Guten Morgen Charlotte,
obwohl ich auch noch ziemlich neu bin im Forum, hab ich dieses Jahr im November "10-Jähriges" meiner Depris...
Und ich kann vieles von dem, was Du schreibst und beschreibst, nachfühlen.
Ich hatte in all der Zeit zwei richtig akute Phasen - die erste, mit der es ausbrach, und eine zweite ein Dreivierteljahr später.
Insgesamt waren die ersten zwei bis drei Jahre am mühsamsten - seitdem wurschtel ich mich durch - mal ist es besser, mal schlechter, mal (gemessen an den Umständen) richtig gut, mal eher düster.
Offiziell ist es noch immer als rezidivierende, mittelgradige Depression diagnostiziert. Aber natürlich spielen da auch ab und zu Angstzustände mit rein (vor allem damals in den akuten Episoden), und ich hab früher auch oft überlegt, ob es nicht vielleicht doch eher eine Dysthymie sein könnte...
Um konkreter auf Deine Situation einzugehen:
Mich nervt die Erkenntnis, dass ich mich nicht lange genug raus genommen habe.
....dass ich nicht so belastbar bin wie ich gerne wäre
... ich Langeweile bei der Arbeit nur mit einem Aufstieg/Fortbildungen vermeiden könnte. Ich dafür aber nicht belastbar genug bin
... meinen eigenen Ansprüchen einfach überhaupt nicht gerecht werde
... Nicht richtig abschalten kann
... Erkenntnisse da sind in großer Zahl, aber ich keinen Weg finde meinen Umgang damit zu finden
...diese Episode in ihrer schlimmsten Version vorbei zu sein scheint, aber immer noch anhält
... Dieser einer Mensch in meinem Leben, der mich so sehr Triggert sich entzieht. Und mich das noch mehr triggert.
... Diese emotionale unerreichbarkeit mir seit Jahren bewusst ist, ich aber keinen Weg da raus finde
.... Ich gerne einen Partner hätte, aber (siehe oben)
... Diese ewigen Optimierungen in meiner Umgebung mit gut tun, aber Geld kosten
... Mein Körper wieder deutlich zeigt, durch diverse Symptome, das ich noch nicht durch bin
Ich könnte noch weiter machen...
=> Du bist damit absolut nicht allein, sehr vieles davon kann ich (leider) nur für mich bestätigen, z.B.
- daß ich nicht mehr so belastbar bin;
- daß mich meine Arbeit langweilt bis frustriert, weil sich in dem großen Laden einfach nix bewegt und alles tot diskutiert wird;
- meine eigenen Ansprüche wahrscheinlich auch zu hoch sind;
- ich mich auch immer wieder schwer damit tue, richtig abzuschalten;
- ich bzgl. solcher Erkenntnisse lange Zeit das Gefühl hatte, eine Riesen Kiste mit Legosteinen ohne Bauanleitung vor mir liegen zu haben;
- mich einzelne Menschen und Situationen so schnell triggern, daß es echt sauschwer bis unmöglich für mich ist, dagegen anzugehen
- und auch mein Körper immer wieder alte und neue Symptome produziert, die mich verunsichern, von denen ich nicht weiß, was sie jetzt wieder zu bedeuten haben, etc.
Mir hilft dabei schon seit langem zu lernen zu akzeptieren, daß die Dinge so sind, wie sie sind:
- Dann bin ich eben nicht mehr so belastbar. Wo ist objektiv gesehen das Problem, solange es irgendwie weitergeht?
- Ja - und ich hätte gern einen interessanteren Job, der mir auch richtig Spaß macht und mir richtig Anerkennung einbringt. Fakt ist aber auch: Was ich richtig gut kann, kann ich nicht zu Geld machen. Und was ich zu Geld machen kann, macht mir eben nicht so viel Spaß. Is' so. Ich will seit Jugendzeiten gern mal einen Roman schreiben - aber wenn ich durch die Buchhandlung gehe, sehe ich nur, daß eigentlich schon alles geschrieben ist. Ich wollte mal einen Modellbauladen aufmachen - aber "dank" Onlinehandel und Preiskampf wäre auch das am Ende alles andere als spaßig. Und seit ein paar Jahren würde ich unheimlich gern LKW-Fahrer sein, vielleicht auch mal für ein halbes Jahr in den USA, quer durch's Land touren und Frachten ausliefern - praktisch hab ich aber keinen Bock, die meiste Zeit meines Tages in Staus auf der Autobahn zu verbringen und jede Nacht auf einem anderen Rasthof zu verbringen anstatt Zuhause in meinem eigenen Bett - von einer Aufrechterhaltung des Familienlebens ganz zu schweigen.
Also: Change it, take it, or leave it... => Ich kann und will es nicht ändern, also akzeptiere ich es, wie es ist. Auch, wenn das oft genug Frust und Ärger mit sich bringt. Dann sage ich mir immer wieder: Ich bin seit 15 Jahren in dem Unternehmen, mit ner starken Gewerkschaft dahinter => da kickt mich so schnell niemand (mehr) raus.
- Was die (eigenen) Ansprüche angeht: Wir sind nun mal in einer Leistungsgesellschaft geboren. Im Guten wie im Schlechten. Einerseits geht's uns im Schnitt sicher besser als den meisten anderen Menschen auf diesem Planeten. Andererseits lernen wir blöderweise von Kindesbeinen an praktisch nur "schneller, höher, weiter".
=> Ich mache mir da immer wieder bewußt, daß das nicht der Maßstab des Lebens ist! Wir sind nicht dazu da, den Planeten zu fegen, wie ich mal ganz zu Beginn meiner Depri in einem Hörbuch gehört habe. Und das ist mir hängengeblieben: Ich
darf auch lockerlassen. Es muß nicht alles perfekt sein. Irgendjemand sagte mir viel früher auch mal: Im Prinzip reicht Durchschnitt.
Natürlich fällt mir das nicht (immer) leicht, ich bin auch anders erzogen worden, und ich
bin ein Perfektionist. Aber: Je öfter ich mir das bewußt mache, daß ich das nicht zu machen und zu sein brauche, umso besser wird es. Heute kann ich schon viel eher mal Fünfe gerade sein lassen als noch vor ein paar Jahren. Und da, wo mir das gelingt, stört es mich auch nicht mehr - so what? Das war früher teilweise arg anders...
- Das mit den Triggern wiederum ist so ne Sache, bei der mir auch durch zahlreiche Gespräche mit meiner Frau in den vergangenen Jahren immer deutlicher wird, daß jeder von uns einfach einen ordentlichen Packen an Altlasten aus Jugend und frühester Kindheit mit sich herumschleppt. Zumindest für mich sind mir dabei viele Ereignisse aus der Kindheit durchaus noch in Erinnerung - aber daß diese teilweise eine solche Sprengkraft beinhalten, die sich (erst) heute noch so massiv auswirken kann, überrascht, irritiert und verunsichert mich doch sehr. Das ist dann wohl das viel zitierte "innere Kind", das wir auch bis zu unserem Tod noch in uns tragen - das verletzt wurde, sich nie ausheulen, nie heilen durfte, und das wir alle dann im Zuge des Erwachsen-Werdens (in einer Leistungsgesellschaft) immer weiter an den Rand gedrängt haben. "Ach, so wild war das alles damals nicht", sagen wir mit 30 oder 50 und tun die Klagen unseres jüngeren, verletzten Ichs immer wieder als unwichtig ab. Irrtum!
=> Hier wird vielfach empfohlen, den Triggern auf die Spur zu kommen: Warum triggert mich das? Und warum so sehr? Wo kommt das her? Was ist mir irgendwann damals mal wiederfahren, was mich verletzt, geängstigt und geprägt hat?
Dabei gilt: Je heftiger die Reaktion auf den Trigger, umso weiter liegt das Ereignis wahrscheinlich zurück.
Ich für mich kann da nur bestätigen, daß mir diese Sichtweise schon vielfach weitergeholfen hat - auch, wenn die Trigger immer noch da sind und oft genug trotzdem noch explodieren. Aber jutt: Eine Sache, die teilweise über 40 Jahre Zeit hatte zu reifen, entschärft man nicht über Nacht und mit einmal drüber nachdenken. Ist leider (auch) so.
Und dann: Mit dem inneren Kind reden. Es beruhigen. In den Arm nehmen. Versuchen, ihm die Beachtung, das Verständnis und die Liebe zuteil werden zu lassen, die es jahr(zehnt)elang nicht erhalten hat.
Das hilft.
Mit der Zeit.
Jedesmal ein bißchen mehr.
- Ähnlich ist es schließlich mit den Gefühlen (und dann mache ich mal langsam Schluß für den Moment
): Ich hatte auch meine Phasen, in denen ich wenig bis gar nichts gespürt habe. In denen mir noch nicht einmal langweilig war. Wenn ich aber tiefer in mich hineingehorcht habe, dann war da doch etwas: Schmerz. Leid. Frust. Qual. Und zwar teilweise so unerträglich, daß es mich praktisch betäubt hat.
=> Diese Phasen gehen vorbei, wenn Du ihnen Zeit und Ruhe gibst. In der Tat hilft mir da vor allem: Ruhe. Viel Ruhe. Schlafen. Viel schlafen.
In meiner ersten akuten Episode 2013 hab ich es zwei Wochen lang vor nachmittags um 15/16/17 Uhr herum praktisch kaum aus dem Bett geschafft. Und selbst dann mußte ich mich zwingen.
Mir hat da geholfen, in den "guten" Stunden auch wirklich nur das zu machen, wozu ich wenigstens ansatzweise Lust hatte - selbst, wenn ich mich etwas dazu treten mußte. Und dabei hab ich mir dann ganz bewußt immer und immer und immer wieder selbst gesagt, daß ich gerade etwas mache, was mir früher eigentlich immer Spaß gemacht hat. Daß diese Lust- und Gefühllosigkeit nur ein Symptom der Depression ist, das vorübergehen wird. Und ich habe mir wirklich so Sätze gesagt wie "Komm, eigentlich ist das jetzt doch ganz gut und macht doch Spaß, oder?" - Dann kam meist erst die "Nein"-Stimme der Depression - also hab ich sofort dagegen gehalten und gesagt "Doch, ein bißchen Spaß macht es schon. Vielleicht nicht so viel wie früher. Aber das kommt schon wieder
".
Wir gesagt, es liest sich sicher schlimmer als es ist. Ich hatte gestern einen tollen Abend, habe gerade meinen Balkon verschönert und wenn ich Lust habe, fahre ich gleich noch Blumen kaufen. Drei tolle Dinge, aber ich fühle es einfach nicht.
Im Prinzip machst Du es genau richtig, und wenigstens verbal schreibst Du auch von "toll", "verschönern" und "Lust haben" - ich denke, das ist doch ein ganz wichtiger Anfang, Du nimmst da doch schon die richtige Perspektive ein
Laß Dich davon nicht entmutigen, daß das nicht ganz ins Gefühl durchkommt, und bleib dran. Mach weiter an den Dingen, die Du grundsätzlich schön findest, sag es Dir (innerlich) auch immer wieder, sprich mit Dir selbst und argumentiere entsprechend gegen Deine Depri-Stimme an - und ich verspreche Dir, daß es mit der Zeit wieder besser werden wird.
Insgesamt kann ich Dir nur den abschließenden Rat geben, den ich auch selbst damals bekommen habe und bis heute beherzige:
Mach langsam und in Ruhe!
Es wird auch wieder Phasen geben, in denen Du belastbarer bist, mehr positive Dinge fühlst und besser durchstarten kannst.
Aber in (abklingenden) Phasen wie der jetzigen darfst Du Dir sehr viel mehr Ruhe und Entschleunigung erlauben. Entwickle Verständnis und Mitgefühl für Dich und die Situation. Sie ist da, und sie wird auch wieder weggehen. Aber zu sehr gegen sie anzukämpfen kostet noch viel mehr Kraft, als es ohnehin schon kostet...
Mit Depris umzugehen, ist nicht einfach, alles andere als das. Aber es wird beherrschbarer, mit der Zeit, man lernt, die Dinge einzuordnen, zu sortieren, zu akzeptieren, nachsichtiger, verständnisvoller, mitfühlender und liebevoller mit sich selbst zu sein.
Nicht immer. Aber immer öfter
Versprochen
Liebe Grüße,
und ich wünsche Dir trotz allem einen guten und schönen Start in eine neue Woche, in der hoffentlich alles noch und wieder ein bißchen besser wird
Axel