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Zurückziehen oder zu Aktivität zwingen?

Verfasst: 1. Nov 2016, 17:25
von somebody
Hallo zusammen,
mich würde gerade interessieren, wie ihr mit folgender Situation so umgeht:
Ich beobachte immer wieder bei mir, wenn ich einige Tage hintereinander mich mehr zurückziehe, ungern bzw. weniger gern unter Menschen gehe und daher oft absage, unübersichtliche Situationen meide, inaktiv werde usw.. Mir geht es dabei nicht extrem schlecht, aber halt auch nicht gut. Es ist ein seichtes "Nicht-Gut-gehen" bei dem ich Angst habe, dass es zu einem richtigen Tief werden könnte, wenn ich nicht passend darauf reagiere.

Ich frage mich da gerade, ob ich dann trotzdem versuchen sollte, unter Leute zu gehen, versuchen sollte, Sport durchzuziehen, zu Einladungen gehen sollte etc.. Oder ob ich dann besser auf mein Gefühl hören sollte, was sagt: bleib daheim im sicheren Rückzugsraum und zwing dich nicht zu Dingen, auf die du keine Lust hast.
Unsicher bin ich deswegen, da die Leute, mit denen ich so in Kontakt komme, keine guten Freunde sind. Geht es mir besser, kann ich mit oberflächlichen Zusammentreffen in lauter und fremder Umgebung gut umgehen und habe daran auch mehr Freude. Geht es mir schlecht, frage ich mich nur: Muss ich mir das antun? Ich habe so gar keine Lust... und es kostet mich auch deutlich mehr Energie, es trotzdem zu tun und bin oft froh, wenn ich dann endlich wieder daheim bin. Beim Sport stell ich fest, dass ich teils mittendrin abbreche anstatt durchzuhalten. Da frag ich mich aber: sollte ich es trotzdem versuchen? Die Frustration über das Abbrechen riskieren?

Allerdings hilft es mir auch nicht, wenn ich mich so komplett verkrümel und inaktiv werde. Sich zu all diesen Dingen zu zwingen, hat mir bisher aber auch selten geholfen.

Wie schafft ihr es, einzuschätzen, wo es gut wäre, sich dazu zu zwingen, und wo nicht?

Heut war ich z.B. nicht joggen, obwohl ich das eigentlich vorhatte. Doch fürchte ich den Frust über vorzeitiges Abbrechen, größere Anstrengung und fehlendes gutes Gefühl danach.
Ich habe heute eine spontane Einladung eines Kontaktes abgelehnt, weil ich keine Lust auf Leute habe. Ich habe ein bereits vereinbartes Treffen zum Filmeabend bei Kontakten abgesagt, weil ich gerade so gar keinen Nerv dazu habe, mit diesen Personen Zeit zu verbringen und noch dazu lange Anfahrtszeiten zu haben. Ich habe gestern einen Sprachkurs angefangen und wollte eigentlich gleich heute versuchen mit einem Teil der Unterlagen (ich habe das Unterrichtsbuch noch nicht) die Hausaufgaben zu machen. Gestern war ich noch voll motiviert, heute fehlt jegliche Motivation... Ich hätte den freien Tag heute so sinnvoll und produktiv nutzen können... und habe es aber nicht. Hätte ich mich heute zu beiden Einladungen zwingen sollen? Wäre ich dann aus meiner Lethargie herausgekommen und hätte Freude dabei empfunden oder hätte ich mich nur nach Hause gesehnt und wäre morgen erst recht K.O?

Wie geht ihr damit um?
Liebe Grüße,
somebody

Re: Zurückziehen oder zu Aktivität zwingen?

Verfasst: 1. Nov 2016, 17:46
von T Ally
Hallo Somebody,

das Gleichgewicht zu finden ist nicht einfach. Im Prinzip geht es mir wie Dir. Ich habe mich über viele Jahre zu allem möglichen gezwungen, weil ich es allen recht machen wollte. Nur eine habe ich dabei vergessen. Mich.
Und ich tue es noch immer.

Mittlerweile ist es mir bewusst und ich spüre, ob mir etwas gut tut oder nicht. Trotzdem komme ich nicht in die Umsetzung.

So bin ich zum Beispiel am Wochenende zu einem Geburtstag eingeladen und muss dafür mehr als 60 km fahren. Dort schlafen geht für mich selbst nicht, ich brauche mein Bett, meine Umgebung. Mein Bauchgefühl sagt mir, ich überfordere mich mit diesem Geburtstag, da ich kaum jemanden dort kenne. Aber das "Geburtstagskind" ist eine ganz liebe Person und hat meine Anwesenheit gewünscht. Also muss ich hin.
Und es wird mir nicht gut gehen. Aber ich bin es schuldig.

Immerhin habe ich mich dann mal wieder aus meinem Schneckenhaus gezwungen, in das ich mich immer mehr und immer öfter zurückziehe. Ich möchte immer weniger Sozialkontakte, da sie mir zu anstrengend sind. Aber dieser Weg ist nicht richtig. Durch Rückzug wird es ja nicht besser.

Heute Abend zwinge ich mich zum Sport, dem ich ja bereits seit Wochen aus dem Weg gegangen bin. Ich habe keine Meinung dazu, aber ich möchte endlich mal wieder in die Bewegung kommen. Meine Gelenkbeschwerden machen sich bemerkbar, dagegen hilft Bewegung.

Du siehst, auch ich finde das Gleichgewicht nicht. Meist gehe ich über meine Kräfte hinaus. Irgendwann haut es mich dann um, ich bekomme eine Erkältung oder ähnliches, dann bin ich zur Ruhe gezwungen. Aber wenn ich meinem kaum vorhandenen Antrieb nachgeben würde, dann würde ich nur noch schlafen.

Ich versuche es einfach damit, mir selbst in den Hintern zu treten. Aber es gelingt mir mehr schlecht als recht und die sich anschließend zeigende Überforderung ist auch nicht leicht zu ertragen.

Re: Zurückziehen oder zu Aktivität zwingen?

Verfasst: 2. Nov 2016, 15:00
von kaizer
Hallo somebody,

für mich ist das auch eine der zentralen Fragen geworden im Umgang mit der Depression.

Früher hab ich mich fast immer gezwungen, allerlei Aktivitäten mitzumachen, auch wenn es mir eigentlich zu viel war - um zu funktionieren, um am Leben teilzunehmen, um nicht als Eremit zu enden, um der Depression entgegenzuwirken.

Heute würde ich eher sagen, dass für mich eine dosierte Einigelung deutlich besser ist und ich mich massig überfordert habe. Ich finde es immer noch schwer, Angebote auszuschlagen und vergleichsweise ungesellig zu sein, aber wenn mir mein Körper das signalisiert, will ich auch mehr darauf hören als früher - und es geht mir besser damit.


Natürlich habe ich als "Drohkulisse" immer im Kopf, dass man es nicht übertreiben darf, um nicht völlig zu versumpfen. Aber wenn es mir nicht gut geht und mir alles zu viel ist, bleib ich auch schon mal drei, vier Tage zu Hause, wenn mir danach ist, das hätte ich früher nie gemacht, was sollen da die Ärzte, Therapeuten, Nachbarn, Partner sagen... An den Tagen, wo ich nicht direkt einen Widerstand und ein "mir ist alles zuviel" spüre, gehe ich dann auch gerne mal wieder unter Leute - wohldosiert. :)

Es gibt ein tolles Buch - "Jetzt geht es um mich" -, in dem genau beschrieben wird, dass viele Menschen mit Depressionen sich ständig überfordern und deshalb keine Kraft haben. Demnach sollte man als Weg zur Besserung mehr als bisher auf die Signale des Körpers achten, den Stimmen im Kopf und im Umfeld zum Trotz. Das habe ich mir zu Herzen genommen und fahre ganz gut damit.

Re: Zurückziehen oder zu Aktivität zwingen?

Verfasst: 3. Nov 2016, 08:22
von Botus
Ich kann mich nicht wie ein Einsiedler fühlen. So ein Gefühl muss sich ja erst mal entwickeln.

Wie soll sich so ein Gefühl in mir einstellen ? Lange bevor es sich entwickeln kann, kommen schon welche und bestimmen einfach, dass ich ein Einsiedler wäre und außerdem "so und so" sei und mich "so und so" fühlen würde, bla, bla...

Das ist mit nahezu allen Gefühlen so. Wie soll ich sie entwickeln ? Andere schauen (bildlich gesprochen) 1 x kurz auf mich, danach rattert es in deren Köpfen und das Endprodukt (was sie denken, fühlen, meinen, glauben...) wird mir dann übermittelt. Mit mir hat das meist gar nichts zu tun. Es handelt sich vielmehr um ein Eigenprodukt von denen, bestehend aus Zutaten, sie aus ihrem eigenen Fundus schöpfen. Der eine meint dies über mich und der nächste sagt das genaue Gegenteil davon.

Dass es vielfach so läuft, ist mein eigenes Verschulden.

Andere sind da wesentlich schlauer. Sie geben sich nicht offen und sie verhalten sich auch nicht authentisch. Somit bieten sie anderen gar keine Plattform für irgendwelche Interpretationen. Statt dessen steuern sie geschickt, welchen Eindruck sie auf andere und die Umwelt machen. Und wenn dann jemand kommt, um ihnen mitzuteilen, was er über sie so denkt, fühlt, meint, glaubt usw., hören sie das sehr gerne, denn es handelt es sich um genau die Eindrücke, die sie erzeugen wollten.

Ich lebe vermehrt zurück gezogen und vermeide es, Angebote und Einladungen anzunehmen, weil ich in solchen Gesellschaften ohnehin nur verlieren kann. Wenn die anfangen, ihre Tänzchen und Schauspielkünste aufzuführen, sind die mir haushoch überlegen. Sie sind hinterher zufrieden, weil sie es wieder mal geschafft haben, diese und jene Eindrücke in Mitmenschen zu erzeugen. Ich hingegen ärgere mich hinterher, weil mir wieder irgendwelche Dinge angedichtet wurden, die völlig absurd sind.

Das war nicht immer so. Früher war es so, dass ich mir mein Umfeld selbst (mit-) aussuchen konnte. Folglich gab es Mitmenschen, mit denen gewisse Übereinstimmungen und auch Gemeinsamkeiten bestanden. Folglich gab es auch nette Treffen mit netten Leuten und schöne gemeinsame Unternehmungen. Dieses frühere Leben endete 2003 ziemlich abrupt. Jetzt muss ich versuchen, mir wieder ein solches Umfeld und ein solches Leben aufzubauen.

Re: Zurückziehen oder zu Aktivität zwingen?

Verfasst: 3. Nov 2016, 10:00
von Bittchen
Liebe Somebody,

da halte ich es wie Kaizer,ich zwinge mich nicht mehr unbedingt raus zu gehen
oder aktiv zu sein.
Das tut mir nicht gut.
Wenn ich ohne Angst einkaufen kann oder mir etwas Freude machen könnte ,dann mache ich das.
Wenn mir aber alles zuviel ist, geht das oft nicht und ich nehme dann nur wichtige Termine wahr.
Das Buch von Josef Giger -Büttler habe ich auch gelesen,für mich ist seine Herangehensweise an die depressive Störung gut.
Aber jeder kann nur für sich selber heraus finden was hilft.
Ein Patentrezept gibt es nicht ,etwas Sport ,positive Aktivitäten,aber auch Ruhe gehören dazu.
Das richtet sich nach dem Schweregrad der Depression und auch dem Alter des Betroffenen.
Da ich berentet bin,ist es ja einfacher sich nicht immer zwingen müssen.
Früher hat mir auch die Struktur geholfen arbeiten zu gehen.
Bei mir ist die Gefahr,dass ich mich zu sehr einigel,da muss ich aufpassen.
Aber auch hier schreiben und lesen lenkt mich ab,kann aber auch schnell zuviel werden.
Alles ist für mich ein schmaler Grad,was ist gut ,was ist zuviel ?
In den letzte Tagen habe ich mich etwas überfordert,gestern musst ich mich dann nach einer kurzen Geselligkeit morgens zurück ziehen und habe geschlafen und nicht viel gemacht.
Heute scheint es besser zu sein.
Es ist dann für mich immer wieder ein Zeichen nicht so belastbar zu sein.
Heute spüre ich oft,wenn es zuviel ist,aber in die Falle kann ich immer noch tappen,ruder dann aber schnell zurück.
Geselligkeiten absagen geht mittlerweile gut,aber ich höre lange in mich rein,ob mir
eine Abwechslung oder Verpflichtung zu dem Zeitpunkt nicht doch passt und gehe auch oft hin.
Oft merke ich im Nachhinein erst,es war gut,dass ich hin gegangen oder gefahren bin .
Oft waren die hinderlichen Gedanken überflüssig.
Einen Guten Tag mit gut dosierten Aktivitäten.

Liebe Grüße Bittchen