 12. Jan 2007, 23:05

Re: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

Beitrag von DorleB »

Hi Ursus,

geht es Dir in erster Linie um die Informationen oder auch um den Besitz der Bücher?

Als "Buchstabensüchtige" konnte ich mir schon früh all die Bücher, die ich gelesen habe, nicht mehr leisten; daher habe ich schnell die Bücherei als endlosen Fundus für mich entdeckt. Jedes Buch, das ich bisher haben wollte, konnte ich dort auch bekommen, und der große Vorteil ist, man ist die Bücher nach 4 Wochen auch wieder los. Soweit ich weiß, gibt es dort auch Zeitschriften zu leihen.

Wäre das vielleicht eine Alternative zum Neukauf für Dich?

Liebe Grüße und alles Gute
wünscht Dorle




Wir alle suchen nach Etwas, das uns schon längst gefunden hat
Liber
Beiträge: 1491
Registriert: 4. Jun 2006, 18:09

Re: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

Beitrag von Liber »

Hallo Friedrich, hallo Ursus,

ich gehöre auch zu diesem Club

Ich liebe Bücher - zähle aber nach Lesen der beiden Wikipedia-Definitionen weder so ganz zu den Bibliophilen noch zu den Bibliomanen. Vielleicht bin ich irgendwo in der Mitte angesiedelt.

Jedenfalls bin ich leidenschaftlich gern in Buchhandlungen und stöbere und schmökere und kann sie selten verlassen, ohne wenigstens ein Exemplar zu kaufen. Und in den Regalen stehen die Bücher bei mir schon doppelreihig und die Stapel werden immer höher

Und ich schaffe es auch nicht, alle zu lesen. So gern ich es täte.

Eine Lösung weiß ich auch nicht. Es gibt schlimmere Süchte, denke ich mal. Und es ist ja nicht nur "Sucht", sondern das Lesen und die Bücherliebe bereichern ja auch sehr. Das Beschäftigen mit den Büchern hat für mich auch etwas Entspannendes, ist etwas, worin ich mich "zu Hause" fühle.



Ist es für Euch "nur" Stress?


Liebe Grüße

Brittka
gfb
Beiträge: 1864
Registriert: 20. Feb 2005, 21:30

Re: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

Beitrag von gfb »

Hi Brittka,

(Wikipedia-Definitionen)

In der Mitte angesiedelt… da würd ich mich auch verorten.

Was unsereins so betreibt, geht jedenfalls über den „normalen“ Konsum der „normalen“ Leute mit bedrucktem Papier hinaus, …

(Es gibt schlimmere Süchte)

Zweifellos, zumal unsere „Sucht“ ja gesellschaftlich halbwegs akzeptiert ist.

(das Lesen und die Bücherliebe bereichern ja auch sehr)

Durchaus. Und sie bereichern nicht nur, sie eröffnen „Möglichkeitsräume“ (so nenn’ ich das jetzt einfach mal), sie führen zur Frage „was wäre wenn…“; was wäre, wenn ich nicht DIESE Eltern, sondern GANZ ANDERE gehabt hätte, sie führen zur Konfrontation mit den Fakten (neinneinnein: NICHT im „Focus“-Sinn!) der eigenen Geschichte – und sind insofern rein psychoanalytisch sehr sehr interessant!

DIESER Lektüreeffekt ist nicht nur positiv!

Ganz im Gegenteil!


>Ist es für Euch "nur" Stress?

Nö, natürlich nicht.

Ich liege derzeit drei Mal pro Woche auf der einen Couch umanand, komm nach Hause und leg mich auf die andere Couch: da gibts in Reichweite div. Regale, auf denen sich die Neuerwerbungen türmen, div. Kissen nebst Decken, dazu eine Leselampe…

DAS sind Genüsse!

Was will der Mensch mehr?

Und „Stress“: der Stress entsteht dadurch, dass ein jedes Buch auf –zig andere verweist (die man eigentlich auch noch lesen müsste) - und aus dem Bewusstsein, dass das Leben endlich ist.

Grmmmpfff!

Grad kommt mir eine Assoziation, dass ich in meinem Testament aufnehmen sollte, dass meine gesammelten Schätze mit mir zusammen verbrannt werden sollen!

(Der Nachwuchs (wird nächste Woche 13) hats „nicht soooo“ mit Büchern – und mit der Kindesmutter gabs div. Auseinandersetzungen, ob meine Schullesebücher in der gemeinsam genutzten Bücherwand im Wohnzimmer auch noch ein Plätzchen fänden… .

DIESES Problem hat sich gottlob erledigt, in MEINER Wohnung redet mir NIEMAND rein, was in MEINEN Regalen untergebracht wird - und was nicht.)


Grüsse aus B nach N von

Friedrich (der heute mittag beim Warten auf den Couchtermin mal wieder nicht an der „Wohltatschen Buchhandlung“ in Berlin-Charlottenburg vorbei kam, ohne Geld auszugeben: Hans Falladas Drogenkarriere, Viktor Klemperers Biografie, einen Biografie von Carl von Ossietzky und eine recht flott geschrieben Einführung in das Werk von Franz Kafka, allet zusamm für jrad mal 12 €…)
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Erika Mann, "Die Pfeffermühle"
Dendrit
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Re: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

Beitrag von Dendrit »

Hallo Ursus,

nach der Wikipedia-Definition gehöre zwar zu keinem, trotzdem kann ich "irgendwie" den - hmm, Zwang? - nach Info verstehen. Bei mir ist es ein bestimmtes Fachgebiet. Da ich den Bereich nicht gelernt habe, stoße ich an Grenzen, hab auch niemanden, der mir das erklärt.

Die Finger kann ich trotzdem nicht lassen und wenn mein Denken depri-bedingt eingeschränkt ist, mache ich im Prinzip aus Frust das genaue Gegenteil: ein PC-Spiel spielen. Praktisch so wie Du schreibst:

permanent an euren Ansprüchen scheitert? Dass euer Perfektionismus Schlamperei zur Folge hat?

Dagegen tun? Ich nimm mir mittlerweile nur noch so viel Geld mit, dass es nur zu Gebäck und Getränk reicht. Denn am Bhf. muss jedesmal an "buch + presse" vorbei und diese Anziehungskraft ...

Ich gehör im Vergleich von Euch geschildertem (noch?) nicht zu denen, die (riesige) Regale vollgestellt haben. Trotzdem wird der Platz mit jeder Zeitschrift knapper und keine möchte ich in den Keller verlagern, nicht mal bis "wenigstens" die wissenschaftlichen Erkenntnisse veraltet wären. Und trotz der neuen Möglichkeit des online-Zugangs möchte ich nicht auf die Zeitschrift verzichten, die ich jederzeit in die Hand nehmen und beliebig "durchstudieren" kann.

LG, Manuela
Liber
Beiträge: 1491
Registriert: 4. Jun 2006, 18:09

Re: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher - Depression und Perfektionswahn

Beitrag von Liber »

Hallo Friedrich,

über Bücher könnte ich endlos reden ...

>Und sie bereichern nicht nur, sie eröffnen „Möglichkeitsräume“

So empfinde ich das auch! Beim Schmökern und Blättern in der Buchhandlung spüre ich recht schnell, ob sich mir in einem Buch so ein Möglichkeitsraum eröffnet oder nicht. Wenn ja, kann ich kaum widerstehen und kaufe das Buch. Und ich freue mich dann darauf, es zu lesen, es ist wie eine zu erwartende Begegnung, ein noch unentdeckter Raum, wie ein Versprechen - schwer zu beschreiben.


>DIESER Lektüreeffekt ist nicht nur positiv!
Ganz im Gegenteil!<

Weshalb im Gegenteil? Ich finde diesen Effekt vorrangig durchaus bereichernd und erweiternd. Oder bedeutet es für Dich in erste Linie Schmerz, zu sehen, was eben in Deiner Kindheit NICHT möglich war?

Und natürlich darf das Lesen nicht das Leben selbst ersetzen. Diese Gefahr besteht durchaus! (Wie bei allen Süchten ....)



>da gibts in Reichweite div. Regale, auf denen sich die Neuerwerbungen türmen, div. Kissen nebst Decken, dazu eine Leselampe… DAS sind Genüsse! Was will der Mensch mehr? <

Kann ich SEHR gut nachfühlen! Oft freue ich mich auf mein Buch, das mich am Abend erwartet wie auf einen guten Freund !

>Und „Stress“: der Stress entsteht dadurch, dass ein jedes Buch auf –zig andere verweist (die man eigentlich auch noch lesen müsste) - und aus dem Bewusstsein, dass das Leben endlich ist. <

Hier ist es vielleicht Aufgabe, herauszufinden, welche ich wirklich lesen WILL (und nicht muss).

>Grad kommt mir eine Assoziation, dass ich in meinem Testament aufnehmen sollte, dass meine gesammelten Schätze mit mir zusammen verbrannt werden sollen!<

Aber nein, warum denn ?? Doch keine Bücherverbrennungen, Friedrich, da blutet mir ja das Herz! Vermache sie doch lieben Leuten, die sie zu schätzen wissen .
Muss ja nicht der eigene Nachwuchs sein, auch meine Söhne haben leider nicht meine Lese- und Bücherleidenschaft geerbt.

Deine Buchauswahl ...

Und ich konnte vor ein paar Tagen nicht an gebundenen - und total herabgesetzten - Restexemplaren vorbeigehen ... John von Düffel "Zeit des Verschwindens" und "Der Unfall" von Mihail Sebastian ...

Daran siehst Du ein wenig meine Richtung

Viele Grüße nach Berlin!

Brittka
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