Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

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letsDoThis
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Registriert: 17. Mai 2017, 22:14

Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von letsDoThis »

Liebe depressive Eltern, liebe Angehörige und Bekannte Depressiver mit Kindern

Als meine Mutter an schweren Depressionen erkrankte, war ich 13 Jahre alt. Eine der ersten Erinnerungen, die ich mit der Depression meiner Mutter verbinde, ist, wie sie eines Tages weinend von der Arbeit nach Hause kam und ich nicht fähig war, ihr zu helfen oder sie irgendwie zu beruhigen. Ich weiss noch ganz genau, wie ich mitbekam, wie sich meine Mutter veränderte. Ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, aber mir wurde nicht mitgeteilt, was los war. Meine Eltern hatten es unter sich ausgemacht, dass sie mich, ihre einzige Tochter, von allem, was die Depressionen betraf, fernhalten wollten, um mich so zu beschützen. Mir wurde durch die Entscheidung meiner Eltern indirekt kommuniziert, dass das nicht meine Sache sei, dass die Erkrankung meiner Mutter mich nicht zu beeinflussen – geschweige denn beschäftigen – hätte. Und ich tat, wie mir geheissen. Mein 13-jähriges Ich fing an, alles, was in meiner Familie abging, einfach abzublocken, wegzuschliessen.
Als Kind die eigene Mutter so leiden zu sehen, verändert etwas in einem. Obwohl ich ein pubertierender Teenager war, war ich auch die Angehörige einer Depressiven und hatte mich dementsprechend zu verhalten. Man fängt als Kind an, verzweifelt zu versuchen, irgendwie die eigene Mutter aufzumuntern, nimmt sich und seine eigenen Bedürfnisse stark zurück und dennoch verletzt man mit kleinsten Dingen die depressiv Erkrankte.
Seit einiger Zeit geht es meiner Mutter zum Glück wieder besser. Sie ist wieder aktiver und wirkt zufriedener und ausgeglichener und hat zum Glück auch wieder etwas zugenommen. Sie ist immer noch nicht ganz über den Berg, aber sie geht wieder einer neuen Arbeit nach, ist psychisch wieder einigermassen stabil und die Hoffnungslosigkeit hat abgenommen. Dennoch bin ich immer noch verletzt, wenn ich sehe, wie die unglücklichen Gesichtszüge sich in ihr Gesicht eingebrannt haben, wie Brandmale. Egal, was sie macht und wie es ihr geht, die nach unten zuckenden Mundwinkel offenbaren, was einmal war.
Jetzt, nach fünf Jahren Erkrankung blicke ich auf die Situation, wie sie für mich war zurück und sehe ein Minenfeld. Ich fange an, kognitiv und emotional zu verstehen, was genau alles während dieser Zeit passiert ist und der Schmerz darüber, was meine Mutter durchleben musste, ist omnipräsent. Ich hatte in diesen fünf Jahren lernen müssen, was es heisst, Schmerz zu verdrängen, und stehe jetzt in meinem Verarbeitungsprozess dort, wo ich vor fünf Jahren hätte sein sollen. Nach klärenden Gesprächen mit meinen Eltern habe ich angefangen, meine Schuldgefühle dafür abzubauen, dass ich mich nicht immer im Griff hatte, dass auch ich nicht mehr war als ein von der Situation überforderter Teenager. Trotzdem leide ich noch sehr an der Situation und habe ein Verantwortungsbewusstsein und Schuldbewusstsein während dieser Zeit entwickelt, das das normale Mass deutlich übersteigt.

Liebe Eltern, liebe Angehörige und Bekannte Depressiver mit Kindern

Bitte glaubt nicht, dass Ihr eure Kinder von der Erkrankung fernhalten könnt. Egal, wie sehr Ihr es probiert, Eure Kinder werden merken, wenn mit Mama oder Papa etwas nicht stimmt. Umso wichtiger ist es, dass Ihr offen mit Ihnen über die Erkrankung sprecht. Erklärt Ihnen, dass sie nichts dafür können, wenn es Mama oder Papa schlecht geht, dass (so habe ich es mal online gelesen und mir hat es sehr gefallen) Depressionen eine Krankheit sind und in diesem Falle – wie bei einem Arm oder Beinbruch – nur ein Arzt helfen kann. Ich weiss, wie beängstigend das klingt, und ich werfe meinen Eltern nicht vor, dass sie für sich persönlich einen anderen Weg gewählt haben, aber ich kann aus meiner Erfahrung Euch nur ans Herzen legen, dass darüber Sprechen die einzige Möglichkeit für Eure Kinder ist, mit den Depressionen umzugehen, sie zu verstehen und zu verarbeiten ist.

Alles Liebe und viel Kraft auf Eurem weiteren Weg...
Löwenzähnchen
Beiträge: 30
Registriert: 29. Apr 2017, 14:19

Re: Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von Löwenzähnchen »

Liebe letsDoThis,

als Mama von zwei Kindern möchte ich hier einfach mal Danke für Deinen Beitrag sagen!

Ich sehe das genauso wie Du, dass ein ehrlicher und offener Umgang mit den Kindern der einzig richtige Weg ist. Denn die Folgen der Erkrankung spüren Kinder, beziehen das Verhalten ihres kranken Elternteils aber auf sich, wenn sie die eigentliche Ursache nicht kennen.
Meine Tochter (10J) erzählt auch jetzt, 1 1/2 Jahre nach der Diagnose, immer mal wieder wie schlimm für sie die oft unberechenbaren Wutanfälle ihres Papas waren. Und dass sie froh ist, dass es jetzt anders ist, dass wir wissen, was los ist und ihr Papa Hilfe bekommt. Sollte sie jemals das Gefühl haben, dass sie mehr Unterstützung braucht als mit mir/uns darüber zu reden, würde ich mich darum kümmern.

Man kann Depressionen auch kleineren Kindern altersgerecht erklären, es gibt z.B. gute Bücher für Kinder. Das Medikament nennen wir "Antizombin" und die Tageslichtlampe die jeden morgen mit am Esstisch steht "Antizombi-Licht", weil "der Papa ohne in eine Art Zombi-Modus fällt" ;-) . Der Kleine ist 3 Jahre und er wächst einfach selbstverständlich damit auf. Da brauche ich gar nichts erklären, weil der Umgang mit der Erkrankung in den Alltag integriert ist und wir häufiger darüber reden.

Deine Eltern wollten sicher nur das Beste für Dich, auch wenn sie rückblickend keine gute Entscheidung getroffen haben. Das alleine aufzuarbeiten ist sehr schwer. Hast Du für Dich denn gute therapeutische Hilfe?

Ich wünsche Dir von Herzen alles Gute!

Liebe Grüße

Löwenzähnchen
DieNeue
Beiträge: 5551
Registriert: 16. Mai 2016, 22:12

Re: Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von DieNeue »

Hallo,

von mir auch ein Dankeschön an dich! Ich bin zwar Betroffene und auch keine Mama, aber ich merke auch im Umgang mit Freunden und Verwandten, dass es meistens das Beste ist, offen und ehrlich darüber zu reden.
Ich mache auch die Erfahrung, dass es anderen sehr hilft, wenn ich ihnen genau sage, was ich brauche (seitdem ich das auch langsam kann). Dass ich z.B. viel Rückzug brauche, aber dass das nichts mit ihnen zu tun hat oder wenn ich sehr schweigsam oder gereizt bin, dass das nicht automatisch heißt, dass sie irgendwas falsch gemacht haben. Oder wenn ich von einem Treffen früher gehe, es nicht heißt, dass ich keine Lust mehr auf sie habe. Im Gegenteil, sie freuen sich einfach, dass ich da bin. :-) Ich denke mit einem ehrlichen Umgang tut man sich und seinem Umfeld wirklich etwas Gutes.
Löwenzähnchen, ich finde es toll, wie ihr mit der Situation umgeht.

letsDoThis, ich wünsche dir, dass du dein großes Schuldbewusstsein abbauen kannst und wieder frei leben kannst. Alles Gute dir und danke nochmal für deinen Beitrag!

Liebe Grüße und gute Nacht,
DieNeue
letsDoThis
Beiträge: 7
Registriert: 17. Mai 2017, 22:14

Re: Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von letsDoThis »

Liebe Löwenzähnchen

Zuerst einmal ein herzliches Dankeschön für Deinen lieben Beitrag. Ich bewundere die Art, wie Dein Mann und Du mit der Situation und der Erkrankung umgehen. Ich bin sehr froh für Eure Kinder, dass Ihr beide einen Weg gefunden habt, die Depression kindgerecht anzusprechen. und ich hoffe, dass ganz, ganz viele Eltern in Zukunft auch Wörter wie "Antizombin" und "Antizombi-Licht" in ihren Mund nehmen werden ;)
Wie Du bereits erwähnt hast, weiss ich, dass meine Eltern nur das Beste für mich wollten und wollen, und mache ihnen bezüglich ihres Handelns keinerlei Vorwürfe. Eine Depression ist, vor allem, weil in der Gesellschaft kein offener Umgang damit gepflegt wird, für alle Beteiligten eine (über-)fordernde Situation.
Ja, ich habe zum Glück eine gute Betreuung gefunden, sodass ich langsam anfange das Ganze aufzuarbeiten, und habe mir über die Jahre einen sehr treuen, verständnisvollen und geduldigen Freundeskreis aufbauen können.

Liebe DieNeue
Vielen Dank für Deine netten Worte. Ich finde es schön zu hören, dass du so offen mit dem Thema umgehen kannst, und bin sehr froh zu hören, dass du so ein verständnisvolles Umfeld hast. Ich denke, nur schon die Tatsache, dass man Akzeptanz und Unterstützung in solch einer Situation bekommt ist viel Wert. Ich wünsche dir für die Zukunft nur das Beste :)

Nun zum leider etwas weniger erfreulichen Teil:
Ich habe leider den Eindruck, dass es meiner Mutter wieder etwas schlechter geht. Heute habe ich wieder merken müssen, wie sie ständig Dinge vergessen hat, die wir ihr in den letzten Stunden oder Tagen gesagt haben, und ich fürchte mich sehr davor, dass sie wieder in eine Abwärtsspirale fällt. Bis jetzt ist es erst eine schlechte Vorahnung, vielleicht hatte sie die letzten paar Tage einfach eine schlechte Zeit...
Da ich aber weiss, dass ich das Ganze nicht nocheinmal anschauen kann, und habe lernen müssen, dass ich nicht für alles eine Verantwortung übernehmen kann, werde ich mir wohl einen Notfallplan zurechtlegen müssen, und allenfalls zu meinem Freund oder meinen Grosseltern ziehen müssen, falls sich die Situation wieder drastisch verschlimmert.
Habt Ihr irgendwelche Erfahrungen mit einem Rückschlag? Tipps, wie ich mich darauf vorbereiten kann?

Alles Liebe
letsDoThis
Löwenzähnchen
Beiträge: 30
Registriert: 29. Apr 2017, 14:19

Re: Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von Löwenzähnchen »

Liebe letsDoThis,

wenn mein Mann wieder in eine depressive Phase rutscht, bemerkt er das meistens selbst nicht. Inzwischen weiß ich, dass ich meiner eigenen Wahrnehmung trauen kann und es hat sich bewährt, dass ich es nach ca. 1 Woche anspreche (ich warte ein paar Tage ab um auszuschließen, dass es sich nur um ein oder zwei schlechte Tage handelt, die jeder mal haben kann). Das ist früh genug, dass ich noch einen rationalen Zugang finden kann und mein Mann noch handlungsfähig ist.

Ansonsten, schau einfach was Dir gut tut und Dir den nötigen Abstand verschafft. Ich plane nicht mehr als unbedingt nötig und nehme jeden Tag so wie er kommt. Das erspart mir unnötige Enttäuschungen, über die guten Tage freue ich mich dafür umso mehr :-) .

Herzliche Grüße und alles Gute für Dich!

Löwenzähnchen
Birko
Beiträge: 501
Registriert: 20. Apr 2015, 13:33

Re: Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von Birko »

Sehr guter austausch hier.
Ich bin als kind auch mit ca. 10 jahren bewusst mit depressionen meiner mutter konfrontiert worden. Vermutlich schon eher.
Zum verständnis: ich bin jetzt 66 jahre, also war es zu einer zeit wo es wenig wissen und verständnis gab. Ich war das kind der bekloppten.
Leider haben dich dadurch auch bei mir mit ca. 29 jahren, nach der geburt meines ersten kindes, depressionen entwickelt. Immer ein auf und ab. Nie schlimm.
Richtig heftig wurde es erst mit 60 jahren. Bekam eine verhaltenstherapie, viele dinge kamen aus der kindheit hoch.
Heute bin ich recht stabil aber habe immer wieder tiefs.
Bin gerade am ausschleichen, so ganz klappt es noch nicht.
Pass auf dich auf und versuch es eventuell mit einer gesprächstherapie, sonst holt es dich im alter ein. Heute weiss ich, je jünger je besser. Es brennt sich in dein gehirn ein. Arbeite es auf.

Gruss
letsDoThis
Beiträge: 7
Registriert: 17. Mai 2017, 22:14

Re: Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von letsDoThis »

Liebe Löwenzähnchen

Vielen Dank für Deine Antwort. Ich bewundere Dich sehr dafür, wie Du gelernt hast, mit Eurer Situation umzugehen.
Ja, ich habe Angst, dass meine Mutter kaum merken wird, wenn sie sich wieder zu sehr vereinnahmt und mein Vater es sich selbst nicht eingestehen möchte. Ich weiss jetzt zum Glück, wieviel ich davon aktiv mitbekommen kann, und inwiefern ich mich auch selber schützen muss. Insbesondere weiss ich, dass es nicht an mir liegt, meine Mutter aus ihrem Tief zu holen.

Lieber Birko

Vielen Dank für Deinen Beitrag. Ich fand es schön, von jemandem zu hören, der in der gleichen Situation wie ich steckte. In Anbetracht wie verpönt die offene Diskussion über Depressionen heute noch ist, kann ich mir nur vorstellen, wie die Situation für Dich vor knapp 60 Jahren war. Leider scheint mir die Betreuung der Angehörigen in der heutigen Zeit immer noch ungenügend.
Eine Gesprächstherapie mache ich bereits (und hoffe, dass ich dadurch damit abschliessen kann) und sie hilft mir sehr, meine aktuelle Situation und mein früheres und jetztiges Verhalten zu verstehen. Ich werde die schmerzhaften Erinnerungen wieder und wieder hervorgraben, bis ich Vergangenes als einen Teil des Lebens meiner Mutter - und somit auch meinem Leben - akzeptieren kann. Schliesslich habe ich 5 Jahre nachzuholen.
Ich denke, dass ich im Gegensatz zu sehr vielen Angehörigen das grosse Glück hatte, dass meine Mutter sich nie agressiv verhalten hat und mir gegenüber immer sehr fair war (sie hat mich z.B. nie für ihre Situation verantwortlich gemacht). Ich bewundere meine Mutter extrem dafür, wie stark sie sogar in dieser Situation war.
Was war, wenn ich fragen darf, denn bei Dir das Schlimmste im Aufarbeitungsprozess?
Da ich sowieso ein recht empathischer Mensch bin, mich plagt das Wissen, dass meine eigene Mutter eine solche Situation durchmachen musste, ungeheuerlich. Ich fühle mich jetzt, da ich alles aufarbeite, als mein jüngeres Selbst mit der Situation konfrontiert, als würde ich aus einer emotionalen Schockstarre aufwachen.

Alles Liebe auf Deinem weiteren Weg
Birko
Beiträge: 501
Registriert: 20. Apr 2015, 13:33

Re: Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von Birko »

Das schlimmste war, dass mir klar wurde, dass ich ab 10 kein kind mehr war. Immer für meine mutter da. Zeitweise bin ich nicht zur schule aus sorge.
In der therapie kam hass auf.ich war nicht mal bei der beerdigung
In meiner therapie wurde das aufgearbeitet und habe seit dem kein schlechtes gewissen mehr.
letsDoThis
Beiträge: 7
Registriert: 17. Mai 2017, 22:14

Re: Aus der Sicht des Kindes einer Depressivkranken

Beitrag von letsDoThis »

Vielen Dank für deine Antwort. Ja, das kenne ich. Aus Rücksichtnahme werden viele eigene Bedürfnisse zurückgestellt... Ich empfinde meiner Mutter gegenüber keinen Hass, sehr wohl aber ihrem ehemaligen Chef. Er hat sie in der Firma scheusslich gepiesackt und war somit ein Hauptauslöser für den Zustand meiner Mutter.
Ich hoffe, dass ich irgendwann werde akzeptieren können, was damals abgegangen ist.
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