Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf.

anna54
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Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf.

Beitrag von anna54 »

Hallo zusammen
ich möchte an dieser Stelle versuchen, einen Austausch zu finden.
Anlaß ist das Buch: Die Vermessung des Psychiatrie,Weinmann Psychiater und Psychotherapeut
Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebietes.
Es gehört Mut dazu,sich einzulesen,wie getäuscht man letztlich wird,wie allein sich ein Patient fühlen muss,wenn er sich darin noch wiederfinden soll,wo er doch selbst nur noch suchend und jeder Sicherheit beraubt ist.
Es geht um Antidepressiva,Neuroleptika und deren Weg auf den Rezeptblock.
Um Hoch-und Mehrfachmedikation.
Um Nebenwirkungen und um das schwierige Thema Reduzieren und Absetzen.
Um die veränderte Chemie im Gehirn und was das auslösen kann.
Ein schwieriges Buch und sicher nicht für den Anfänger bestimmt.
Wer nur noch hoffen will auf die erlösende Wirkung eines Medikamentes,für den ist es das Buch zur falschen Zeit.
anna54
aikido_1987
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von aikido_1987 »

Hallo Anna, über dieses Buch bin ich auch schon gestolpert. Der Psychiatrie Verlag bringt immer tolle Bücher raus. Ich habe nur das halbe Bücherregal voll mit ungelesenen Büchern, deswegen macht es vielleicht im Moment keinen Sinn das auch noch zu bestellen. Ich weiß nicht warum, aber ich schaffe es einfach nicht zu lesen. Nicht mal Hörbücher höre ich durch. Ich weiß nicht woran es liegt. Vielleicht fehlt mir die Ausdauer und Konzentration.

Herzliche Grüße, aikido
Bauchtänzer
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von Bauchtänzer »

Rudy hat geschrieben: Ich habe im Laufe von über 15 Jahren eigentlich alle Antidepressiva, auch kombiniert mit Neuroleptika "probiert", .............
Gebracht hat mir das alles gar nichts. Es geht mir heute viel schlechter als vor den "Behandlungen"!
Nimmst du denn noch irgendein AD, Rudy? Falls nicht, seit wann?

Ich frage, weil ich selbst seit über 10 Jahren ein SSRI-AD nehme, es mir, da längst chronifiz. Depression, (natürlich?) auch nicht gerade gut geht und ich überlege das AD zu wechseln.
anna54
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von anna54 »

Hallo zusammen
bin fast am Ende des Buches angelangt.
Was mich sehr bewegt hat,war,das die bisherige Psychiatrie fast immer den Patienten für das "Nichtgelingen" der Medikation verantwortlich gemacht wird.
Auch mangelde Einsicht wird bisher als negativ angesehen,dabei gibt es ganz wichtige Hinweise,dass der Patient genau spürt,dass ihm Phrasen angeboten werden,dass das Angebot nichts mit seiner Lebenswirklichkeit zu tun hat.
Da viele psychische Erkrankungen schambesetzt sind,nehmen viele die falschen Zuweisungen an,wagen nicht,sich zu wehren,wie auch---das System ist mächtig.
Diese Macht stellt der Autor in Frage.
Ich kann nur ohnmächtig zur Kenntnis nehmen,dass eine mächtige Interessenvertretung an die biologischen Ursachen von Depression und Psychose,an Bipolärität glauben will.
Gefäschte und geschönte Studien,da wo Geld und Macht winken,da ist ein System anfällig.
Prof.Dörner sagt in einem Beitrag: Nicht alles schlucken:wenn alle das so gemacht haben mit der Hochdosierung der Mehrfachdosierung,dann kann es doch so falsch nicht gewesen sein.
Dann aber sagt er voller Betroffenheit: wir haben Patienten auch unglaubliches Leid zugefügt,welches wir durch chemische Substanzen ausgelöst haben.
Allein die Quellenliste des Buches umfast 26 eng beschriebene Seiten!
Ausblick für die Zukunft ist u.a. die Gemeindepsychiatrie,aufsuchende Psychiatrie,wo der Patient "Gastgeber" ist,Hometreatment,und endlich Wiederaufbau des vorhandenen Möglichkeiten,Freunde,Familie,Nachbarschaft,Arbeit und andere Kontakte.
Soziale Bindungen werden in den Mittelpunkt gestellt,und nicht Defizite,die dem Kranken nur noch mehr das Gefühl geben,wertlos und hilflos zu sein.
Einbindung statt Ausgrenzung.
Die These,dass psychische Zusammenbrüche viel eher durch Traumatisierungen und Stressoren
bedingt werden,als durch Genetik und biologischen Ursachen,das hat mich überzeugt.
Aber dazu muss man den Patienten wichtig nehmen,mit ihm sprechen----und fragen: was ist passiert,wie war und und ist dein Leben,was hat
dich aus der Bahn geworfen,was ist so traumatisch,dass nur der Rückzug in eine Psychose bleibt.
Warnung vor chemischen Manipulationen,was Medikamente letztlich immer sind,das habe ich sehr ernst genommen und mir wurde klar,dass ich mich durch Antidepressiva zeitweise in eine Hypomanie "geschossen" habe.
Die wurde dann mit so vielen zusätzlichen Medikamentengruppen angegangen,von denen ich einige immer noch nehmen muss.
Absetzprobleme sollten ernst genommen werden,und entsprechene Abdosierungen müssen sehr eng begleitet werden,sie können wegen der zusätzlichen Dopaminrezeptoren uns in eine Psychose schießen.
Das ist gefährlich,daher wäre auch hier im Forum die fachliche Information über Medikamentenabdosierung ein wichtiges Thema und ein sehr wichtiger Auftrag.
Menschen mit psychischen Problemen sind nicht wegen ihrer Hirnchemie krank geworden,sie sind vom Leben "erschlagen" worden,durch Mobbing,Schicksalschläge,durch Missbrauch und,oder durch andere Traumata.
Medikamete werden gebraucht,zur ganz kurzfristigen Intervention,zum Auffangen suizidaler Krisen,aber nur für einen Moment,dann braucht es ein multiprofessionelles Team,dass gemeinsam einen Weg mit dem Patienten geht,ganz wichtig sind da Genesungsbegleiter und Angehörige,denen man endlich erklärt,dass Psychiatrie kein "zweites Leben auf Zeit" ist.
Arbeit,weil sie sinnstiftend sein kann ist ein so wichtiger Stützpfleiler,der nicht aufgeben werden darf,der geschützt gehört,der Bestand haben muss und nicht die bisher oft übliche "geschützte Werkstatt", die Frühverrenntung als einzige Möglichkeit,das sind Beleidigungen von Menschen,die vielfältige Talente haben,wie jeder andere Mensch auch.
Gehirne von psychisch Kranken funktionieren nicht anders als die von jedem anderen Menschen auch,es gibt keine Beweise für die angeblichen Unterschiede,das haben unabhängige Studien bewiesen.
Diagnosen sind nichts mehr, als Schubladen,als Konstrukte in der Sprache von Psychiatern.
Wer glaubt,das alles stimmt nicht,dem kann ich das Buch nur ans Herz legen.
Es ist,wie schon gesagt kein Anfängerbuch:Unglück auf Rezept, ist ein Anfängerbuch,wer dann mehr wissen will,wer tiefer einsteigen möchte und sich die Mühe macht,schwierige Sachverhalte zu begreifen,der kann mit der Vermessung der Psychiatrie viel erfahren,aber auch einen guten Blick in eine bessere Zukunft bekommen.
anna54
riverflow
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von riverflow »

Abgang des Schizophrenie-Experten Loren Mosher:
"Am 4. Dezember 1998 eröffnete der Gründer des alternativen Soteria-Behandlungskonzepts der American Psychiatric Association seinen Austritt aus der Berufsvereinigung, der er fast 30 Jahre angehörte. In einem offenen Brief an die APA sind die Gründe für den Austritt aufgeführt... "
"Der Hauptgrund für diesen Schritt [meinen Rücktritt] ist meine Ansicht, dass ich tatsächlich von der 'Amerikanischen Psychopharmakologischen Vereinigung' zurücktrete. Glücklicherweise bedarf die wahre Natur der Organisation keiner Änderung ihres Akronyms. [...]
An diesem Punkt der Geschichte ist die Psychiatrie meiner Meinung nach fast gänzlich von den Pharmafirmen übernommen worden [...]
Wir versuchen nicht länger, Menschen ganzheitlich in ihren sozialen Umständen zu verstehen. Wir sind viel eher dazu da, die Neurotransmitter unserer Patienten neu auszurichten. Das Problem ist, dass es sehr schwierig ist, mit Neurotransmittern eine Beziehung zu haben - in welcher Konfiguration auch immer. [...]
Ich kann nicht an das gegenwärtige biomedizinisch-reduktionistische Modell glauben, das von der psychiatrischen Führerschaft verkündet wird und uns einmal mehr mit der somatischen Medizin verheiratet. Es geht hier um modische Sitten, Politik und - wie im Fall der Pharma-Verbindungen zu unserem Haus - um Geld. "
(aus Neuromythologie von Felix Hasler)
Bittchen
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von Bittchen »

Liebe Anna,

es ist unglaublich was Macht und Gier,nicht nur bei depressiven Menschen, so anrichten kann.
Ich bin es müde hier darauf aufmerksam zu machen,das habe ich ja schon sehr oft gemacht .
Ganz wenige Unterstützer sind hier,außer riverflow und dir fällt mir spontan Niemand ein,der sich traut dieses Thema öffentlich zu machen in diesem Forum.
Aber ich bin dankbar,dass du das Thema hier eröffnest und davor warnst, nicht alles zu schlucken.
Meine Erfahrung ,genau wie deine,sind gezeichnet durch viele Jahre Medikamente.
Ich mag es nicht zu Ende denken,dass es der Fall sein könnte ,dass wir bewusst krank gehalten werden,nur aus Profitgier der Pharmaindustrie.
In diesem Forum halten sich die Fachleute sehr zurück,ein "Thor der da Falsches denkt."
Auch ich habe mich in die Hypomanie geschossen zeitweise,das ist jetzt vorbei,da hatte ich ganz großes Glück.
Allerdings wusste ich lange nicht,wie es ist,"normal"zu fühlen und zu handeln.
Heute,da es mir ohne Ads besser geht ,habe ich manchmal Angst es könnte eine Manie sein.
Klar ,es geht mir auch jetzt nicht immer nur gut.Gerade heute,sprach meine Tochter aus Berlin mit mir am Telefon darüber,wie positiv sie mich in letzter Zeit erlebt.
Die depressiven Schübe sind bei dir lange nicht mehr so tiefe Abstürze wie früher,das sagte sie wörtlich.
Was hat mir das Vertrauen in die Ärzte nur angetan ?
Vielleicht weiß es die Mehrzahl der Behandler nicht besser,ich möchte das gerne glauben.
Durch meine AA Freunde war ich etwas aufgeklärter und ich habe, außer Ads, immer abgelehnt noch weitere Medikamente zu nehmen.
Da hatte ich Glück im Unglück.
In der Gruppe wurde schon vor 26 Jahren vor Psychopharmaka gewarnt ,es gibt da auch Medikamentenabhängige und doch bin ich darauf herein gefallen,weil es mir sehr sehr schlecht ging,nachdem ich trocken wurde.
Vorher war ja der Alkohol mein Antidepressiva,auch mit sehr starken Nebenwirkungen .
Am Anfang war die Pille ja auch nicht nur schlecht und ich habe gedacht die Ads würden mir helfen,weil es mir kurzfristig besser ging.
Aber durch die vielen Rückschläge kamen mir Zweifel und dann wurde von den Ärzten gesagt:"Selber Schuld,warum haben sie ihre Ads abgesetzt ,jetzt haben sie die Quittung."
Heute habe ich die Tortour des Absetzen hinter mir,auch da hatte ich Glück,dass ich nur eine Substanz ausschleichen musste.
Mein erstes Buch war auch "Unglück auf Rezept"dadurch fing ich an mich schlau zu machen.
Die Nebenwirkungen und Spätschäden reichen mir aber auch ohne weitere Substanzen schon.
Erst nach 15 Jahren Ads hatte ich mir durch Eigeninitiative einen Therapeuten gesucht.
Meine ärztlicher Psychologe damals in der Instituts-Ambulanz der Klinik, hatte es nicht für nötig gehalten mir zu sagen,dass die gelegentlichen Gespräche mit ihm nicht ausreichten.
Denn ich habe ja brav das Zeug geschluckt,die Nebenwirkungen immer wieder neu ertragen und wurde so weiterhin abhängig gehalten.
Meine private Krankenversicherung hat evtl.auch eine Rolle gespielt,obwohl ich da keine sonstigen Vorteile gesehen habe,eher den Nachteil ,dass meine Rezepte sein Budget nicht belastet haben und ich problemlos die teuersten Mittel verschrieben bekam..
Bei der Suche eines Psychotherapeuten hatte ich sehr großes Glück,weil die Freundin meiner ältesten Tochter Psychotherapeutin ist und sie mich an einen Kollegen empfohlen hat.
Aber auch die Psychotherapeuten waren damals der Meinung,dass es ohne Medikamente nichts geht.
Bei mir war das so.
Die Werbung der Pharmafirmen stand überall in den Praxen rum.
Wie das heute ist,weiß ich nicht,denn ich habe schon länger keine Psychiatrie- Praxis mehr von innen gesehen,Toitoitoi.
Es wird noch sehr lange dauern bis da ein Umdenken bei Ärzten,Therapeuten und nicht zuletzt auch der Patienten passiert.
Denn wem soll man noch trauen,wenn nicht den Behandlern?

Sei herzlich gedrückt und ich hoffe dir geht es einigermaßen.
Ganz liebe Grüße
deine Bittchen
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aikido_1987
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von aikido_1987 »

Hallo alle zusammen,

das sind Zeilen die mich sehr nachdenklich stimmen. Ich bin auch sehr alternativ und hadere mit den Medikamenten, aber habe den Absprung noch nicht geschafft, bzw. kam nach dem Absetzen immer eine tiefe Krise. Jeden Tag wo ich die Tabletten in die Hand nehme, denke ich, ich will sie nicht mehr schlucken, aber habe auch Angst das es mir ohne wieder schlechter gehen könnte. Sie haben mir immer aus der Krise geholfen.

Ich glaube auch, das die Pharmafirmen Medikamente produzieren, die nicht gesund machen sollen, weil dann wir als Kunden abhanden kommen. Die Nebenwirkungen belasten mich sehr.
Ich habe jetzt die Dosis von mir aus runter gesetzt und bis jetzt geht es mir gut damit.
Spätestens wenn es mal wieder um Familienplanung geht, werde ich eine entgültige Entscheidung treffen/ treffen müssen.
Ich wünsche mir für die Zukunft, das ich auch mal den Absprung von der Psychiatrie schaffe.

Herzliche Grüße,
aikido
Regenschirm
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Registriert: 23. Jul 2019, 13:26

Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von Regenschirm »

Ihr Lieben,
Ich finde diese Diskussion sehr spannend. Das Buch werde ich womöglich lesen. Es fällt mir nicht schwer, mir vorzustellen, dass die Pharmaindustrie an Macht und Geld interessiert ist und nicht so sehr an dem Wohlergehen der Menschen. Leider ein Phänomen, was sich in vielen Bereichen widerspiegelt. Weiterhin finde ich es sehr gut, kritisch zu hinterfragen. Und bestimmt ist es so, dass der Rezeptblock viel zu schnell gezückt wird.
Ich glaube auch, dass schwierige und unangemessene Erfahrungen dazu beitragen, sich emotional instabil zu entwickeln.
In meiner Kindheit war mein vorrangiges Gefühl ANGST. Einen Suizidversuch machte ich mit 15 Jahren. Ich erinnere mich noch an das tiefe Entsetzen, als ich wieder wach wurde. Dann griff ich mit 15, 16 Jahren zu Alkohol und Drogen. Ich konnte im Sommer 1990 endgültig kapitulieren und wurde trocken. Bis dahin bestimmten weiterhin Angstgefuehle mein Leben. Die ließen allerdings auch nicht nach, als ich trocken war. Ich ging zu den AA Gruppen, ohne die ich nicht trocken geblieben waere. Ich begann Therapien zu machen und lernte meine Gefühle aufzudroeseln. Nach 10 Jahren Trockenheit, in denen ich die Einnahme von ADs ablehnte, wurde ich akut in eine Klinik eingewiesen. Auch da wurde mir kein Medikament angeboten. Ich verweilte 10 Wochen und wurde 10 Wochen lang gefragt, was ich braeuchte.Das tat sehr gut. Und ich sah Licht am Horizont. Trotz Therapien und vielen alternativen Heilmethoden blieb meine Gefuehlslage völlig instabil. Ich war in einem hohen Maß unsicher, ängstlich, depressiv, gereizt, fuehlte mich minderwertig etc....irgendwann als ich bei meiner damaligen Hausärztin war und mich beschrieb wie eine Plastiktüte die schmutzig und zerknautscht an dreckigen Boden liegt und auf die jeder tritt, verschrieb sie mir Fluneurin. Ich sollte aber dringend einen Psychiater aufsuchen. Ich lernte dann eine Gefuehlslage kennen, die ich noch nie in meinem Leben gefühlt hatte. Ich war dermaßen verblüfft, dass ich das erleben durfte, dass ich es schon fast ein Verbrechen fand, das depressiven Menschen vorzuenthalten. Wie an anderer Stelle schon gesagt, ich komme mit einem AD hin und habe keine Nebenwirkungen. Jedenfalls nicht das ich wuesste. Da hab ich vielleicht Glueck im Unglück gehabt.Ich glaube, dass was ich braeuchte, um mich psychisch gesund zu fuehlen, kann ich gar nicht nachholen.es ist einfach ein sehr schwieriges Thema und ein Austausch erscheint mir in allen Bereichen sehr wichtig. Und es ist natürlich ein Drama, wenn Menschen so viele Medikamente ausprobieren und ueberhaupt keine Erleichterung finden. Tom Bschor hat darüber geschrieben, dass die Wirkstoffe sich alle ähneln und wenn eines nicht funktioniert, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass andere Medikamente auch nichts bringen.
Ich wünsche allen einen friedlichen Sonntag.
Herzliche Grüße
Regenschirm
yellohmellow
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von yellohmellow »

anna54 hat geschrieben:Hallo zusammen

Ausblick für die Zukunft ist u.a. die Gemeindepsychiatrie,aufsuchende Psychiatrie,wo der Patient "Gastgeber" ist,Hometreatment,und endlich Wiederaufbau des vorhandenen Möglichkeiten,Freunde,Familie,Nachbarschaft,Arbeit und andere Kontakte.
Soziale Bindungen werden in den Mittelpunkt gestellt,und nicht Defizite,die dem Kranken nur noch mehr das Gefühl geben,wertlos und hilflos zu sein.
Einbindung statt Ausgrenzung.
anna54
Hallo Anna,

Bei Deiner Rezension des Buches „Die Vermessung der Psychiatrie“ vermisse ich leider kritische Anmerkungen zu dem Buch.

So wird im Abschnitt über Gemeindepsychiatrie so Einiges falsch dargestellt. Der Autor schreibt dazu, die Beteiligten an der damaligen Enquetekommission zur Reform der Psychiatrie hätten vorwiegend deshalb für die Neuausrichtung plädiert, um ihre eigene Karriere voran zu treiben. Diese Aussage ist nicht wahr. Der von Dir zitierte Klaus Dörner war damals Mitglied der Kommission und hat in den Achtziger Jahren maßgeblich die Gemeindepsychiatrie vorangetrieben. Als Leiter der damaligen Klinik in Gütersloh, in der es große Langzeitstationen gab, hat er erfolgreich diese Stationen auflösen können, weil die Patienten Wohnungen in Ihren Heimatgemeinden bekamen. Zudem wurden innovative Freizeit- und Arbeitsstätten eingerichtet, wo ehemalige Patienten Freizeit und Arbeit in einer sehr individuellen Weise ausüben konnten. Ich war damals als Diplompädagoge im Team von Klaus Dörner und habe beim Aufbau der Gemeindepsychiatrischen Angebote mitgewirkt. Von daher weiß ich, daß er selbst immer sehr bescheiden gelebt und sehr viel Geld gespendet hat, um beim nicht immer einfachen Aufbau der neuen Einrichtungen mitzuhelfen. Dies geschah nach meiner Überzeugung nie aus der Überlegung heraus, seine Karriere voranzubringen.

Auch die Darstellung, alles „westliche“ sei irgendwie anrüchig und man solle sich doch an den „Wilden“ ein Vorbild nehmen sehe ich sehr kritisch. Ich möchte nicht in eine Welt des Mittelalters zurück, wo es Scharlatane statt Ärzte gab und die Lebenserwartung des Menschen erheblich unter der heutigen lag. Natürlich ist vieles von dem, was heute in der Psychiatrie passiert, kritisch zu sehen. Besonders auch, und da gebe ich dem Autor Recht, in der heutigen Gemeindepsychiatrie. Viele dieser Einrichtungen sind ausgerichtet auf Wirtschaftlichkeit. Das führt dann dazu, daß Menschen, denen es möglich wäre, sog. geschützte Arbeits- oder Wohnverhältnisse zu verlassen, kaum eine Chance dazu bekommen. Ich habe selbst noch vor ein paar Jahren miterlebt, daß ein junger Mann mit einer psychotischen Erkrankung bereits für ein neu errichtetes Langzeit-Wohnheim vorgesehen war, obwohl er, auch durch die Fortschritte in einer Rehaeinrichtung, in der Lage war, selbstbestimmt zu leben. Damals konnte ich das verhindern, weil ich die Schwester des jungen Mannes dazu ermuntern konnte, gesetzliche Betreuerin zu werden. Heute lebt der junge Mann selbstständig und wird ambulant behandelt. Mittlerweile ist er verheiratet und ist Vater geworden.

Das Buch ist sicher lesenswert, allerdings sollte man ergänzend dazu ein sozialpsychiatrisches Standardwerk wie das von Klaus Dörner „Irren ist menschlich“ lesen.

LG yellohmellow
Bittchen
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von Bittchen »

Den Hinweis von Regenschirm auf das Buch von Tom Bschor finde ich sehr interessant.
Kriege es leider nicht hin den Link dazu hier rein zu setzen.

Lg Bittchen
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Bittchen
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von Bittchen »

Lieber yellohmellow,

ich kenne das Buch nicht und habe auch alle Achtung vor deinem Fachwissen durch deinen beruflichen Werdegang.
Da kann ich nicht mithalten.
Ein Hinweis von mir ist ,hier ist ein Forum für Betroffene von einer depressiven Störung.
Für weitere psychische Störungen ist wohl eher der der Austausch in den Foren richtig,die über eigene Erfahrungen verfügen.
Da können auch sehr gut die Meinungen über entsprechende Psychopharmaka,Neuroleptika usw. weiter gegeben werde.
Es ist gut zu lesen,wenn auch psychotische Patienten wieder ein gutes Leben, durch die richtige Behandlung, führen können.
Das wird ja nicht bestritten,aber auch da gilt,so viel wie nötig und so wenig wie möglich.
Durch meinen Bekanntenkreis kenne ich zwei Fälle,da wurden zwei Jugendliche mit Schizophrenie mit den Psychopharmaka zu Zombis gemacht ,sie waren dadurch aber sehr pflegeleicht.
Der Leidensweg war schon sehr schwer mit anzusehen,beide waren vorher Drogensüchtig,was ja schon ein Drama und eine Krankheit für sich ist.
Jedes Ding hat zwei Seiten.
Der Eine lebt heute mit sehr viel weniger Chemie auf einem Bauernhof im betreuten Wohnen und ist verhältnismäßig glücklich.
Es ist Schulfreund meiner jüngsten Tochter,sie haben oft Kontakt,wenn er hier seine Eltern besucht.
Der Andere hat es nicht geschafft und lebt im Pflegeheim.
Den Eltern dieses Jungen geht es leider auch sehr schlecht.
Wir treffen uns hin und wieder,weil wir durch unseren eigenen Weg mit unser jüngsten Tochter auch viel Hilfe erfahren haben.
Sehr dankbar bin ich heute,dass sich bei unserer Tochter kein noch schwerer zu behandelndes Krankheitsbild,außer Depressionen ,entwickelt hat.
Sie hat keine Psychopharmaka verordnet bekommen und war in einer sehr guten Fachklinik, sehr lange in Therapie!!!!
Ihr geht es im Moment gut, ihr Weg war nicht einfach.
Wichtig ist,was am Ende dabei raus kommt.
Es gibt nie nur den einen Weg,aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.

Das heißt jetzt nicht,dass sich hier nicht auch Menschen mit andere Krankheitsbilder beteiligen können.
Wer will das kontrollieren?
Wie man lernen kann besser mit psychischen Störungen umzugehen, ist ja oft auch gleich.
Ohne das da Medikamente eine Rolle spielen sollten.

Leider ist es oft so,das depressive Patienten Psychopharmaka verordnet bekommen,viel hilft viel,die eher schaden wie nutzen,das ist ein echter Skandal !!!
Mir geht es heute ohne Ads besser,meine Diagnose ist,chronische Depressionen oder auch rezidivierende Depressionen,,Dysthymie,double Dysthymie,da streiten sich die Gelehrten.
Was ich da in den vielen Jahren schon so gehört habe, geht auf keine Kuhhaut..
Der Weg ohne Psychopharmaka leben zu wollen und auch zu können, war auch für mich nicht nicht einfach,das solltest du mir glauben.

Liebe Grüße
Bittchen
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yellohmellow
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von yellohmellow »

Bittchen hat geschrieben:Lieber yellohmellow,

ich kenne das Buch nicht und habe auch alle Achtung vor deinem Fachwissen durch deinen beruflichen Werdegang.
Da kann ich nicht mithalten.
Ein Hinweis von mir ist ,hier ist ein Forum für Betroffene von einer depressiven Störung.
Für weitere psychische Störungen ist wohl eher der der Austausch in den Foren richtig,die über eigene Erfahrungen verfügen

Liebe Grüße
Bittchen
Hallo Bittchen,

Nur zur Klarstellung: ich bin genau wie Du und die Anderen hier depressiv erkrankt. Das trifft ja eben auch Menschen, die zuvor beruflich damit zu tun hatten.

Deine Abgrenzung von anderen psychischen Krankheiten würde ich so nicht mittragen wollen. Viele der Betroffenen haben neben der Depression auch noch weitere Diagnosen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Phobien oder auch Psychosen. Sollen die hier nicht schreiben dürfen?

Es ging mir bei meiner Einlassung auf die Beschreibung des Buches darum, dass auch Kritik erlaubt sein sollte, selbst wenn es lesenswert ist. So wie Anna es beschreibt, fehlt mir leider diese kritische Auseinandersetzung.


LG yellohmellow
anna54
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von anna54 »

Hallo zusammen
danke für auch die kritischen Anmerkungen,ich muss mir Zeit nehmen,drauf zu antworten.
Bis bald
anna54
Bittchen
Beiträge: 5430
Registriert: 2. Feb 2013, 18:02

Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von Bittchen »

Hallo Yellohmellow,

wie schon geschrieben ,da gibt es auch spezielle Foren für die anderen psychische Erkrankungen.
Das soll keine Diskriminierung sein,aber der Austausch gerade über Psychopharmaka oder Therapien könnte da vollkommen anders sein nach meinem Wissenstand.

Ich weiß aber,dass auch Dr,Niedermeier ,einer der Moderatoren hier, schon darauf hin gewiesen hat.

LG Bittchen
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yellohmellow
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von yellohmellow »

@Bittchen
Ich weiß wirklich nicht, worauf Du hinaus willst. Es geht doch in diesem Thread von Anna um ein Buch.

Und das Buch beschreibt nicht nur Depression, sondern Psychiatrie allgemein. Wo ist da das Problem, wenn ich da Anmerkungen zur Gemeindepsychiatrie, wie sie im Buch beschrieben wird, mache. In dem Punkt unterstütze ich die Darstellung der heutigen Gemeindepsychiatrie ja sogar.

Falls Du etwas ganz Anderes meinst, erkläre es mir bitte mal.
Danke!

LG yellohmellow
Nico Niedermeier
Moderator
Beiträge: 2837
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von Nico Niedermeier »

Hallo von der Moderation, in diesem Falle wieder als Privatperson:-),
habe das Buch auch gelesen. Genau die gleiche Geschichte wie wir (Bittchen) das ja schon anderer Stelle diskutiert hatten. Weinmann ist einfach ein großer Freund der Sozialpsychiatrie und deshalb interpretiert er so ziemlich jeden Befund in diese Richtung und gegen die Biologische Psychiatrie..aber, damit steht er ziiieeemmlich alleine in der Psychiaterlandschaft. Ist also eher wieder ein politisches Buch (Die Sozialpsychiatrie, die einen Großteil der Ostpsychiatrie vor der Wende ausmachte wurde durch die Biologische Psychiatrie quasi abgeschafft, dies ist ein politischer Appell für diese Form der Psychiatrie)....
Beste Grüße
Nico Niedermeier
yellohmellow
Beiträge: 231
Registriert: 2. Mär 2019, 09:01

Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von yellohmellow »

@Nico Niedermeier

Die Sozialpsychiatrie hat sich bereits vor der Wende in der BRD etablieren können, ich sehe da keinen Zusammenhang.

Biologische und Sozialpsychiatrie müssen sich sich doch auch nicht einander ausschließen, ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Auffassung kommen.

LG yellohmellow
riverflow
Beiträge: 535
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von riverflow »

Geht es den Menschen denn besser seit der Biologisierung? Oder ist diese nicht genauso gescheitert?
Politisch kann ein Psychiater wohl seitdem mit anderen Fachärzten gleichziehen, indem er vorgibt, das Gehirn mit Medikamenten zu behandeln und keine Angst mehr haben muss z. B. von einem HNO-Arzt belächelt zu werden, indem er gesteht, die Psyche oder Erleben und Verhalten zu therapieren.
Aber hilft das den Menschen? Oder hat sich die Zahl derer, die vom Staat versorgt werden müssen, weil an Arbeit nicht mehr zu denken ist, seit dieser Biologisierung gar verdoppelt, wie Robert Whitaker in seinem Werk "Anatomy of an Epidemic" für das er den best investigative journalism award gewann, konstatiert?
Ich kann nicht sehen, dass es den Menschen seit der Dekade des Gehirns in irgendeiner Weise gutgehen würde, obwohl es fast schon selbstverständlich ist, aufjedwede widrige Zustände mit Pillen zu reagieren.
In 50 Jahren werden wir über die heutigen Theorien schmunzeln.
Nico Niedermeier
Moderator
Beiträge: 2837
Registriert: 21. Mär 2003, 11:10

Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von Nico Niedermeier »

@Yello..
Erstmal zur Begriffsklärung:

In den 60er, 70er Jahren, frühe 80er Jahre, gab es eine starke Strömung innerhalb der Psychiatrie, Psychische Erkrankungen als Folge gesellschaftlicher Probleme zu sehen (hieraus resultierend starke Einbeziehung soziologischer und pädagogischer Elemente in die Psychiatrie, Folge:Sozialpsychiatrie). Nicht zu verwechseln mit der gemeindenahen Versorgung psychisch Erkrankter (ebenfalls Sozialpsychiatrie).

In Folge der zunehemenden Möglichkeiten das Gehirn "biologisch" zu durchleuchten und zu verstehen (Stoffwechsel, Bildgebung, Genetik etc..) wurden dann ab den 80er Jahren so ziemlich absolut alle (und nach der Wende auch alle in der ehemaligen DDR) Lehrstühle durch Biologische Psychiater ersetzt.
UND: Weinmann spricht sich gegen die zunehmende Biologisierung und für eine wieder verstärkte Soziale- Ätiologieforschung in der Psychiatrie aus. Dies untermauert er mit einer (der gängigen deutschen Lehrmeinung nicht entsprechenden) Interpretation von Forschungsergebnissen. Also ist es ein klar politisches Buch...

Wenn Sie:https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/ aufrufen (die weltweit größte Wissenschaftsdatenbank), werden Sie aktuell hunderte von neuen Artikeln finden, die sich mit den biologischen Aspekten der Depression beschäftigen, aber so gut wie keinen, der sich mit den Fragestellungen von Weinmann beschäftigt (was ja wirklich auch sehr schade sein kann)...

Und mal ganz ehrlich, wenn man schon in den 80er Jahren in der Psychiatrie war (egal, ob als Betroffener oder als Behandler), dann ist das was seitdem erreicht wurde gigantisch..Ich kann mich z.B. noch an die "Chroniker Stationen" erinnern, in denen zehntausende Betroffene in ganz Deutschland ein nicht sehr schönes Leben führten. All diese Dinge gibt es nicht mehr. Und: Wer noch die Nebenwirkungen der alten ADs kannte, der weiss, wie segensreich die neuen sind. Abgesehen von den enormen Fortschritten der Psychotherapie in diesem Bereich. Auch hier wurde nahezu alles revolutioniert.

Und wer dies alles nur für eine moderne Lüge der Pharma- oder Psychotherapieindustrie hält, möge doch einfach mal die Entwicklung der Suizidzahlen in den letzten 40 Jahren in Deutschland googeln. Die haben sich definitiv unter diesem Regime halbiert, trotz starkem Bevölkerungszuwachses, insbesondere auch von traumatisierten Menschen. UND: Es gibt unzähliche Untersuchungen, Suizide in Deutschland haben in allererster Linie mit psychischen Erkrankungen zu tun..

Abgesehen davon @riverflow, haben Sie natürlich absolut Recht, in 50 Jahren wird man das trotzdem alles völlig absurd finden, aber das ist ja in allen anderen Bereichen des Lebens und der Medizin auch so..

Übrigens ist die Arbeit der Stiftung eine beinahe rein-sozialpsychiatrische..nahezu alle Projekte dienen dem Wissenstransfer, dem Empowerment von Betroffenen, nichtmedikamentösen Verfahren(Schlafentzug, Selbsthilfeprogramme im Internet) usw. Pharmaforschung gibt es keine!

Beste Grüße, noch einmal vom ganz privat schreibenden Moderator:-)
(Der KEIN biologischer Psychiater ist, sondern ein Verhaltenstherapeut)
yellohmellow
Beiträge: 231
Registriert: 2. Mär 2019, 09:01

Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von yellohmellow »

Nico Niedermeier hat geschrieben:@Yello..
Erstmal zur Begriffsklärung:

In den 60er, 70er Jahren, frühe 80er Jahre, gab es eine starke Strömung innerhalb der Psychiatrie, Psychische Erkrankungen als Folge gesellschaftlicher Probleme zu sehen (hieraus resultierend starke Einbeziehung soziologischer und pädagogischer Elemente in die Psychiatrie, Folge:Sozialpsychiatrie). Nicht zu verwechseln mit der gemeindenahen Versorgung psychisch Erkrankter (ebenfalls Sozialpsychiatrie).

In Folge der zunehemenden Möglichkeiten das Gehirn "biologisch" zu durchleuchten und zu verstehen (Stoffwechsel, Bildgebung, Genetik etc..) wurden dann ab den 80er Jahren so ziemlich absolut alle (und nach der Wende auch alle in der ehemaligen DDR) Lehrstühle durch Biologische Psychiater ersetzt.
Hallo,

Danke für die Begriffserklärung, ich hatte tatsächlich durch die Vorgeschichte des Threads den Schwerpunkt auf die Gemeindepsychiatrie gelegt, die ja auch ein Teil der Sozialpsychiatrie ist. Und die kann ja durchaus im Einklang auch mit der Biologischen Psychiatrie stehen.

Meiner Meinung nach sollte man heutzutage nicht mehr nur das eine oder andere anpeilen, sondern eine gute Mischung beider Ansätze, ähnlich wie es ja auch in der Psychotherapie geschehen ist, wo längst nicht mehr nur die „eine“ Methode angewandt wird.

Die Fortschritte in der Gehirnforschung sind doch ein Segen, genauso wie es hilfreich war und ist, was Sozialpsychiater wie Klaus Dörner durch ihre Forschung in die Debatte eingebracht haben. Eine Rückbesinnung auf die Naturvölker wie es Weinmann anstrebt, halte ich allerdings für nicht zielführend. Schon ein Blick auf die Zustände, die in den heutigen Entwicklungsländern im Gesundheitssektor herrschen, läßt das doch deutlich werden.

LG yellohmellow
GiseEli
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von GiseEli »

Guten Tag,

das besagte Buch habe ich NICHT gelesen,
aber mit Interesse hier annas Thread verfolgt.

Auch die Einlassungen der Moderation, Herrn Dr. Niedermeier.

Es tobt also nach wie vor ein Krieg zwischen dein einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen,
wie wo was welche Ursachen Seelische Störungen , seelische Krankeiten haben.
Und wie behandelt werden könne.

Was mich mal so ALLGEMEIN, je älter ich werde, zunehmend beschäftigt

sind folgende Fragen /Überlegungen.


Wir Menschen werden alle so geboreren, wie wir sind, in unserer Nationalität, eingebunden in Werten, mit genau unserem Körper, mit genau unserer intellektuellen Fähigkeiten, u.v.m

Allen gemeinsam ist____die rudimentäre menschliche Gestalt.


Was meine ich damit?

Alle Menschen, aber alle auch auf Gottes Erden sind nicht vollkommen.
Nicht nur geistig_seelisch. Auch körperlich. Auch Werte_mäßig.


WER eigentlich bestimmt, wie ein Mensch sein solle, was NOCH normal sei, was nicht???


In dieser postmodernen Gesellschaft kommt es mir vor, dass wirklich so ein Ideal_Bild
eines Menschen kreiert wird.
Wie sieht er aus,
Wie darf er seelisch empfinden,
Welche , also vorallem gesundheitliche Parameter muss er erfüllen, der Mensch, der normal ist.



Lachen da nicht die Hühner????


Wenn wir wirklich an Gott glauben oder gottähnlich

frage ich MICH,

warum gibt es dann all diese unzulänglichen Geschöpfe auf Gottes Erden,???
Hat die Schöpfung doch letztendlcih die Vielfalt der Lebewesen gewollt?

Eine solche moderne Gesellschaft, die viele Menschen also als rudimentär, als defizitär, gesellschaftlich, menschlich ,körperlich, seelisch, bezeichnet___________________muss sich auch am aktuellen Gesellschaftsbild bewerten lassen.


Es gibt nur ganz genau diese Menschen, wie sie halt alle sind im Moment.

edit: wäre es nicht wunderschön, eine Welt, eine Gesellschaft zu haben, die die allermeisten Menschen integriert, integriert hat, JEDER, eine JEDE an seinem /ihrem Platz im Leben.

Grüße GE
Jeder, der sich die Fähigkeit erhält,
Schönes zu erkennen,
wird nie alt werden.


Franz Kafka
yellohmellow
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von yellohmellow »

GiseEli hat geschrieben:Guten Tag,

WER eigentlich bestimmt, wie ein Mensch sein solle, was NOCH normal sei, was nicht???
In der Psychiatrie geht es nicht darum, zu bestimmen, was normal ist und was nicht. "Irren ist menschlich" ist der Titel des Standardwerks zur Sozialpsychiatrie von Prof. Dörner.
Es geht darum, worum es immer geht in der Medizin, um Heilung. Ich bin krank, weil ich nicht frei bin von Leid, so lautet die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Begriff Krankheit.

Auf Depression bezogen heißt das, ich bin Mensch wie jeder andere, aber ich leide an etwas, was mich belastet, mich fertig macht. Das hat nichts mit "normal" oder "unnormal" zu tun, jedenfalls in unserer heutigen Gesellschaft.

Natürlich gab es Zeiten, und gerade Du als älterer Mensch solltest das wissen, wo das mal anders war. Ich meine die Zeit, als Hitler und seine NSDAP an der Macht war. Da wurden Menschen, die z.B. wegen Krankheit oder Behinderung nicht so leistungsfähig waren, einfach aussortiert (Euthanasie). Diese Zeiten sind gottseidank vorbei, ich hoffe, für immer. Der Streit der Wissenschaftler um die Ursachen der Depression hat jedenfalls nichts damit zu tun. Im Gegenteil, nur der Diskurs bringt uns weiter, es gibt eben nicht nur die eine Wahrheit.

LG yellohmellow
GiseEli
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von GiseEli »

Hi miteinander :hello:
yellohmellow hat geschrieben: Ich bin krank, weil ich nicht frei bin von Leid, so lautet die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Begriff Krankheit.
Ja, liebe yellowmellow, diese Richtlinie kenne ich.
(Auch) dazu ließe sich eine Grundsatzdiskussion aufmachen.
Muss denn das Leben frei von Leid sein.

Gehört statt dessen nicht Vieles, was Mensch so erlebt, zum ganz allgemein Menschlichen, z.b. die Trauer nach Verlust, die Anstrengung und Erschöpfung , wenn ich mit meinem Beruf neu anfange, wenn ich ein Kind geboren habe, und es nun aufziehen will nach besten Wissen und Gewissen und noch Vieles mehr.

Und ist eben nicht DOCH, das was als gesund oder krank betitelt wird, durchaus ein Ausdruck der Gesellschaft, des Staatensystems, in welchem wir aktuell leben.
yellohmellow hat geschrieben:Natürlich gab es Zeiten, und gerade Du als älterer Mensch solltest das wissen, wo das mal anders war. Ich meine die Zeit, als Hitler und seine NSDAP an der Macht war. Da wurden Menschen, die z.B. wegen Krankheit oder Behinderung nicht so leistungsfähig waren, einfach aussortiert (Euthanasie).
Na, ja , diese menschenverachtende Diktatur damals, das 3. Reich, grauenvoll.
Auch Psychisch Kranke wurden vergast, ich sags mal so krass, auch Schwule wurden in KZs interniert, und Viele mehr.

Es war eine grausame Zeit, so wie Diktaturen immer grausam sind.

Wie glücklich können wir uns schätzen, in einer relativ stabilen Demokratie zu leben, in welcher wirklich___ jedenfalls per Gesetz allen Menschen das Recht auf erfülltes Leben zugestanden wird.

Und doch stellt sich mir die Frage, woher eigentlich der ganze Optimierungswahn hier in unserer aktuellen Gesellschaft kommt.
DOCH, dazu gehört auch, dass immer mehr als Krankheit diagnostiziert wird, in diesem allgemeine Manuals.

So wird Trauer, auf jeden Fall in den USA, nach 3 Wochen als Krankheit diagnostiziert.
Auch hier bei uns in Deutschland, ist nach 6 Monaten schon die Rede davon, ob Trauer
jetzt pathologisch ist oder nicht.

Ebenso mit der Depression, wenn ich mehr als 3 Wochen bestimmte Symptome habe, bin ich erkrankt.
Ja um Himmels Willen, Körper und Seele sind doch eine Einheit.
Warum nach 3 Wochen schon an Depression erkrankt sein, wenn ich z.B. bei Liebeskummer wochenlang etliche Symptome entwickle?
Oder nach einem Todesfall.
Oder nach einem Autounfall.
Oder ...oder.

Immer alles HOPP HOPP schnell, schnell. Passend zur Schnelllebigkeit einer Gesellschaft.

Doch, auch Psychiater und Ärzte sind dem Zeitgeist unterworfen.

Da werden Werte rauf und runtergesetzt, was jetzt schon krankhaft sei, bzw. ab wann.
Wenn ich da alleine mal an die Blutdruckwerte denke, wie da ewig dran rumgemacht wird,
auch am Gewicht von Menschen.....und immer wieder werden diese Werte dann doch modifiziert, und immer werden irgendwelche Studien herangezogen, die das dann untermauern.

Die Psychiatrien in den 50er und 60er Jahren waren ein Graus. Bei Gott.
Und meine Elterngeneration, bzw auch oft noch in meiner Generation gilt, eine Psychotherapie zu machen als Eingeständnis, nicht ganz richtig im Kopf zu sein, und das Drohende einer Internierung damals im 3. Reich. wabert irgendwo mit rum im Unterbewussten.

Tatsächlich denke ich schon oft, dass es auch ein gesundes, ein bestimmtes Umfeld geben muss für den Menschen, damit Symptome und Krankheiten erst gar nicht auftreten.

Menschen mit als schwer diagnostizierten seelischen Erkrankungen können durchaus auch in einem geeigneten Umfeld ganz gut und zufrieden leben.
Ebenso wie Körperbehinderte.
Oder Menschen mit allen möglichen chronischen Erkrankungen.

Soweit mal meine Gedanken.
GE
Jeder, der sich die Fähigkeit erhält,
Schönes zu erkennen,
wird nie alt werden.


Franz Kafka
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von riverflow »

Hallo Herr Dr. Niedermeier,
danke für die Antwort und die Begriffserklärung.
Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass sie meinen Beitrag löschen und in dieser Voraussicht schreibe ich oft eher drauflos, ohne mir intensiv Mühe zu machen, weil das ja eine vergebliche Anstrengung gewesen sein könnte.

Ich denke nicht, dass es in allen Fachbereichen so ist, dass sich innerhalb von 50 Jahren alles ändert. Antibiotika z. B. sind schon sehr lange im Einsatz und wären es wohl auch noch lange, wenn sich keine Resistenzen entwickelt hätten.
In der Petrischale sehen zu können, wie Bakterien auf ein Antibiotikum reagieren, ist etwas anderes, als etwas "Schwammiges", wie Erleben und Verhalten, vermessen, kategorisieren und korrigieren zu wollen.

Selbst Hirnscans müssen ja letztendlich interpretiert und statistische Daten korrigiert werden, was durchaus eine Anfälligkeit für Fehler mit sich bringt, wie das bekannte Beispiel des toten Lachses im fMRT-Gerät gezeigt hat:

https://m.spiegel.de/spiegel/a-760220.html" onclick="window.open(this.href);return false;

Die Suizidzahlen in Deutschland und auch weltweit sind gesunkenen, während die Zahlen in Amerika, wo Antidepressiva sehr oft eingesetzt werden, hingehen extrem gestiegen sind.
Ich sehe die kausalen Zusammenhänge nicht wirklich.
Außerdem lässt es sich retrospektiv auch schlecht untersuchen, wieviel Prozent der S.... aufgrund von psychischen Störungen erfolgte. Eine Studie in der Allgäuer Region sieht den Hauptanteil in somatischen Erkrankungen:

"Die Allgäuer Studie zeigte auch, dass somatische, also körperliche Erkrankungen mit 26 Prozent Hauptgrund von Suiziden waren sowie chronische, belastende Erkrankungen mit Symptomen wie Schmerzen und Atemnot. Angeführt wird die Liste von Krankheiten des Kreislaufsystems, des Muskel-Skelett-Systems sowie des Bindesgewebes und des Nervensystems. Ein weiterer Grund für Suizide waren Depressionen. Diese kamen mit 23 Prozent auf Platz zwei. In 15 Prozent der Fälle waren Partnerschaftsprobleme das Motiv für die Selbsttötung."

https://www.br.de/nachrichten/wissen/we ... rd,RbamfIO" onclick="window.open(this.href);return false;

Dass die Arbeit der Stiftung überwiegend sozialpsychiatrisch ist, finde ich begrüßenswert. Ich kann mich nämlich noch an Zeiten erinnern, als hier pharmakritische Beiträge, wenn auch fundiert, nicht stehenbleiben durften.

LG
riverflow
yellohmellow
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Re: Die Vermessung der Psychiatrie,ein Buch wirft Fragen auf

Beitrag von yellohmellow »

GiseEli hat geschrieben:Hi miteinander :hello:

Tatsächlich denke ich schon oft, dass es auch ein gesundes, ein bestimmtes Umfeld geben muss für den Menschen, damit Symptome und Krankheiten erst gar nicht auftreten.

Menschen mit als schwer diagnostizierten seelischen Erkrankungen können durchaus auch in einem geeigneten Umfeld ganz gut und zufrieden leben.
Ebenso wie Körperbehinderte.
Oder Menschen mit allen möglichen chronischen Erkrankungen.

Soweit mal meine Gedanken.
GE
Liebe GiselEli,

Das, was Du beschreibst, bewegt uns Menschen schon lange. Erst kürzlich habe ich mich wieder mit dem Werk von dem Philosophen Ernst Bloch beschäftigt, im Zentrum seines Denkens steht das Prinzip Hoffnung.

Natürlich führen bestimmte Auswüchse unseres Gesellschaftssystems dazu, daß es einigen wenigen wirtschaftlich und oft auch gesundheitlich gut geht und vielen anderen nicht so gut. Bei vielen seelischen Erkrankungen ist nicht in erster Linie der Mensch, das Individuum schuld, sondern die Umstände, in denen er lebt.

Bloch sieht die Hoffnung, den Ausweg in der Menschlichkeit. Menschen sind nicht dazu geschaffen, von anderen Menschen ausgebeutet oder unterdrückt zu werden. Das macht uns nämlich krank.

Eine Gesellschaft, in der Menschlichkeit das oberste Gebot ist, wo es keine Ausbeutung, keine Unterdrückung gibt, ist auch für mich die große Hoffnung.

Aber das alles ist noch Utopie. Und solange es Utopie ist, müssen wir mit dem Leid leben und versuchen, es möglichst gering zu halten. Ich denke nicht, daß Leid nötig ist. Für uns gläubige Menschen ist die Utopie das Paradies. Dann ist kein Leid mehr da.

Aber noch sind wir nicht im Paradies, wir streben nur dahin, oder nicht? Und dann sollten wir versuchen, das Leid so gering wie nur möglich zu halten. Und warum nicht auch mit den Möglichkeiten, die uns die Wissenschaft bietet?

LG yellohmellow
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