Ich möchte die Krankheit verstehen

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Mein Bruder
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Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Guten Tag,

am Freitag haben wir meinen Bruder beerdigt.
Er wurde nicht mal 56 Jahre alt.

Er war alkoholkrank, was er wusste und wogegen er auch mehrmals ankämpfte. Von 2007 bis 2017 war er trocken.
Das waren seine schönsten Jahre, hat er gesagt. In der Zeit hat er auch wieder Kontakt zu seiner Tochter aufbauen können. Als sie fünf war, trennten sich ihre Eltern.

Er hat 400km weit weg gelebt. Deshalb wissen wir nicht alles. Aber zu dem Rückfall hat wohl eine Trennung geführt. Wahrscheinlich auch beruflicher Stress. Leider hat er dreimal betrunken Autounfälle verursacht, wobei zum Glück nie Personenschaden entstand.
Er war selbstständiger Koch aus Leidenschaft und eine Zeit lang hatte er auch gut zu tun.
Aber nie zog er in Erwägung, sich anstellen zu lassen. Mehrere wohlgemeinte Angebote hatte er von Leuten, die seine Fähigkeiten zu schätzen wussten. Er wollte immer unabhängig, sein eigener Herr bleiben.
Dann kam Corona und er war wie gelähmt. Das ging ja sehr vielen so.
Er hatte wieder keinen Führerschein, zog sich immer mehr zurück, schwindelte, schimpfte auf die Politik und fand keine Lösungen. Stolz war wohl auch mit dabei.

Bei der Beerdigung haben wir erfahren, wer ihm alles helfen wollte. Was seine Freunde für Vorschläge hatten. Auch ich hatte gute Ideen. Fand er sogar nicht mal so schlecht. Nur zutückkommen in die Heimat wollte er nicht. Wahrscheinlich wegen unseres Vaters, der meint, Alkoholismus sei keine Krankheit und der ihn sehr beschimpft hat am Telefon.
Er hatte keine Kraft und wollte nur schlafen, was er nicht konnte.
Ich habe ihm gesagt am Telefon, dass Depressionen recht gut zu behandeln sind, dass er aber zunächst zu seiner Ärztin gehen müsste.
Zwei Wochen vor seinem Tod hatte ich in Erwägung gezogen, seine Betreuerin zu werden.
Aber dazu kam es nicht mehr. An dem Morgen seines Todestages habe ich zu meinem Mann gesagt, dass ich mit einer schlimmen Nachricht rechne...

Ich will die Krankheit verstehen.
Warum konnte er alle Hilfsangebote nicht annehmen?
Ist es eine bestimmte Struktur oder Region im Gehirn, die ihn anders denken und fühlen ließ?
Wenn ich, auf die er eigentlich auch große Stücke hielt, in seiner Nähe gewesen wäre, hätte ich es geschafft, ihn zum Arztbesuch und auch zu einer Therapie überreden können?

Man ist als Angehörige so hilflos. Dieses Zusehen, wie der geliebte Mensch immer weiter auf den Abgrund zusteuert, ist so furchtbar.

Ich bin sehr dankbar für Erklärungen
Empathie58
Beiträge: 266
Registriert: 23. Okt 2017, 21:48

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Empathie58 »

Hallo Mein Bruder,

zum Tod Deines Bruders spreche ich Dir mein Mitgefühl aus.

Ich kann gut nachvollziehen, dass Du nach Erklärungen für das Verhalten Deines Bruders suchst. Die wird Dir vermutlich niemand geben können.

Du hast versucht, ihn zu unterstützen, hast sogar erwogen, Dich zu seiner Betreuerin bestellen zu lassen. Selbst wenn es dazu noch gekommen wäre bleibt fraglich, ob Du etwas hättest ändern können.

Für mich klingt es so, dass Du hingeschaut und alles in Deinen Kräften stehende versucht hast.

Ich wünsche Dir, dass Du einen Weg findest, das Geschehene zu akzeptieren und Deiner Trauer Zeit und Raum zu geben.

Liebe, mitfühlende Grüße
Empathie58
Mein Bruder
Beiträge: 83
Registriert: 28. Okt 2023, 21:11

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Guten Morgen Empathie58,

vielen lieben Dank für Deine Worte.

Inzwischen habe ich den sehr ausführlichen Entlassungsbericht der Entzugsklinik gelesen, den meine Nichte und zukommen ließ.
Auch dort riet man ihm dringendst, die Selbstständigkeit aufzugeben. So viele Therapieangebote hat er ausgeschlagen, aus Existenzangst sicherlich. Es ist nicht nachvollziehbar...

Ich glaube, auch in der Kindheit liegen Ursachen. Wahrscheinlich hauptsächlich. Ich war meinen Kindern gegenüber viel zugewandter. Sie konnten alle Sorgen mit uns teilen und sich entfalten. In den 70ern und 80ern ging man eben anders um mit Kindern; wir bekamen nicht so viel Beachtung.

Er ist erlöst, meine Eltern und ich auch. Es war so furchtbar.

Ich glaube auch, dass ich gar nicht weiter nach einem Namen für seine Störung suche. Es ändert nichts mehr und man muss ja wirklich mal zur Ruhe kommen.

Vielen Dank, alles Gute und viele Grüße
Mein Bruder
Allegretto
Beiträge: 178
Registriert: 5. Nov 2019, 18:15

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Allegretto »

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Zuletzt geändert von Allegretto am 2. Nov 2023, 08:58, insgesamt 1-mal geändert.
Allegretto
Beiträge: 178
Registriert: 5. Nov 2019, 18:15

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Allegretto »

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MSH
Beiträge: 26
Registriert: 29. Dez 2022, 09:13

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von MSH »

Hi, manchmal sind wir einfach machtlos! Depressionen können nur Menschen wirklich verstehen, die selber welche hatten. Dazu gehöre ich auch. Ich habe einen jungen Menschen kennengelernt, der nach Jahren der Depression aufgegeben hatte. Keine Hoffnung mehr sah und niemanden mehr vertraute. Doch wusste ich nur zu gut, wie es in ihm aussieht. Das tut so gut, das jemand da ist der mich versteht! Wieder einem Menschen vertrauen.
Der Weg wird noch lang sein für ihn, doch ist schon viel geschafft.
Leider kann niemand deinen Bruder zurückholen. Es muss einen Auslöser für die Depressionen gegeben haben. Auch wenn es sehr schade ist, um dieses Menschenleben, es bleibt nur der Trost, das er nicht mehr leidet. Depressionen können zur wahren Hölle werden und dann verstößt man auch noch seine Mitmenschen, die es nicht verstehen. Ein Teufelskreis, der alles immer schlimmer macht.
Angehörigen und Freunde eines Depressiven sind hilflos, sie können es nicht nachvollziehen. Und machen aus Unkenntnis Fehler, die alles noch schlimmer machen können.
Entschuldige bitte, wenn ich etwas zu ehrlich schreibe.
Von allen Seelen, die ich jemals traf, ist die seine die menschlichste
Mein Bruder
Beiträge: 83
Registriert: 28. Okt 2023, 21:11

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Hallo,
vielen Dank für Deine Zeilen.
Ich finde, Du hast nicht "zu ehrlich" geschrieben...

Es ist ja auch eine schreckliche Kombination aus Depression und Alkoholabhängigkeit gewesen bei ihm.
Was kann man als Nichtbetroffene falsch machen? Das möchte ich wirklich gern wissen. Ich habe mir auch ein Buch bestellt. Das schon, da lebte mein Bruder noch und ich dachte, ich kann daraus etwas Hilfreiches für ihn oder mich finden. Es kam jetzt erst. Aber es scheint sehr gut, sehr umfassend zu sein. Es ist von der Stiftung Warentest.
Außerdem habe ich Kurt Krömers Buch über seine Depression gehört. Und meinem Bruder zum Geburtstag schenken wollen. Kam auch zu spät.
Gerade aus seinem Buch habe ich für mich entnommen, dass man zu Depressiven nicht sagt "Reiß' dich zusammen" usw.

Glück hat man als Angehörige wahrscheinlich nur, wenn der Kranke einwilligt, zum Arzt mitzugehen, wenn er vielleicht froh darüber ist, dass man einen Termin für ihn vereinbart hat. Denn an sich sind Depressionen ja wohl recht gut zu behandeln. "Nur" der erste Schritt muss eben gemacht werden.

Ja, er ist nun wieder bei uns. Auf dem Friedhof. Und leidet nicht mehr.

Durch die letzten Alkoholabstürze haben auch wir viel mitgemacht. Da war er bei unseren Eltern und es war so furchtbar. Therapien brach er nach den Entgiftungen ab.
Ich möchte, dass solche Krankheiten ernst genommen werden, die Kranken nicht abgestempelt werden. Und ich habe auch den Eindruck, es tut sich was.
Stimmt das?

Leider ist es ja sehr schwierig, Therapieplätze zu bekommen. Das ist auch schlimm und Entspannung zeichnet sich da wohl nicht ab.

Ich hoffe, Dir konnte geholfen werden und auch dem jungen Menschen, den Du kennengelernt hast.
Wenn einem selber bewusst ist, dass man DIESE Krankheit hat, ist das schon etwas erleichternd, stelle ich mir vor...

Ich wünsche Dir von Herzen alles Gute.
MSH
Beiträge: 26
Registriert: 29. Dez 2022, 09:13

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von MSH »

Ich wünsche dir von auch von Herzen alles Gute.
Es ist das schönste Geschenk für mich und ein Grund an das Leben zu glauben, wenn ein einst fremder Mensch mir sein Vertrauen schenkt und sich einfach nur mal anlehnen kann. " Schön das du da bist"!
Von allen Seelen, die ich jemals traf, ist die seine die menschlichste
Allegretto
Beiträge: 178
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Allegretto »

Ich hätte mir auch eine Rückmeldung zu meinem Beitrag vom 30.10. gewünscht....
Wie so oft schon....
Da keiner kam, signalisiert mir dies, dass kein Interesse bestand/besteht.
Mein Beitrag entstand spontan aus dem Gefühl beistehen zu wollen, gesehen zu haben und kam von Herzen.
Allegretto
Mein Bruder
Beiträge: 83
Registriert: 28. Okt 2023, 21:11

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Hallo Allegretto,.
doch, ich habe geantwortet.
Auf jede Nachricht, die mich erreichte.
Was ist passiert - wo ist die Antwort geblieben?
Es tut mir leid.
Allegretto
Beiträge: 178
Registriert: 5. Nov 2019, 18:15

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Allegretto »

Es tut mir sehr leid, wenn ich Dir persönlich in diesem Fall Unrecht tue.
Ich habe meinen Beitrag nach ein paar Tagen gelöscht, weil ich davon ausging, da kommt nichts mehr. So ist es nämlich sehr oft. Oder es kommen weitere Beiträge, auf die dann geantwortet wird, und mein Beitrag ist dann irgendwie keines Wortes mehr würdig. Und so habe ich mir angewöhnt, meine Beiträge dann ein paar Tage später zu löschen.
Wie gesagt, in Deinem Fall tut mir dies nun wirklich leid. Ich bin vielleicht altmodisch. Wenn ich einen "Faden eröffne", hätte ich persönlich den Anspruch an mich selbst, auf jeden Beitrag persönlich und einzeln einzugehen. So habe ich es zumindest damals (2019) in meinem ,"Faden" gehalten.
Dies ist nun "off topic", aber leider ist es auch hier im Forum oft so, dass Quantität vor Qualität geht im Sinne von, dass manch Schreibende sich viel und immer wieder neu in ähnlicher Weise wiederholen.

Meine Worte an Dich kann ich im Moment nicht wieder herleiten, aber Du hast mein tiefes Mitgefühl und meine aufrichtige Anteilnahme für den Verlust Deines Bruders. Ich sage dies nicht leicht dahin. Ich bin selbst lange und immer wieder von schweren Depressionen betroffen. Der Gedanke an meine Kinder (und nur dieser) hält mich persönlich hier in meinem Leben. Ich möchte damit nur sagen, dass ich mich ein Stück weit in wirklich beide Seiten einfühlen kann, da ich mich mit dem endgültigen Schritt und den möglichen Auswirkungen für meine Hinterbliebenen (m. Kinder) schon oft auseinander gesetzt habe.
Alles Gute für Dich und viel Kraft, damit Du den schmerzlichen Verlust eines Tages tragen und überwinden kannst,
Allegretto
Mein Bruder
Beiträge: 83
Registriert: 28. Okt 2023, 21:11

Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Hallo Allegretto,

wie gesagt, ich weiß nicht, ob ich vielleicht wo falsch gedrückt habe und es tut mir leid. Ich kann Dich da verstehen - es ist wirklich nicht schön, wenn man in's Leere schreibt.

Ich bin regelrecht froh darüber, dass Du an Deine Kinder denkst. Ihr habt das alle nicht leicht mit dieser Krankheit.
Ich las, sie sei recht gut zu behandeln. Das war ja auch so ein Strohhalm für mich bzw. für meinen Bruder...

Ich wünsche Dir (und Deiner Familie) von Herzen, dass Du Du gute Medikamente bekommen hast und / oder eine hilfreiche Therapie. Dass es stimmt, was mir Hoffnung machte: dass diese schreckliche Krankheit, die noch nicht genug ernst genommen wird, gut zu behandeln ist.

Vielen Dank für Deine Wünsche.
Ich gucke sein Bild an und ja - wir werden eines Tages darüber hinweg gekommen sein. Und immer zu seinem Geburtstag werden wir zusammenkommen.,

Alles erdenklich Gute für Dich, von Herzen
Mein Bruder
Maxegon
Beiträge: 2421
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Maxegon »

Hallo,

ich entdeckte gerade erst diesen Beitrag.

@Mein Bruder, fragtest du dich Mal, warum dein Bruder soff?
Auch mein Vater war heftiger Alkoholiker, ehemals hochgebildet und intelligent (anerkannter Filmregisseur),
verkam immer mehr, durch den Suff und starb dann ganz jämmerlich.
Mein Bruder
Beiträge: 83
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Hallo,
ein wenig habe ich mich mit der Alkoholkrankheit befasst.
Genetische Voraussetzungen und Umfeld spielen wohl eine Rolle.
Er war vor einem Jahr in der Klinik. Und meine Nichte schickte mir den Entlassungsbericht.
Daraus ist ersichtlich, dass man sich sehr um ihn bemühte. Aber letzten Endes hat er die wichtigste Therapie abgelehnt: das Aufarbeiten von ganz tief drin her. Da war nichts zu machen.
Mein Bruder
Beiträge: 83
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Dass er alkoholkrank war, wusste er. Hat mehrfach Entzug in Kliniken versucht.
Am längsten trocken war er von 2007 bis 2017. Eine Trennung hat ihn wohl dann wieder zur Flasche greifen lassen.
Von Depressionen wollte er aber nichts wissen. Dass er darunter litt, war auch sehr offensichtlich.
Beide Krankheiten gehen ja wohl oft einher. Und Depressionen sind wohl auch ganz gut zu behandeln. Aber man muss es natürlich wollen. Das sah er nicht. Leider...
Maxegon
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Maxegon »

Hallo ,

genetisch ... sicher werden div. Anlagen (Angewohnheiten, Vorlieben etc.) vererbt bzw. der Mensch hat günstige Voraussetzungen dafür.

Es spielt auch keine Rolle, wie sehr "man sich bemüht", gelingt es einem nicht, den Menschen zu erreichen, sein Vertrauen, seine (!) Sprache zu sprechen.

Warum saufen so viele Menschen?
In den seltensten Fällen, weil sie so glücktich, so stark und so ein tolles soziales Umfeld haben.

Auch ich soff ca. 2 Jahre lang sehr heftig, weil ich schlichtweg all' das nicht hatte.

Ich war allein, nicht einsam an Menschen um mich herum, sondern tief im Innersten (in mir 'drin).

Mein Umfeld entsprach nicht meinem Ideal, nicht mal annähernd, was lag da näher, mich täglich mittels Alkohol zu verzaubern - da war die Welt wieder in Ordnung bzw. ich war so betäubt, dass ich den ganzen Schei** nicht mehr mitbekam.

Ich war schwach.
Und der Alkohol machte mich stark, veränderte die Realität, hüllte mich in Watte.

Ich begleitete einige Alkoholiker bei ihrer Therapie, wenn der Therapeut da nicht mega-senibel (genau auf den Patienten zugeschitten) agiert, bleibt's bei dem Versuch.
Die Rückfallquoten von 60 bis 90% betätigen es.
Maxegon
Beiträge: 2421
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Maxegon »

Mein Bruder hat geschrieben: 10. Dez 2023, 14:10 Eine Trennung hat ihn wohl dann wieder zur Flasche greifen lassen.
Von Depressionen wollte er aber nichts wissen. Dass er darunter litt, war auch sehr offensichtlich.
Man braucht einen Grund, um nicht zu saufen, einen Grund, um wach, aufmerksam zu bleiben.
Ebenso einen Grund, um sich zu betäuben, wenn alles so schön ist, werde ich doch den Teufel tun, um mich zu betäuben und zur hilflosen Person zu werden.

Und wer erst einmal die "vortreffliche" Wirkung des Alkohols erfahren hat, dem wird es schwerfallen, dem zu widerstehen.
Das muss man trainieren.

Alkohol ist doch nur so weit verbreitet, weil er funktioniert, er entspannt, lockert auf und lässt sorgenfrei einschlafen und das auf einfachste Weise.
Mein Bruder
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Aber mit starkem Willen allein ist es nicht getan, oder?
Ich glaube, das ist auch alles sehr komplex. Spielt so viel rein. Das Wichtigste ist die Einsicht und dann die Bereitschaft zur Therapie, aber mit allem, was die Ärzte raten. Das ist bestimmt selten so der Fall.
Maxegon
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Maxegon »

Mein Bruder hat geschrieben: 10. Dez 2023, 14:49 Aber mit starkem Willen allein ist es nicht getan, oder?
Ich glaube, das ist auch alles sehr komplex.
Es geht nur mit Willen.
Doch ich muss auch einen Grund haben, warum will ich überhaupt?
Ohne Ziel, kann ich "wollen" so viel ich will.

Es muss mein Ziel sein, nicht das Ziel, der Wunsch der Anderen.
Ich benötige Bewusstsein, Einsicht!
'
Wenn mein Therapeut etwas nicht vermitteln kann, kann es sein, dass ich zu blöd bin - sicher, doch wenn der Therapeut weder die Zeit hat, noch die Erfahrung mit einem Patienten, so umzugehen wie es nötig ist, dann bleibt's so wie es ist.

Man muss begreifen, es gibt nicht die (!) Depression oder den Alkoholismus, tausend kleine Ursachen bestimmen unsere Gefühle - meine, deine.
Da kann es doch gar nicht eine Standartbehandlung geben oder ein Medikament.

Wie wurde ich sozialisiert, was empfinde ich für wichtig, was freut mich, was berübt?
Das benöigt alles Zeit, um es herauszubekommen, Aufmerksamkeit.

Wenn ich als Partner, Arzt oder Therapeut meine Gedanken nicht vermitteln kann, bleibt es doch eine ewige, meist fruchtlose Herumprobiererei.
Selbst in der Schule, bei Kindern kann man es bemerken.

Wenn es mir nicht gelingt, mein Gegenüber zu begeistern, woher soll denn die Motivation kommen?
Mein Bruder
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Zu unerträglicher eigener Leidensdruck?
Aber der stellt sich vielleicht auch nicht mehr ein bei fast vier Promille.
Er war 400km weit weg zuletzt. Was ich alles versucht habe. Und an seinem Todestag habe ich früh zu meinem Mann gesagt, dass ich mit einer schlimmen Nachricht rechnete. Am Abend kam dann auch die Polizei, um mir das mitzuteilen.

Ich stelle es mir für Therapeuten schwierig vor, wenn deren anstrengende Arbeit so selten zum nachhaltigen Erfolg führt.
Maxegon
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Maxegon »

Mein Bruder hat geschrieben: 10. Dez 2023, 15:47 Zu unerträglicher eigener Leidensdruck?
Was ist Leidensdruck?
Woher rührt er?
Ist es Ausweglosigeit, kein Ziel haben?
Mangelnder Austausch mit anderen - neue Ideen oder alte wiederbeleben?
Eine Zukunft sehen?

Beim Alkoholiker ist es oft so, dass er auf Grund seines Konsums sich völlig isoliert, einizge Rettung - weiter oder wieder saufen, eine unaufhaltsame Abwärtsspirale.
Wie bereits erwähnt, trinken die Meisten nicht, weil sie so besonders froh sind.

Woher rührt also der Leidensdruck?
Woher rührt er auch bei depressiven (nicht trinkenden) Menschen, bei jedem Einzelnen?

Bei meinem saufenden Vater probierte ich auch alles, was in meiner Macht stand, doch konnte ich nicht sein Leben leben, schlussendlich begriff ich, er wollte gar nicht mehr anders.
Er hatte abgeschlossen. Ich ließ ihn gewähren.
In seinen (manchmal) nüchternen Momenten unterhielten wir und lange.
Ich akzeptierte seine Entscheidung, auch er starb irgendwann.
Mein Bruder
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Ist für Angehörige auch unerträglich, oder?

Im Nachhinein war auch mir klar, dass er nichts mehr ändern wollte oder konnte.
Betrunken Auto gefahren ist er dreimal. Zum Glück kam es immer nur zu Blechschaden.

Mit Leidensdruck meinte ich oder hoffte ich, dass er einen Rest Verstand hat, dass er erkennt, dass es ihm ohne Alkohol besser geht als mit. Dass er sich an die zehn trockenen Jahre erinnert.
Aber anscheinend war es wie bei Deinem Vater: er hatte sich entschieden.
Erstes Weihnachten ohne ihn. Er war ein sehr lieber Mensch.
Maxegon
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Maxegon »

Mein Bruder hat geschrieben: 10. Dez 2023, 16:54
... hoffte ich, dass er einen Rest Verstand hat, dass er erkennt, dass es ihm ohne Alkohol besser geht als mit. Dass er sich an die zehn trockenen Jahre erinnert.
Ich bin mir da nicht sicher ... wenn Job, Beziehung, Familie plötzlich weg ist, also das was den meisten Menschen etwas bedeutet... Anerkennung, Zufriedenheit, Geborgenheit und es einen nicht genügt, nur noch von seinen Erinnerungen zu leben, ob es dann ohne Alkohol "besser" ist?

Saufen oder auch Freitod ist doch ein Zeichen von nicht mehr können oder wollen.
Ich bewundere alle einsamen Rentner, die so lange nüchtern aushalten (Ironie).

Für Angehörige ist es oft unerträglich, wenn sie sich nicht von dem ganzen "Hätte", "Würde", "Könnte" trennen können.

Feiert euer Weihnachtsfest, stoss' auf deinen Bruder an, proste ihm zu, er hat es so gut gemacht wie er konnte. (keine Ironie)
Mein Bruder
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Mein Bruder »

Ich freue mich richtig, dass Du Dich gemeldet hast.

Es stimmt tatsächlich. Er war selbstständiger Koch und hatte da wirklich was drauf. War anerkannt bei Auftraggebern und Gästen.
Corona - wissen wir ja - bremste alle aus.
Existenzangst und totale Ablehnung durch unseren Vater setzten ihm zu.
Es fiel wirklich so gut wie alles weg so nach und nach.
Meine Vorschläge, Teilgewerbe zu behalten und als Koch in einem Altenheim zu arbeiten z.B. und somit ein Einkommen zu haben, lehnte er ab. Bzw. er war nicht mehr in der Lage dazu.
Und angeschwindelt am Telefon hat er mich ja auch. Sagte immer, er trinke nicht wieder...

Nun ja, es ist vorbei. Du hast recht, er konnte nicht (mehr) anders.

Ich wünsche Dir für Deine Begleitarbeit weiterhin alles Gute. Die Menschen sind sicher sehr dankbar, dass Du für sie da bist.

Und schöne Weihnachten sowie viel Gesundheit.
Maxegon
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Re: Ich möchte die Krankheit verstehen

Beitrag von Maxegon »

Mein Bruder hat geschrieben: 10. Dez 2023, 18:12 Die Menschen sind sicher sehr dankbar, dass Du für sie da bist.
Mit Sicherheit nicht! :mrgreen: Doch ich sehe es gelassen, meist.
Niemand mag es, wenn er den Spiegel vorgehalten bekommt.
Ich bin selbst 'ne große Pappnase und habe schon jede Menge Fehler gemacht.

Ich kann nur um Verständnis bitten, d.h. auch versuchen sich in die Anderen hineinzuversetzen, es mit ihren und auch anderen Augen zu sehen.
Auch wenn sie völlig wirr erscheinen oder auch sind.

Ich kenne diese Sätze am Telefon auch "Ich trinke nicht mehr" = alles Lüge!
Doch was will man machen ... jemanden zum Glück zwingen?
Meinem oder seinem Glück?
Wenn mein Vater betrunken war, war er auf seine Art glücklich.
Lange dauerte es, bis ich das akzeptierte und es tat verdammt weh (mir).

Vom Alkohol loszukommen, bedarf es Willen und auch Kraft, besonders in den ersten Wochen/Monaten, in 2...4 Wochen ist der Alk. aus dem Körper raus. Der körperliche Entzug geschafft, doch bis das aus dem Kopf 'raus ist, kann es lange dauern.

Ich sehe da Parallelen zur Depression, auch zum Liebeskummer, Ängsten u.ä. , doch das ist ein anderes Thema.

Behalte deinen Bruder in Erinnerung, wie er wirklich war und vergiss den Säufer.

:hello:
Zuletzt geändert von Maxegon am 10. Dez 2023, 22:52, insgesamt 1-mal geändert.
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