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Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 12:54
von Wölkchen30
Ich weiß nicht ob es hier her gehört und ich es hier rein setzen darf, aber vielleicht kann es dem Ein oder Anderen ein wenig helfen alles ein wenig anders zu sehen *hoff*



Das Gedicht der Traurigkeit

Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub auf dem Wege saß, schien fast körperlos. Sie erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist du?"

Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und leise, dass sie kaum zu hören war.
"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte grüßen.

"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.

"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder hast du mich ein Stück des Weges begleitet."

"Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"

"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtling einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich... bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.

"Die kleine alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."

Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. "Ach, weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest." Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muss sich nur zusammenreißen. Und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."

"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet."

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu."

Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlte, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt."

Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber ... aber - wer bist eigentlich du?"

"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. "Ich bin die Hoffnung."

(Inge Wuthe)

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 13:33
von joy
Sehr ergreifend und sehr zum Nachdenken. Ich habe eine Gänsehaut bekommen.

LG
Joy

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 14:29
von Chiron
Hallo Wölkchen,

genau heute, wo ich noch recht erschöpft bin von einem neuen Deprischub mit massiver Hoffnungslosig- und Traurigkeit, tut diese Geschichte besonders gut und gibt wieder neue Hoffnung.

Vielen lieben Dank an Dich dafür!
Chiron

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 14:38
von Reysa
Hallo Wölkchen,
wirklich sehr ergreifend, ich hab es mir eben ausgedruckt. Danke

Lieben Gruß
Reysa

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 14:54
von Wölkchen30
Danke für euer Feedback , auch ich bekomme immer wieder eine Gänsehaut beim lesen und es spricht so viel Wahrheit aus dieser Geschichte...

Danke , so schnell können Menschen mich glücklich machen und ein breites Lächeln auf mein Mündli zaubern. *schön wenn es euch hilft*

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 14:57
von Wölkchen30
@Chiron
dich mal in den Arm nehme und ein bisschen knuddel und festhalte (nur wenn du magst) und dir ein dicke Trost-knuddler und Mut-machknuddler und schön-das-du-da-bist-knuddler und du-bist-wertvoll-knuddler rüberreich!!!

Alles liebe dir von herzen
wölkchen

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 14:58
von Rotfuchs
Hallo Wölkchen,

selten habe ich so eine "mutmachende" Geschichte gelesen... für mich gehört sie auf jeden Fall hierher.

Danke dafür!!!

Andrea

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 19:58
von KatzeI
Liebes Wölkchen!

Ändere doch endlich Deinen Namen in Sonnenschein.. Ein ganz lieber fetter Drücker zu Dir hin

Du hast meine Mail gelesen, und da heute ein anstrengender Tag war, lade ich einfach mal Frau Hoffnung ein... DANKE liebes Wölkchen!!

@ Chiron: Hinter all den Wolken scheint die Sonne, man muss den Mut haben, die Wolken fortzuschieben... Du hast soviel Kraft, Du schaffst es!!

Ich glaube an Euch Zwei - DRÜGGER an Euch!!
Kaddy

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 19:58
von KatzeI
Liebes Wölkchen!

Ändere doch endlich Deinen Namen in Sonnenschein.. Ein ganz lieber fetter Drücker zu Dir hin

Du hast meine Mail gelesen, und da heute ein anstrengender Tag war, lade ich einfach mal Frau Hoffnung ein... DANKE liebes Wölkchen!!

@ Chiron: Hinter all den Wolken scheint die Sonne, man muss den Mut haben, die Wolken fortzuschieben... Du hast soviel Kraft, Du schaffst es!!

Ich glaube an Euch Zwei - DRÜGGER an Euch!!
Kaddy

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 18. Apr 2005, 23:34
von mautzihh
Liebe Wölkchen,

wunderschön und tröstend - sehr wahr und Mut machend - vielen, vielen Dank!

Lieben Gruß

Mautz

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 19. Apr 2005, 09:44
von steppenwolf1
*seufz* - danke für die Geschichte.

vG, steppenwolf

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 19. Apr 2005, 12:32
von Wölkchen30
Ich habe euch zu danken

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 24. Mai 2022, 08:16
von malu60
Genau,aus "Alle Farben dieser Welt"(oder hieß es "Die Farben der Wirklichkeit",habs leider nicht mehr)....wunderbare,tröstende Worte jedenfalls und schenkt Hoffnung,auch für den heutigen Tag

War ich Mitte 30 ,mit einem Freud haben wir uns gegenseitig daraus vorgelesen,
manchmal geweint und waren tief bewegt.Bin heute wieder dankbar,dass
er mir damals dieses Büchlein nahe brachte,dannach begann die 1.Therapie.

Was für ein langer Weg....danke Grinch,dass Du Deinen Spaten eingesetzt hast.
Da hebst Du richtige Schätze :hello: Liebe Grüße Malu

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 24. Mai 2022, 08:27
von Katerle
Danke Grinch, diese Geschichte ist mir sehr wohl bekannt. Sehr berührend und ermutigend zugleich.

Allen einen angenehmen Tag,
Katerle

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 24. Mai 2022, 10:49
von Maxegon
Schöne Geschichte!
Auch ich sehe oft Frau Traurigkeit mit Frau Hoffnung Hand in Hand.

Wenn ich aber Frau Fröhlichkeit begegne, werde in immer ganz unruhig. :mrgreen:

Re: Das Gedicht der Traurigkeit...

Verfasst: 24. Mai 2022, 12:42
von Aurelia Belinda
Es ist doch traurig dass es viele Gedichte über die Traurigkeit gibt.
Ich denke man sollte man eines kreiren über die Fröhlichkeit. :)