Wer bin ich?

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paradiddler
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Wer bin ich?

Beitrag von paradiddler »

Hallo Leute,

"Ich weiß nicht, wer ich bin!"

Mit diesen Worten habe ich vor ca. 3 Jahren auf die erste Frage einer Psychologin geantwortet, bei der ich in die Therapie gehen wollte. Es war mein erster Kontakt mit Psychotherapie und der Beginn meiner "Reise".

Heute habe ich an diesen Tag zurück denken müssen, und mich gefragt, ob ich es jetzt weiß. Was mich dabei am meisten verwirrt hat, ist die Tatsache, dass ich das Gefühl habe, dass ich eigentlich immer noch derselbe Mensch bin wie vorher, ich aber ganz einfach die Depression bis zu einem gewissen Teil in mein Leben integriert habe. Wer bin ich also?

Ich kann gar nicht mehr abgrenzen, wo ich aufhöre und wo meine Depression beginnt. Also ist sie immer ein Teil von mir und wird es auch bleiben? Aber haben wir nicht alle einmal gehofft, dass wir sie aus unserem Leben vertreiben? Ist das Ziel der Reise also tatsächlich, zu erkennen, dass die Probleme die wir haben daher kommen, dass wir von uns verlangen, sie nicht zu haben?

Stefan


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Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
SophiaDeLuna
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Re: Wer bin ich?

Beitrag von SophiaDeLuna »

Hallo Stefan,
ich verstehe Dich sehr, sehr gut. Auch ich habe noch nicht herausgefunden, wer oder wie ich eigentlich wirklich bin. Hoffe, daß man das irgendwann herausfindet.
Im Bezug auf die Depri sehe ich es für mich so: Ich will die Depri nicht mehr vertreiben. Ich hoffe aber, daß ich die Gedankenmuster, die die Depri und meine diversen Angststörungen auslösen, irgendwann irgendwie umprogrammieren kann.
Ich stelle mir das irgendwie so vor, wie bei einem Computer - wenn da irgendein Programm dauernd Fehlfunktionen hat, kann man es vielleicht reparieren oder umprogrammieren - deswegen muß man aber doch nicht gleich das ganze Programm deinstallieren. ( Obwohl... wenn ich mir das so überlege... wär schon praktisch, wenn man das ganze Programm löschen und ein neueres, besseres ohne Fehlfunktionen installieren könnte - dann könnte man sich viel Arbeit sparen... aber ich glaube, das funktioniert in diesem Fall (Depri) nicht).
Tja, wir werden wohl abwarten und uns in Geduld üben müssen (würg).
Kopf hoch und liebe Grüße
Sophia
Leni2
Beiträge: 471
Registriert: 10. Aug 2005, 18:00

Re: Wer bin ich?

Beitrag von Leni2 »

Lieber Stefan!

deine Gedanken finde ich immer sehr durchdacht und anregend! Du setzt dich sehr mit allem auseinander, finde ich.

Das schwierige an der Krankheit Depression ist tatsächlich, dass man sie nicht so ganz von seiner Persönlichkeit trennen kann. Aber auch der Morbus Crohn (chronische Darmentzündung), den ich habe und der rein organisch ist, ist mittlerweile ein Teil von mir. Ich habe mich darauf eingestellt und habe gelernt, mit ihm zu leben, ihn zu integieren. Das positive ist, dass ich dadurch eine ganz neue Einstellung zu meinem Körper bekommen habe, weil ich mich um ihn kümmern und ganz gezielt für ihn sorgen muss. Ich habe seine Grenzen kennengelernt, mich mit ihm beschäftigt, weiss, was er wann braucht. Ich weiss, das Gesundheit nicht selbstverständlich ist, sondern ein Geschenk oder auch das Ergebnis von Disziplin, Anstrengung und Geduld. Und das finde ich sehr bereichernd.
Könnte die Depression nicht denselben Effekt für die Seele oder die Psyche haben?

Das soll nicht heißen, dass eine Krankheit wünschenswert wäre oder so. Aber sie zwingt einen, sich mit ihr auseinander zu setzen und daraus kann man viel lernen, denke ich. Ziel ist dabei natürlich immer, so wenig krank wie möglich zu sein, im besten Fall, gar nicht krank zu sein.


"Ist das Ziel der Reise also tatsächlich, zu erkennen, dass die Probleme die wir haben daher kommen, dass wir von uns verlangen, sie nicht zu haben?"

Sicherlich kommen die Probleme nicht nur daher, aber es erschwert die Sache, wenn wir immer nur dagegen ankämpfen. Eigentlich ist die Frage auch egal, wie Depression und Persönlichkeit zusammenhängen. Im Moment gehört sie zu dir und du musst mit ihr leben. Ja, aber ich verstehe, man möchte die Krankheit loswerden und dafür muss man den "Feind" kennen. Aber vielleicht lernt man ihn am besten kennen, indem man ihn erstmal akzeptiert, seine Schwächen erkennt und dann gezielt dagegen angeht? So mache ich es mit dem Crohn. Mit der Depri gelingt es mir leider noch nicht so gut .


"Die Falle, in die sich der Depressive verstrickt, die ihn gefangen hält, quält, zermürbt und allzu oft in schwerste Verzweiflung oder - nicht zu selten - auch in den Tod treibt, ist besonders geschickt ausgelegt. Die Falle heißt Lebensillusion! Der Depressive hält an einem verzerrten Wunschbild seines Lebens fest. Oft genug ahmt er ein von anderer Seite vorgelebtes Original nach, statt ein originäres Leben zu führen. Nur wer sich aus dieser Lebensillusion befreit, kann der Lebensfalle Depression entkommen. (...) Falsche, aber lange Zeit verlockende Illusionen und Zerrbilder aufzugeben, ist der Preis für ein normales Leben."
aus: Holger Reiners: Das heimatlose Ich

Vielleicht gehört es auch zu diesen Illusionen, dass wir denken, wir müssen immer gesund sein, perfekt funktionieren, dürfen keine Schwächen haben...

"Es kann sehr lange dauern, bis der Depressive endlich spürt und sich später auch eingestehen muss, dass er selber der "Ver-rückte", der aus der Wirklichkeit Herausgerückte ist und dass er endlich den Weg zu sich selbst finden muss, um einmal sagen zu können, ich bin der, der ich bin."

Jetzt ist es wieder ein Roman geworden . Vielleicht sind ja ein paar Anregungen für dich dabei!

Liebe Grüße von Lena
Alles, was man über das Leben lernen kann, ist in drei Worte zu fassen: Es geht weiter!

barilla
Beiträge: 127
Registriert: 14. Sep 2005, 19:23

Re: Wer bin ich?

Beitrag von barilla »

Hallo Lena!

Erstmal danke für das Zitat von Holger Reiners. Ich finde, das trifft die Sache ganz gut im Kern!
Ja, wie ist das mit der Frage, wer man eigentlich ist... Manchmal kommt es mir so vor, als würde mit der Dep. etwas aufgebrochen werden und es entsteht erstmal ein totales Durcheinander, aber dann werden die "Karten quasi neu gemischt". Will heißen, vielleicht hat man durch die Dep. tatsächlich die Möglichkeit, sich zwar NICHT neu zu erfinden, aber tatsächlich zu finden und zu akzeptieren, mit all seinen Fehlern und Schwächen. Das heißt natürlich nicht, dass ich mich freue, dass ich Dep. habe, weil ich dadurch etwas über mich lernen kann, aber vielleicht hat man dadurch wenigstens die Möglichkeit seinen Fokus auf sich selbst und die Umwelt ändern oder neu ausrichten zu können.
Wenn ich mal wieder einen depressiven Schub habe, dann kommt es mir so vor, als wäre ich vollkommen schutzlos, als würde alles ungefiltert in mich durchdringen und unendlich wehtun. Vielleicht ist das dann wirklich der Zustand, wo man seine gesellschaftl. (SCHUTZ!!!)-Rolle ablegt und gefordert ist einen anderen, passenderen Weg für sich zu finden, den man möglichst unabhängig von den ständigen Erwartungen von außen wählen sollte.
Ich empfinde die Depressionen wirklich ganz oft wie eine Art Schwelle, die man aber auch als Chance begreifen kann.

Alles Liebe,
BARILLA

"An der Schwelle wachen besondere Götter über Dich. Das ist ein gefährlicher Ort, aber auch ein Ort der größten Hoffnung."
(Walter Benjamin)
Leni2
Beiträge: 471
Registriert: 10. Aug 2005, 18:00

Re: Wer bin ich?

Beitrag von Leni2 »

Hallo Barilla!

Das trifft es sehr gut, was du geschrieben hast. Besonders das Zitat über die Schwelle mag ich!

Habe dazu noch was bei Holger Reiners gelesen:

"Ich erlebe die Depression weitenteils als die Folge der Konfrontation zwischen Lebensanalyse und Illusionen. Krankheit also als körperliche Symptomatik, als Reaktion auf ein Auseinanderdriften zwischen eigener Realität und persönlicher Illusion. Diesen Zusammenhang sollte sich, wer an Depressionen erkrankt, vor Augen führen und die Fragen stellen: Warum werde ich gerade jetzt von einer Depression bedroht? Wo sind die Ressourcen, auf die ich mich verlassen kann, die mich am Leben erhalten? Ein solches Gedankenraster kann helfen, den blick für die Krankheit zu schärfen und später die eigene Lebensposition vermutlich neu zu bestimmen.
Damit gleicht die Depression einem irgendwo in der zerklüfteten Bergewelt des lebens stehenden Wegweiser, dessen Richtungsanzeige zerbrochen am Boden liegt. Klar ist in der Situation des Lebenswanderers, dass er sich auf einem ausgewiesenen, also gangbaren Weg befindet - nur die Richtung weiss er nicht."

Lieber Stefan,

das Kapitel handelt übrigens von Depressionen in der Ausbildungsphase. Der Autor hat auch mehrfach das Studienfach gewechselt. Und immer wieder rutschen wir darin ab, zu wollen, was andere oder unser Bild von uns selbst von uns erwarten, anstatt unsere Wünsche, unsere Realität zu erkennen. Ich sehe da den direkten Zusammenhang zu meiner momentanen Depri. Für mich zählten in den letzten Studienjahren nur Alter, Praktika, Sprachen, Auslandsaufenthalte und ich habe mich von meinen Defiziten in den Bereichen völlig verrückt machen lassen. Ich glaube, du kämpfst auch immer sehr stark mit deinem Ehrgeiz, einem bestimmten Bild von deinem Leben. Aber was willst du? Was tut dir gut oder nicht? Was macht dir Spaß? Ich meine wirklich? Wer bist du inklusive Depression?
Zeugen deine Fragen nicht auch davon, dass du noch der Illusion von einem Stefan ohne Depris nachläufst?

Ich hab da in Bezug auf mich auch nur in Ansätzen eine Ahnung. Aber ich glaube, ich hab jetzt wenigstens schon mal den Wegweiser entdeckt . War ich an der Stelle nicht schonmal?

Liebe Grüße,

Lena
Alles, was man über das Leben lernen kann, ist in drei Worte zu fassen: Es geht weiter!

barilla
Beiträge: 127
Registriert: 14. Sep 2005, 19:23

Re: Wer bin ich?

Beitrag von barilla »

Hallo Lena!

Vielen Dank für das neue Zitat! Sag mal, aus welchem Buch stammt das eigentlich?
Und gibt es in diesem Forum eigentlich einen besonderen Thread, wo man sich gegenseitig Literaturtipps geben kann? Fände ich sehr schön!

Liebe Grüße,
Barilla
deary
Beiträge: 424
Registriert: 17. Jun 2005, 13:05

Re: Wer bin ich?

Beitrag von deary »

Hallo ihr Lieben,

ja, darüber hab ich auch schon oft nachgedacht. Vor allem: Wer wäre ich ohne Depressionen geworden? Und wie bin ich ,wenn es mir gut geht?
Bin ich dann so grundlegend anders, oder ist der grüblerische Anteil teil meiner selbst?

Wenn ich so über meine Schul- und Ausbildungszeit nachdenke, kommt mir in den Sinn, dass ich immer "dazugehören" wollte, wollte nicht auffallen.
Dafür habe ich mich angestrengt, notenmäßig, beliebtheitsmäßig.
Und manchmal bin ich über´s Ziel hinausgeschossen, war zu ehrgeizig.
Aber generell ist es mir gelungen, wieviel ich mir dabei abverlangte, das stand nicht zur Debatte.

Hauptsache " dazugehören".
Deshalb wundert es mich heute, dass man so oft in der Literatur liest, die Depression sei eine " Anpassungsstörung"...
Ich und unangepasst?
Ich, die immer "angepasst " sein wollte?
Fast habe ich das Wort "Anpassungsstörung" deshalb als Provokation empfunden...

Heute bin ich in Teilen tatsächlich unangepasst,die Depression zwingt mich dazu.

Über " Werte " habe ich schon immer in meinem Leben nachgedacht, aber jetzt habe ich sie ganz neu für mich definiert.
Es tut mir gut, zu wissen, durch dieses Forum, dass es auch noch andere Menschen gibt, die ihre Krankheit in dieser Hinsicht als Chance zu einem neuen Weg zu sich selbst entdecken.
Und wenn wir dadurch ein Stück "unangepasster , aber freier werden",kann die fraglos schmerzliche Erfahrung dieser schlimmen Krankheit doch auch Wegbereiter sein...

Liebe Grüsse
deary
barilla
Beiträge: 127
Registriert: 14. Sep 2005, 19:23

Re: Wer bin ich?

Beitrag von barilla »

hallo an alle!

Habe in meinem vorherigen Beitrag hier nach einem vorhandenen Thread über Literaturtipps gefragt. Habe jetzt einfach selbst einen eröffnet: "Literaturtipps" bei "Umgang mit der Krankheit"!
Schaut doch mal vorbei und beteiligt Euch rege

Liebe Grüße,
Barilla
paradiddler
Beiträge: 237
Registriert: 19. Sep 2003, 08:21

Re: Wer bin ich?

Beitrag von paradiddler »

Hallo ihr Lieben,

erst mal vielen vielen Dank für eure Antworten. Mir geht es im Moment nicht so gut, deshalb kann ich nicht so viel schreiben.

@Sophia

Du hast es mit einem Wort auf den Punkt gebracht: würg...

@Lena

Wie geht es dir so momentan? Hast du was von Keken gehört?

Du hast recht, ich denke viel über alles nach, aber leider nicht, weil ich es so toll finde, hier im Forum mit Weisheiten um mich zu schmeißen, sondern weil ich nicht anders kann. Wenn ich ein Notizbuch mitnehmen würde (was ich demnächst auch machen will), dann würde ich jeden Tag bestimmt 30 Seiten Gedankenfetzen aufschreiben. Momentan ist alles wieder so wirr, dass der Strudel in mir mich selbst zum Stillstand gebracht hat und ich mich überhaupt nicht auf andere Gedanken (Hausarbeit!) konzentrieren kann.

Ich glaube auch, dass die Depression einem immer etwas sagen will und eine Art Botschafter der Seele ist. Aber momentan verstehe ich ihre Sprache nicht... Das Buch von Holger Reiners war das erste, was ich zum Thema gelesen habe. Es hat mich damals sehr angesprochen, weil der Autor sich auch in einer verzwickten Studienlage befand. Ich werde mal ein paar meiner Literaturtipps in den Thread stellen.

Ich glaube nicht, dass es ein Problem ist, zu glauben, dass man gesund sein muss. Ich glaube, dass die Depressiven nicht wissen, was gesund sein bedeutet und etwas als gesund betrachten, was nicht im Einklang mit ihrer Seele steht. Der Zustand, den sie als gesund ansehen, macht sie krank. Sie können sich aber nicht von diesem Ideal, von diesen Lebensillusionen lösen.

Stefan


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Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
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