Depression und Selbstbestimmung

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Sinnpflanze
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Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von Sinnpflanze »

Ihr Lieben,

lange habe ich nur passiv mitgelesen - aber jetzt gibt es ein Thema, das mir unter den Nägeln brennt.

Kurz zusammengefasst: 2017/18 bin ich durch die Hölle gegangen. Schwere Depression und Alkoholmissbrauch. Mein langjähriger Lebenspartner verliebt sich in eine andere. Zusammenbruch. Juli 2017 Einweisung in eine Klinik. Entzug. Fabrikarbeit mit Straffälligen im offenen Vollzug. Einvernehmliche Trennung nach 16 Jahren. Die Entscheidung, in ein Heim zu gehen. Daraufhin Suizidversuch auf dem Klinikgelände. Wechsel der Klinik, Umzug zu meinen Eltern in meine Heimatstadt 120 km entfernt. Bessere Klinik. Entlassung Ende August 2018.

Sich damit arrangieren, mit 41 Jahren wieder im Elternhaus zu leben. Meinungsverschiedenheiten, Stress, Anpassung. Dreimal die Woche ambulant in der klinikinternen Buchbinderei, Beginn einer ambulanten Psychotherapie. Zweimal die Woche Kundalini-Yoga. Unterschwellige Trauer um meine Beziehung und die Stadt, die mir 20 Jahre lang Heimat war. Die gemeinsame Wohnung. Um meinen Lebensmenschen.

Am 02. Dezember werde ich umziehen - in eine betreute 4er-WG der Awo. Ganz alleine zu wohnen traue ich mir nicht zu. Am Mittwoch war die Übergabe.

Hinterher saß ich mit dem Awo-Menschen in einer nahegelegenen Bäckerei bei einem Kaffee, und besprach mit ihm dies und das.

Er erzählte mir von der Betreuerin, die sich mir - voraussichtlich drei Stunden die Woche - zugesellen würde, um mich bei meinen Angelegenheiten zu unterstützen. Ehrlich gesagt, hatte ich noch nicht viele Gedanken darüber verloren, in welchen Bereichen genau - außer Ämterbegleitung - ich Unterstützung benötige, inwiefern sie mir hilfreich sein könnte. Das muss ich schleunigst nachholen.

Er erzählte weiter von möglichen Zukunftsperspektiven: Awo-Tagesstätte, Ehrenamt, Praktikum,... zur Tagesstrukturierung und Anpassung in einen gewöhnlichen Arbeitsalltag.

Ich hörte höflich zu, und war in Gedanken ganz wo anders: Mist, ich habe das Zimmer falsch ausgemessen - so kommt das mit den Möbeln nicht hin. Ummelden. Nachsendeantrag. Kuchen essen mit den künftigen Mitbewohnern, um sich kennen zu lernen. Wieder einkaufen gehen, wieder kochen. Kann ich das noch? Die Ausstellung im Dezember (ich habe in der Klinik viel gezeichnet, und werde einige Bilder in einem Cafe zeigen). Werde ich mich mit den Mitbewohnern verstehen? Meine AU läuft aus, ich brauche dringend einen Termin bei meiner Ärztin. Ich werde das Zimmer jetzt noch mal ausmessen...

Unruhig verließ ich die Bäckerei, verfiel in brütendes Grübeln - und wurde plötzlich zornig. Auf die unschuldige Betreuerin, die ich noch gar nicht kenne. Und überhaupt.

Mir wurde klar, dass ich mich seit über anderthalb Jahren im Dauerstress befinde. Die Trennung, der Entzug, meine Familie, die Klinik. Sicher verdanke ich dem langen Klinikaufenthalt einiges - ich bin seit Juli 2017 trocken, habe über 200 Bilder gezeichnet, erfuhr jede Menge Ablenkung durch Mitpatienten.

Aber ich war eben nie allein. Ständig Menschen um mich herum. Fremdbestimmung. Erst die Klinik, dann die Familie. Ein vorgegebener Tagesplan. Essen nach Uhrzeit, und nicht danach, wann ich hungrig bin. Ich habe es total verlernt, meine Zeit selbständig zu planen. Auf meinen Bauch zu hören. Zudem - trotz Stimmungsaufhellung - diese ständige Unruhe bei gleichzeitiger Erschöpfung. Ich würde mich so gerne mal wieder tagelang in ein Buch vertiefen. Lange, einsame Spaziergänge nicht nur aushalten, sondern auch genießen. Mal wieder allein sein. Urlaub von jeglichen Mühlen (wozu eine Tagesstätte oder ein Praktikum momentan auch zählen würden). Einen Tag im Schlafanzug bleiben.

Gesund werden. Mich selbst finden. Herausfinden, was ich will.

Könnt Ihr das nachvollziehen? Vertragen sich Selbstbestimmung und Depression?
fragt die Sinnpflanze
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Rainer Maria Rilke
Katerle
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Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von Katerle »

Hallo liebe Sinnpflanze,

das hast du alles sehr gut beschrieben. Und ja, dein Wunsch ist für mich nachvollziehbar nach Selbstbestimmung. LG Katerle
irma
Beiträge: 1002
Registriert: 25. Sep 2015, 18:06

Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von irma »

Liebe Sinnpflanze,

ich bin der Meinung, dass es ein sehr gutes Zeichen ist. Du sehnst dich nach Selbstbestimmung. Du hattest überhaupt keine Zeit, du selbst zu sein.

Du schreibst, einen Tag im Schlafanzug, essen wenn du Hunger hast, tagelang lesen usw.das schreit danach selbstbestimmt zu leben.

Sicher brauchst du die Zeit der Eingewöhnung. Du brauchst einen Job. Das braucht alles seine Zeit.. ich habe auch keine Ahnung, wie schwer das alles ist, wenn man ein Jahr in einer Klinik war. Doch ich glaube, du bist auf einem guten Weg.
Wenn sich deine soziale Situation auch noch geklärt hat, wirst du sicher wieder auf eigenen Füßen stehen können.

Hierfür wünsche ich dir alles Gute.

Liebe Grüße
Irma
artig musst du nicht sein; es reicht, wenn du grossartig bist. (dieter becker)
DieNeue
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Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von DieNeue »

Hallo Sinnpflanze,

ja, ich verstehe dich sehr gut und ich denke Depression und Selbstbestimmung passen auf jeden Fall zusammen! Ich finde deinen Wunsch, deine Zeit wieder selbstzubestimmen, sehr gut und auch total gesund. Es wäre blöd, wenn du auf Dauer in dieser Fremdbestimmung bleiben würdest und ich finde es auch wichtig, dass du es wieder lernst, dein Leben selbstzubestimmen. Denn das ist ja ein wichtiger Schritt raus aus einem "betreuten" Leben.

Ich war nach meinem durch die Depressionen bedingten Studienabbruch drei Monate stationär in der Klinik und habe danach auch wieder ein Jahr bei meinen Eltern gewohnt. Mittlerweile wohne ich seit ungefähr drei Jahren wieder alleine in einer eigenen Wohnung und es tut mir sehr gut. Ich werde von der Diakonie durch ambulant betreutes Wohnen unterstützt, d.h. es kommt ein-, zweimal die Woche eine Betreuerin zu mir und hilft mir, entweder durch praktische Hilfe oder durch Gespräche. Es war nicht einfach wieder alleine zu leben, denn ich hatte oft Ängste vor dem Einkaufengehen, war mit Kochen und Entscheidungen treffen oft überfordert, körperlich noch sehr erschöpft. Aber ich habe es trotzdem gut hingekriegt, eigentlich besser als gedacht. Meine Mutter hat anfangs befürchtet, sie müsste jedes mal mit mir zusammen einkaufen gehen. Am Anfang war ich mit meiner Betreuerin ab und an einkaufen, dann immer mehr alleine, was mich oft Überwindung gekostet hat, aber mittlerweile mache ich das alles selbst. Und es macht mir sogar Spaß ;)
Ich möchte jetzt auch nicht mehr zurück zu meinen Eltern und auch nicht mehr in eine Klinik. Denn da würden die Fähigkeiten und Routinen, die ich mir zurückerobert und erkämpft habe, sehr wahrscheinlich wieder verschütt gehen. Ich habe mir mittlerweile ein E-Bike zugelegt (habe kein Auto) und bin dadurch so viel unabhängiger von meiner Betreuerin und meiner Familie. Und diese Selbstständigkeit und Freiheit will ich mir nicht mehr nehmen lassen.

Klar denken viele Fachleute jetzt wahrscheinlich, jetzt hast du den letzten Schritt geschafft, dann kannst du gleich weiterplanen, überlegen was du als nächstes machen willst und gleich den nächsten Schritt gehen, keine Zeit verlieren.
Das Ding aber ist: Die letzten Jahre waren einfach nur Stress. Ich glaube, das vergessen viele Fachpersonen manchmal. Sobald man aus einer Maßnahme raus ist und in der nächsten ist, soll man wieder funktionieren und sich dort anpassen und mit"arbeiten". Weil ja die anderen Leute wissen, was gut für einen ist. Das war bei mir auch so. In der Klinik wurde mir sehr empfohlen, im Anschluss eine einjährige Langzeit-Reha zu machen. Als ich dann eine Probewoche dort machte, habe ich das Programm gar nicht durchhalten können, weil ich so erschöpft war. Jetzt im Nachhinein denke ich mir auch, dass die Reha genau das Gegenteil war von dem, was ich eigentlich brauchte. Mich endlich ausruhen dürfen, nicht mehr leisten müssen, nicht mehr vorgeschrieben zu bekommen, was ich wann wie schnell tun soll, nicht mehr permanent an mir arbeiten und weiterkommen müssen, sondern einfach sein können, mich ausruhen und machen, was ich will. Und seitdem ich alleine wohne und einigermaßen klarkomme, geht es auch aufwärts. Sehr langsam zwar, aber es wird besser. Die Gespräche mit meiner Betreuerin helfen mir dabei sehr.

Meine Betreuerin hat mal gesagt, dass die wenigsten Klienten im betreuten Wohnen sich verloren gegangene Fähigkeiten wieder zurückerobern. Bei vielen bestehe die Tendenz, sich dann nur noch auf die Hilfe des Betreuers zu verlassen, was auch ganz verschiedene Gründe hat (die ich auch nicht beurteilen kann und möchte).
Ich bin eher so, dass ich lernen will, Dinge wieder selber zu schaffen und nicht auf Dauer auf Hilfe angewiesen zu sein. Und zum Glück funktioniert das auch ganz gut. Ich finde es super, dass du eigentlich selbst bestimmen willst, wie du lebst, und eben nicht die Tendenz hast, in der Hilflosigkeit stecken zu bleiben.

Ich denke, es könnte ein gutes Ziel für die "Arbeit" mit deiner Betreuerin sein, zu lernen dir deine Zeit wieder selbst einzuteilen, zu schauen, was DU willst und zu versuchen das umzusetzen. Ich denke, man muss mit einem Betreuer nicht nur immer an den harten Fakten wie beruflicher Werdegang, Leistung, Vorgaben erfüllen etc. arbeiten, sondern auch daran, dass es dir persönlich gut geht und du zufrieden bist. Und Selbstbestimmung kann sehr viel Zufriedenheit bringen!

Als ich damals das betreute Wohnen angefangen habe, haben wir uns überlegt, wo ich genau Hilfe brauche und welche Ziele wir uns setzen. Da mussten wir einen Fragebogen ausfüllen, der dann an den Bezirk geschickt wurde (über den auch das Betreute Wohnen finanziert wird). Das muss man, glaub ich, einmal im Jahr machen. In diesem Bogen gibt es immer 5 Hilfebereiche, ich glaube Wohnen, Arbeit, persönliche Beziehungen, Freizeitgestaltung und Umgang mit der Krankheit. Bei mir haben wir z.B. im Bereich Arbeit keine Ziele und machen da auch nichts, weil ich alles andere als arbeitsfähig bin, also man muss sich nicht überall Ziele ausdenken oder sich unnötig Stress machen.
Und die anderen Sachen machen wir so aus, dass sie für mich passen und wenn ich es nicht schaffe, dann steht es eben im nächsten Bogen wieder drin. Beim Betreuten Wohnen ist es nicht so, dass man einen bestimmten zeitlich begrenzten Rahmen hat, um seine "Ziele zu erfüllen". Man hat eigentlich unendlich Zeit und man macht einfach in dem Tempo, das geht.

Ich würde am Anfang auch erstmal schauen, dass du dich gut einlebst in der Wohnung und wie deine Mitbewohner so sind und du die kennenlernst.

Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig helfen. Ich möchte dir auf jeden Fall Mut machen, DEINEN Weg zu gehen und wünsche dir eine gute Betreuerin, die dich versteht und dir so hilft, wie du es brauchst.

Liebe Grüße,
DieNeue
music_is_life
Beiträge: 140
Registriert: 9. Nov 2014, 16:31

Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von music_is_life »

"diese ständige Unruhe bei gleichzeitiger Erschöpfung" - japp, hatte ich auch. Bin seit über 6 Monaten weg von Medis. Dein Text klingt für mich, als würdest du dir sehr viele (vielleicht zu viele) Gedanken machen. Mich wundert es daher nicht, dass du mit Depresion zu tun hast.

Ich selbst habe das Alleinesein und damit das selbstbestimmte Leben extrem genossen. Ich weiß nicht, wie es ohne Medis gewesen wäre, aber während meiner Alleinsein-Zeit, in der ich mit der Depression und Therapie zu tun hatte, habe ich mich als ein einsamer, freier und irgendwie potenzialgeladener Wolf gefühlt.

Einkaufen war dennoch immer ein Abenteuer. Mein einziges Problem war, dass ich mich nach dem köprperlichen Kontakt mit einer Frau förmlich sehnte, somit reizte mich am Einkaufen immer das Flirten mit Frauen die - dem Einkaufskorb nach zu urteilen - offensichtlich alleine lebten. Also schon sehr Hormongesteuert. Der Trieb war immer stärker als die Depression - zum Glück. Aber ich wusste, dass ich mich nur als einsames Individuum am besten entwickeln konnte. So pendelte ich immer zwischen "sprich sie an" und "alleine geht's dir besser" hin und her. Letztlich siegte Ersteres. Und ich bin froh darüber. Partnerschaft bedeutet zusätzliche Verantwortung. Mir hat sie komischerweise gut getan.

Im Job lief damals alles scheiße, durch die Medis war mir das aber alles irgendwie egal. Hauptsache ich konnte das Minimum an Soll erfüllen, sodass ich dort nicht gekündigt wurde und meine Eigentumswohnung abzahlen konnte. "Scheiß Kapitalisten" denke ich noch immer. Aber ich kann die Geldgier verstehen. Immerhin habe auch ich teure Hobbies, die finanziert werden wollen.

Mich persönlich hat die Depression gelehrt, das Leben nicht zu ernst zu nehmen. Irgendwie gibt es immer einen Weg. Es geht immer irgendwie voran. Mein einziger Tipp, den ich jedem - egal welche Phase er/sie durchläuft - geben kann ist, sich selbst und den eigenen Bedürfnissen immer treu zu bleiben. Mache einfach, worauf du Bock hast, jedoch ohne deine Existenz zu gefährden. Das hat zumindest mir geholfen, mich von dieser kapitalistisch denkenden, leistungsorientierten, nach Materialismus und Kaufkraft lechtzenden und verblödeten Gesellschaft in meinem Umfeld zu arrangieren. Ich mache mein Ding. Ich gehe meinen Hobbies und dem nach, was mich erfüllt. Ich leiste ein Minimum an dem, was die Kapitalisten von mir erwarten und mich dafür entlohnen. Das reicht mir, um glücklich zu sein.
Irgendwann wenn ich Bock hab, reiße ich wieder etwas durch Hochleistung, aber nur temporär. Ich muss den Scheiß nicht aufrecht erhalten, bloß weil Andere vermeitlich "simultan über mir stehende Vorgesetzte" das von mir erwarten/verlangen. Deren schwächliches materialistisches Denken geht mir hinten rum vorbei. Ich mache es, wenn ich Bock dazu habe. Punkt. Passt denen nicht? Schmeißt mich raus oder gibt mir Anreiz, mich anders zu entscheiden.

Wie auch immer, wenn du Bock hast, tagelang ein Buch zu lesen - mache es! Jetzt! Diese ca. 80 Jahre Lebenserwartung sind zu kurz, um sie für andere Menschen zu verschwenden. Ja, deine existenziellen Pflichten, wie z. B. dich mit Nahrung und Unterkunft zu versorgen oder Eingliederungsmaßnahmen über sich ergehehn zu lassen sind schon ok. Sie können dir helfen, dich seblst in eine komfortable Zone zu bringen. Aber um richtig glücklich zu sein, musst du auf das Bedürfnis und Erwartung anderer Menschen leider scheissen. Entweder du lebst für dich, oder du lebst für andere. Ersteres finde ich angenehmer.

Daher scheiß auf Ex-Partner und das frühere Leben. Das Gehirn ist in der Lage, die alten Emotionen aus den Fokus zu bringen, wenn man sich nicht zu sehr daran aufhängt. Emotional verarbeitet man jede Partnerschaft, jeden Trauerfall und jedes Tief. Manche verarbeiten schneller, manche weniger schnell, was nur eine Frage der Zeit ist. Die Langsam-Verarbeiter klammern sich meist zu sehr an Ex-Beziehungen, von denen sie überzeugt sind, sie glücklich gemacht zu haben. In Wirklichkeit hat sie aber lediglich die Bestätigung, dass jemand einen liebt, glücklich gemacht. Genauso ist es mit dem Job. Ein Job macht dich nicht glücklich, es ist die Bestätigung, die dir suggeriert, dass du anerkannt und gebraucht wirst. Fakt ist aber: JEDER Mensch ist erstetzbar. Ob in einer partnerschaftlichen Beziehung, im Job oder in sonstiger Gemeinschaft. Wir sind keine einzigartigen Superhelden. Wir sind nur Ameisenhaufen, bei denen es nicht auffällt, wenn eine Ameise mal fehlt. Das einzige Glück des Lebens ist also das, was du persönlich beeinlfussen kannst. Und dazu gehört, dass du das machst, worauf DU Bock hast und nicht andere Menschen von dir erwarten.

Mir hat in der Depression geholfen, zu lesen, mich weiter zu bilden, mir meine EIGENE Meinung zu bilden und mich nicht von anderen lenken zu lassen.
Bittchen
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Registriert: 2. Feb 2013, 18:02

Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von Bittchen »

Liebe Sinnpflanze,

was du beschreibst ist nach meinem Empfinden eine typische Suchtkarriere, was ja eine schwere Depression nicht ausschließt.
Ich kann leider nicht beurteilen was eher da war.
Leider ist in manchen Kliniken oder Übergangseinrichtungen(nach dem Entzug) noch üblich straffällig gewordene Suchtkranke gemeinsam mit "nur" Suchterkrankten unterzubringen.
Die Straffälligen entgehen mit einer Suchttherapie dem Gefängnis.
Sehr umstritten mittlerweile diese Art der gemeinsamen Therapie.
Die Awo scheint sich ja sehr für dich einzusetzen und die ambulante Betreuung ist auch sehr hilfreich.
Diese Wohnform ist bei Suchtkranken sehr begehrt,schön dass du einen Platz bekommen hast und du mit deinen Mitbewohnern hoffentlich gute gegenseitige Unterstützung findest.
Es ist ja Alles mit deinem Einverständnis passiert,nehme ich an.
Ich kann dir nur empfehlen jede Hilfe von der Awo anzunehmen und vor allen Dingen trocken zu bleiben.
Denn das ist das erste Gebot.
Suche dir auch eine Selbsthilfegruppe für Alkoholkranke,das kann dich sehr festigen.
In jeder Situation,egal wie belastend ,traurig und schwer sie ist,nicht zu deinem Tröster Alkohol zu greifen, ist das Wichtigste überhaupt.
Mal einen Tag im Schlafanzug ist am Wochenende auch in einer Wohngemeinschaft möglich,genau wie ein Buch zu lesen.
Sehe diese vorübergehende Zeit als Chance ,mit viel Unterstützung der Awo ,wieder ein lebenswertes Leben führen zu können.
Gib dir Zeit und in kleinen Schritten wirst du dich sicherer fühlen .
Der Vergangenheit nachtrauern bringt dich nicht weiter,auch wenn ich sehr gut verstehen kann, wie dich diese schwere Zeit in deinem jetzigen Leben immer noch belastet.
Weiterhin alles Gute ,ich wünsche dir die Gelassenheit und die Geduld bis du die Kraft hast so viel zu ändern,dass du auch alleine leben kannst.
Gute 24 Stunden,es ist wichtig nur einen Tag so zu gestalten,so dass er für dich gut anfühlt.
Es ist ein langer Weg,ich hoffe für dich, dass du ihn erfolgreich gehen kannst.

Liebe Grüße
Bittchen
Jeder Tag ist ein neuer Anfang.
Sinnpflanze
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Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von Sinnpflanze »

Whow, vielen Dank für Resonanz und Bestärkung. Ihr seid klasse.

@DieNeue:
Mit Deinem Beitrag nimmst Du mir die Angst vor der Betreuung. Ich sollte es als Chance sehen, nicht als Bevormundung. Ich werde mit der Dame offen über meine Ängste sprechen, und ihr die Möglichkeit geben, mich erst einmal kennen zu lernen. Wichtige Baustellen, die wir gemeinsam bearbeiten könnten, sind momentan: Ämter und Supermärkte. Noch kriege ich Beklemmungen beim Einkaufen. Noch schlimmer ist es in Behörden. Und natürlich die selbständige Tagesgestaltung, auf die ich große Lust, vor der ich - nach all der Zeit - aber auch Angst habe.

@music_is_life:
Wasser auf meiner Mühle. Was in den vergangenen Jahren total verschütt gegangen ist: In meinem vorherigen Leben war ich ein sehr freiheitsliebender und kreativer Mensch. Trotz oder wegen der wiederkehrenden Depressionen. Schon als Kind mit rebellischen Anwandlungen.

Spätestens im geisteswissenschaftlichen Studium ist mir vom aufgeklärten Lehrkörper jede Menge Kapitalismuskritik eingepflanzt worden. Ich trage viel Wut in mir. Nach meinem Abschluss war ich - wenn die Krankheit es zuließ - freiberuflich tätig. Ich hatte ein kleines Schreibbüro und Lektorat. Häufig anstrengend, aber mit viel Lust und Freiheit verbunden. Ich war es immer gewohnt, mir meine Zeit selbst einzuteilen. Auch Kultur und Sport spielten dabei eine wichtige Rolle. Ganzheitlichkeit. Ähnlich war es in meinem Umfeld, das vor allem aus (verkrachten) Akademikern und Kunstschaffenden bestand. Kaum Geld, aber wir fühlten uns frei. Nebenbei bekämpfte ich - in guten Zeiten - die Agenda 2010, indem ich Verängstigte ins Jobcenter begleitete (traurig: Jetzt brauch ich jemanden, der mich begleitet).

Vollkommen klar, dass ich meine Freiheit überreizt hatte, als ich mit dem Trinken anfing - vermeintlich, um meine Lebenslust zu steigern (und Ängste in Schach zu halten). Und zur Selbstmedikation, um mich unabhängig von Psychiatern und Antidepressiva zu machen. Von da an ging es abwärts. Dennoch sehe ich mich nicht in einer nine-to-five-Festanstellung. Dazu fehlt mir die Kraft, und es würde mir die Luft zum Atmen nehmen. Das wäre nicht ich.

@Bittchen:
Ein wichtiger Grund für mich, in diese WG zu ziehen: Dort herrscht absolutes Alkoholverbot. Mit Erschrecken habe ich auf der Suchtstation den "Drehtüreffekt" beobachtet: Menschen kamen, blieben für drei Wochen, gingen in ihren gewohnten Alltag zurück - um ein paar Tage später wieder volltrunken aufzutauchen. Manche bis zu vier, fünf Mal im Jahr oder sogar öfter. Ein Alptraum. Mir wurde klar, dass eine radikale Änderung notwendig war, um dies zu verhindern. Ich entziehe mich komplett Situationen, in denen Alkohol im Spiel ist. Vielleicht wird es mir irgendwann gelingen, wieder eine Lesung zu besuchen, in der Rotwein getrunken wird, und selber entspannt eine Apfelschorle zu trinken. Aber noch setze ich mich dem nicht aus. Suchtdruck habe ich zum Glück nicht. Aber Unbehagen, andere beim Alkoholkonsum zu beobachten.
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Bittchen
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Registriert: 2. Feb 2013, 18:02

Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von Bittchen »

Liebe Sinnpflanze,

du wirst sehr viel entspannter werden,das verspreche ich dir,aber es wird eine Zeit dauern.
Das Stigma ist nach meiner Erfahrung bei Suchterkrankungen noch höher wie bei Depressionen.
Denn keiner, der nicht betroffen ist, kann verstehen dass man nicht so einfach aufhören kann oder dass ein Glas die Sucht wieder aufleben lässt und den Untergang bedeuten kann.
Damit umzugehen musste ich üben.
Das fängt schon an, in Cafes oder Eisdiele zu fragen, wo Alkohol drin ist,
damit ich nicht aus versehen was esse oder trinke was Alkohol enthält.
Das war für mich am Anfang sehr mit Scham besetzt.
Heute lache ich darüber,ich laufe nicht mit dem Schild vor der Brust rum,dass ich Alkoholikerin bin,aber ich bin lockerer geworden,es ist auch nur eine Krankheit.
Bei Ärzten z.B. erwähne ich immer,dass ich Suchtkrank bin,denn das bleibt das ganze Leben so.
Meist sind die sehr erstaunt,weil das gängige Bild von Suchtkranken ganz anders ist und es keiner mit mir in Verbindung bringt.
Sehr lange bestand mein engster Freundeskreis aus trockenen Alkoholikern.
Das sind aber nicht die besseren Menschen,in erster Linie bist nur du für deine Trockenheit verantwortlich.
Ich bin nicht militant,den ich kann ja nicht die ganze Welt trocken legen.
Aber ich passe immer noch sehr auf mich auf,aber es kann auch in meiner Gegenwart getrunken werden.
Nur wenn ich mich dabei nicht mehr wohl fühle, gehe ich weg.
Ich helfe heute noch gerne ,wenn Hilfe gesucht wird.
Das ist reiner Selbstschutz,denn auch ich kann wieder in eine Krise kommen.
Ich sage auch heute noch nicht, es kann mir nie wieder was passieren in der Richtung,denn keiner weiß was morgen ist.
Nur für heute kann ich mit Sicherheit sagen: " Ich trinke nicht"
Mittlerweile ist nicht " Trinken" für mich zur Selbstverständlichkeit geworden.
Allerdings sage ich noch heute, nach vielen Jahren Trockenheit und auch rezidivierenden Depressionen:"Wenn es schwierig wird,denke ich nicht an Milch."
Darum bleibe ich immer achtsam ,denn Sucht lässt sich nicht heilen,aber ich kann sehr gut ohne dieses falsche Lösungsmittel Alkohol leben.
Aber das ging nicht von heute auf morgen und braucht Zeit.
Du bist auf einem sehr guten Weg.
Mein Mantra ist immer noch geblieben:"Alles darf passieren,nur nicht trinken."
Glaube mir bitte,diesen Satz musste ich schon oft innerlich aufsagen,aber es hat bis heute funktioniert.

Alles Gute
Bittchen
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Sinnpflanze
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Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von Sinnpflanze »

Liebes Bittchen,

Du schreibst:
Bittchen hat geschrieben:Das Stigma ist nach meiner Erfahrung bei Suchterkrankungen noch höher wie bei Depressionen.
Oh ja. Meine Eltern, mit denen ich zur Zeit wohne, sprechen mich - obwohl sie Bescheid wissen - niemals auf das Thema an. Es ist einfach zu peinlich, ein Tabu. Nicht nur in der Hinsicht bin ich das schwarze Schaf in der Familie. Sie trinken sehr selten einmal ein Glas Wein oder ein Bier miteinander. Ich ziehe mich dann auf mein Zimmer zurück. Kein Wort darüber.

Abgesehen von der Familie habe ich Glück mit meinem Umfeld. Meine Freunde wissen Bescheid, ich bin für sie nicht die erste mit Suchtproblematik. Sie verurteilen mich nicht, und bieten mir auch nichts an.
Denn keiner, der nicht betroffen ist, kann verstehen dass man nicht so einfach aufhören kann oder dass ein Glas die Sucht wieder aufleben lässt und den Untergang bedeuten kann.
Am Ende meiner Beziehung das Dauerthema. Mein Freund, lange ein geübter Trinker, der wusste, wann er aufhören musste, appellierte immer wieder an meinen Willen - no chance. Er konnte lange nicht verstehen, dass ich in dem Punkt Hilfe brauchte, und die Sache nicht alleine in den Griff bekam. Viel Streit deswegen.

Was ich toll finde: Mittlerweile trinkt er auch nichts mehr. Der Schock über die Trennung war auch für ihn zu groß. Wir sind Freunde geblieben, und er kommt mich alle drei Wochen besuchen - so auch morgen. Wir werden schön essen gehen, und uns zum Essen ganz selbstverständlich Apfelschorle bestellen.

Lieben Gruß,
Sinnpflanze
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Bittchen
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Registriert: 2. Feb 2013, 18:02

Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von Bittchen »

Liebe Sinnpflanze,

wie ich aufhören wollte zu trinken und in eine Gruppe ging,
sagte mein Mann wörtlich:"Das kannst du mir doch nicht antun."
So viel zum Stigma.
Er meinte hin und wieder ein Gläschen,das könnte ich steuern,genau wie er.
So reagieren aber die Menschen ,die nicht wissen was Sucht bedeutet.
Nach ein paar Monaten ist mein Mann mit gegangen ins offene Meeting
und konnte endlich begreifen was Sucht bedeutet.

Heute einen guten Tag mit deinem Freund.

Liebe Grüße
Bittchen
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Sinnpflanze
Beiträge: 184
Registriert: 9. Aug 2018, 17:17

Re: Depression und Selbstbestimmung

Beitrag von Sinnpflanze »

Heute einen guten Tag mit deinem Freund.
Danke, den werden wir uns machen!

Vielen Dank auch für die anderen Beiträge. Durch den Austausch und das - geruhsame - Nachdenken darüber konnte ich ein bisschen runterkommen.

Mir ist es gestern zwar nicht gelungen, im Schlafanzug zu bleiben. Die dafür notwendige Atmosphäre gibt mein dynamisches Elternhaus einfach nicht her.

Aber dennoch fühlte ich mich nicht mehr so getrieben. Es ist mir gelungen, hier konzentriert zu lesen und zu schreiben. Außerdem habe ich gut zwei Stunden im Garten Laub geharkt (wegen der Bewegung, der frischen Luft, und um Vadderns operierte Hüfte zu entlasten). Viel mehr habe ich eigentlich nicht gemacht. Das tat gut.

Frostig draußen, aber vielleicht harke ich trotzdem noch eine Runde, bevor der Besuch kommt.

Einen schönen Sonntag Euch allen!
Sinnpflanze
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