Depressionen und Angststörung - die Qualen meiner Mutter

Antworten
Frau Holle
Beiträge: 2
Registriert: 28. Dez 2015, 12:11

Depressionen und Angststörung - die Qualen meiner Mutter

Beitrag von Frau Holle »

Hallo liebes Forum,

meine Mutter ist seit Jahren schwer depressiv und die Last, die das auch für mich bedeutet, wird mir langsam zu schwer.
Die Geschichte ist relativ lang und es sind in unserem Leben viele Dinge gleichzeitig passiert, bitte verzeiht deshalb den etwas ungeordneten Roman.

Verlust, Krebs, Demenz
Das Drama begann, als mein Vater 2009 relativ überraschend an Lungenkrebs verstarb und meine Mutter plötzlich mit allem ganz allein war - vor allem mit sich selbst. Meine Mutter ist vom Typ her immer leise, ängstlich, duldsam und unterordnend gewesen, eher jemand, der Führung braucht. Diesen Job hat fast 40 Jahre mein Vater übernommen, ein dominanter Patriarch, der einerseits wie ein Schutzschirm vor ihr stand, in dessen Schatten sie sich deswegen aber auch nie entfalten konnte. Ein eigenes Leben, eine eigene Persönlichkeit hat sie praktisch nie gehabt, sie hat sich immer an andere Menschen angepasst, anstatt selbst etwas zu sein.

Plötzlich allein zu sein, wäre schon Trauma genug gewesen, doch es kam noch dicker: gut drei Monate nach dem Tod meines Vaters wurde bei meiner Mutter Anfang 2010 auch Krebs festgestellt. Darmkrebs, Stadium III, sie brauchte neben der OP auch eine halbjährige Chemo, die sie sehr mitgenommen hat. Statt sich aber um die angemessene Verarbeitung dieser beiden Schicksalsschläge zu kümmern und ihrer eigenen Genesung den Raum zu geben, den sie braucht, begann meine Mutter noch während der Chemo, sich um ihre demente Schwiegermutter zu kümmern. Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, war wenige Jahre zuvor extra in die Nähe meiner Eltern gezogen, damit diese im Alter besser für sie da sein könnten. Dass mein Vater so schnell nach Omas Umzug sterben und meine Mutter so schwer erkranken würden, war also für unsere Familie auch irgendwie eine organisatorische Katastrophe. Ich wohnte fast 300km entfernt und mein älterer Bruder hatte sich nach Vatis Tod völlig zurückgezogen, so dass er als Unterstützung komplett wegfiel.

Anfang 2011 begab meine Mutter sich zwar in Behandlung bei einer Therapeutin, die aber diesen Namen kaum verdient, weil sie nicht therapiert hat, sondern lediglich eine Schulter zum Ausweinen bot. Die Treffen taten meiner Mutter zwar in dem Moment ganz gut, eine mittel- oder längerfristige Heilwirkung hatten sie jedoch nicht. Im Gegenteil: dieses Herumdoktorn verhinderte, dass meine Mutter sich echte Hilfe suchte. Ihr Hausarzt verschrieb ihr, als die "Therapie" nicht richtig anschlug, Antidepressiva, die sie gut vertrug und die endlich etwas Linderung brachten. (Paradoxerweise fühlte sie sich damit so viel besser, dass sie sie im Laufe des Jahres 2012 wieder absetzte.)

Über Kontrollzwang zur Angststörung
Obwohl meine Großmutter 2011 noch recht selbstständig und nur ein bisschen tüddelig war, entwickelte meine Mutter rasch ein starkes, fast zwanghaftes Pflichtgefühl, sich rund um die Uhr um sie zu kümmern. Es ähnelte eher einem Kontrollzwang; als Oma wegen der fortschreitenden Krankheit immer mehr Hilfe benötigte, kam meine Mutter gar nicht auf die Idee, externe Hilfe zu engagieren. Sie selbst machte einfach immer mehr, bis sie kaum noch konnte. Ich merkte erst Anfang 2014 wie schlecht es ihr ging, als sie körperliche Stresssymptome entwickelte, ich war ja nicht bei ihr, sondern oft telefonierten wir nur. Plötzlich berichtete sie von Herzrasen, Zittern, ständiger Übelkeit, Schlaflosigkeit. Sie hatte regelmäßig Panikattacken, zweimal hatte sie abends den Notarzt gerufen, weil sie Angst hatte, sterben zu müssen. Ich fuhr in der nächsten Zeit mehrmals zu ihr, um Pflege und eine Betreuerin für Oma zu organisieren. Zu diesem Zeitpunkt begann sie auch wieder, die AD zu nehmen.

Doch obwohl Oma danach mit allem versorgt war, gingen die zwanghaften Gedanken meiner Mutter nicht mehr weg. Sie war ständig in Sorge, ihre Gedanken kreisten um die kleinsten Nichtigkeiten. Gab es keinen konkreten Anlass, erfand meine Mutter einfach welche, an denen sie sich abarbeiten konnte. Was, wenn Omas Kleidung nicht immer picobello in Ordnung ist und fremde Leute das sehen? Was, wenn Oma nicht zum Friseur geht, ihre Haare sehen so schlimm aus? Was, wenn jemand in Omas Wohnung muss und sieht, wie es da aussieht? Da war viel spießbürgerliches "Was sollen die Leute sagen?", das ihr aber so monströs und erschreckend erschien, dass es ihr nachts den Schlaf raubte.

Sie machte sich irrsinnig Sorgen, aber wenn ich konkrete Lösungen vorschlug, blockte sie ab. Sie wollte sich mit dem, was ihr Angst und Sorgen machte, einfach gar nicht befassen, was genau den gegenläufigen Effekt hatte und die Ängste vergrößerte. Argumenten war sie zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr zugänglich. Ihre Ängste wurden immer schlimmer, genau wie ihre körperlichen Symptome. Sie rannte ständig zum Arzt, der ihr mal etwas zur Beruhigung, mal etwas gegen die ständige Übelkeit verschrieb. Doch ihre psychische Erkrankung war da schon so weit fortgeschritten, dass sich ihre Ängste vollkommen verselbstständigt hatten. Selbst vor den Medikamenten hatte sie Angst. Sie las von möglichen Nebenwirkungen und traute sich dann schlicht nicht, die Arznei zu nehmen. Es dauerte Monate, bis ich sie zum ersten Mal überreden konnte, am Abend eine Lorazepam zu nehmen, damit sie wenigstens schlafen kann.

Verschlimmerung und Antidepressiva
Sie machte eine zweite Kurzzeit"therapie" bei dieser unsäglichen Frau. Meine Anregung, es mal mit einer anderen Therapeutin zu versuchen, die tiefenpsychologisch arbeitet und ihrer Depression in einer Langzeittherapie auf den Grund geht, blieb ohne Wirkung. Alles Neue machte ihr Angst, im Grunde machte ihr alles Angst, und wenn ich sie nicht die ganze Zeit an der Hand führte, passierte nichts. Oft kam es mir vor, als würde sie sich richtiggehend an ihren Ängsten festklammern, als WOLLTE sie sie nicht loslassen.

Aus irgendeinem Grund, den sie im Nachgang selber nicht benennen konnte, setzte sie die AD im Spätsommer 2015 erneut ab, diesmal ohne Rücksprache mit dem Arzt und obwohl die Situation mit meiner dementen Oma zu dem Zeitpunkt sehr schwierig war (Oma war in Folge der Demenz sehr aggressiv gegen meine Mutter geworden). Im Rückblick erschien meiner Mutter dieser Alleingang ebenso rätselhaft und unverständlich wie mir, früher hatte sie nichts ohne "Erlaubnis" anderer gemacht. Meine Großmutter starb kurz danach, doch meine Hoffnung, dass sich bei meiner Mutter dadurch etwas löst, dass das Sorgengewicht leichter wird, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil. Ohne die AD begann die schwärzeste Zeit seit dem Tod meines Vaters.

Tiefpunkt
Es geht ihr aktuell sehr, sehr schlecht. Kaum noch Schlaf, innerhalb von 3 Monaten hat sie 8kg verloren, ihr Immunsystem ist mittlerweile völlig im Keller, aktuell hat sie ein grippaler Infekt niedergestreckt, die Depression ist mit aller Macht zurück. Das Lorazepam nimmt sie nach eigenen Aussagen mittlerweile jeden zweiten Tag und ich befürchte, sie schliddert da gerade in eine Abhängigkeit hinein. Mit den AD hat sie vor ca. 6 Wochen auch wieder begonnen, doch diesmal reichte die normale Dosis nicht aus, um sie zu stabilisieren. Eine mit dem Arzt abgesprochene Dosiserhöhung hat sie sofort wieder abgebrochen, weil ihr "davon" schlecht geworden ist. Sie schreibt solche Reaktionen den Medikamenten zu und erkennt nicht, dass das psychosomatische Angstreaktionen sind. Auf mein Drängen hin war sie zweimal in der psychologischen Notfallambulanz, wo man ihr zu einem stationären Aufenthalt riet. Auch eine Liste mit Kassentherapeuten gab man ihr mit und ein Merkblatt über Angststörungen. Sie befindet sich gerade in Vorgesprächen mit einer Tiefenpsychologin, doch ist die jetzt zum Jahresende in einem langen Urlaub, so dass sie derzeit total in der Luft hängt.

Symptomlindernde Maßnahmen wie Autogenes Training oder kreatives Arbeiten wie Malen, wozu ihr mehrere Therapeutinnen geraten haben, kann sie nicht umsetzen. Sie wartet praktisch auf irgendein Zaubermittel von außen, das – puff! – macht, dass es ihr plötzlich besser geht. Sie versteht gar nicht, dass die Heilung ihrer Depressionen nur aus ihr selbst kommen kann. Dass sie ihre inneren Geister, die zum Großteil aus ihrer Angst vor dem Alleinsein entstehen, erkennen und ihren Frieden damit machen muss. Statt dessen versucht sie zwanghaft, das Alleinsein zu vermeiden, umgibt sich ständig mit Geräuschen und Menschen, an die sie sich wieder anpassen kann. Sobald die weg sind oder auch wenn die mal nicht können, fällt sie in ein tiefes Loch, das jedes mal tiefer wird. Dieses ewige Vermeiden von allem, was ihr unangenehm ist und Angst macht, ist eine absolute Katastrophe, weil es alles viel schlimmer macht. Und jedes Mal braucht es mehr, um sie wieder halbwegs aufzurichten.

Wut und Trauer
Egal ob ich nun zu ihr fahre oder wochenlang am Telefon auf sie einrede - sie zu irgendetwas zu bewegen, ist unfassbar energieaufwändig. Oft dauert es Monate, bis sie selbst kleine Schritte schafft. Das sind die Symptome der Angstörungsdepression, ich weiß, doch im Grunde war sie schon immer eher passiv und unselbstständig, mein Bruder ist genauso. Dieses Andiehandnehmen kann ich aber in der aktuell notwendigen Häufigkeit nicht leisten und schaffen. Ich bin selbst überempathisch und nicht sehr belastbar, ich brauchte nach dem doppelten Schicksalsschlag selbst eine zweijährige Therapie, um wieder einigermaßen stabil zu stehen. Zu viel Zeit mit der Traurigkeit meiner Mutter zu verbringen, macht mich kaputt. Ich war Weihnachten bei ihr und halte es kaum noch aus, sie so unglücklich zu sehen, ich kann kaum noch verhindern, in ihrer Gegenwart loszuheulen usw. Aber sie nicht an die Hand zu nehmen, ist für mich auch keine Option, denn das hieße bei ihrer Passivität, sie ihrer Krankheit zu überlassen, weil sie sich selbst nicht helfen kann. Ich weiß ganz genau: hätte ich nicht mit aller Macht darauf beharrt, dass sie krank ist und zur Notfallambulanz gehen soll, sie würde heute noch zu dieser dilettantischen Therapeutin zum Kaffeekränzchen gehen.

Auf diese inkompetente "Therapeutin" bin ich sehr wütend, die nicht erkannt hat, dass meine Mutter schwer krank ist. Viel zu schwer für eine Kurzzeittherapie mit unregelmäßigen Treffen und keinerlei therapeutischer Linie. ICH war diejenige, die herausgefunden hat, dass diese Dauersorge und die körperlichen Symptome Krankheitswert haben und dringend einer angemessenen Behandlung bedürfen.

Gleichzeitig bin ich auch auf meine Mutter wütend, wegen ihrer Hilflosigkeit und weil sie einfach überhaupt nicht dazu in der Lage ist, ihre eigenen Empfindungen zu reflektieren und zu abstrahieren. Sie hat kein Gefühl für die Grenze zwischen gesund und krank und nimmt folglich alles, was in ihr vorgeht, unhinterfragt an. Seit meinem 14. Lebensjahr habe ich das Gefühl, auf sie und meinen Bruder aufpassen zu müssen. Oft möchte ich einfach schreien und meine Mutter schütteln.

Ich suche im Grunde einen konstruktiven Weg, mit ihrer Erkrankung umzugehen, konstruktiv für sie und für mich. Ich will ihr nicht jeden Schritt abnehmen, aber gleichzeitig möchte ich ihr helfen. Ich will für sie da sein, aber gleichzeitig auch Raum für meine Wut und Traurigkeit, denn ich habe mit dem Tod meines Vaters nicht nur ihn, sondern im Grunde meine ganze Familie verloren: mein Bruder brach danach alle Brücken zur Familie ab, meine Mutter versank im Ozean der Depression, meine Oma wurde dement. Von meiner Familie sind nur noch Trümmer übrig und ich möchte darüber trauern dürfen, dass mir durch Vatis Tod niemand geblieben ist.
Solange meine Mutter am Rand eines tiefschwarzen Abgrunds steht, kann ich das aber nicht.

Vielleicht finde ich hier etwas, das mir hilft.
neuermorgen
Beiträge: 5
Registriert: 12. Apr 2014, 23:02

Re: Depressionen und Angststörung - die Qualen meiner Mutter

Beitrag von neuermorgen »

Hallo,
es tut mir alles sehr Leid für dich.
Hast Du denn schon für Dich selbst nach einer passenden Unterstützung gesucht? Ich weiß aus eigener Erfahrung in Trauersituationen, dass man sehr schnell vergisst, sich um sich selbst zu kümmern...aber das ist enorm wichtig! Du kennst dich ja gut mit Therapieformen aus und kannst deine Ansprüche daran gut formulieren, also versuche doch, dieses Wissen auch für dich zu nutzen.
Alles Gute!
neuermorgen
Frau Holle
Beiträge: 2
Registriert: 28. Dez 2015, 12:11

Re: Depressionen und Angststörung - die Qualen meiner Mutter

Beitrag von Frau Holle »

Danke, neuermorgen. Die Schicksalsschläge meiner Familie habe ich, wie gesagt, mit Hilfe einer Therapie verarbeiten können, aktuell bin ich "nur" sehr erschöpft von der Unterstützung meiner Mutter. Ich muss seit Jahren Kraft für uns beide aufbringen. Als sie jetzt z.B. die Grippe bekam, fühlten wir uns beide auf entsetzliche Weise an die letzten Tage meines Vaters erinnert, der ebenfalls viel Gewicht verloren hatte und dessen Immunsystem von dem Krebs so niedergerungen worden war, dass ihn letztlich eine Bronchitis dahinraffte. Die Angst, der Krebs meiner Mutter könnte wieder da sein, kommt da automatisch in den Kopf, bei uns beiden. Aber natürlich darf ich in der Situation nicht in Panik geraten, sondern muss ihr Ruhe geben, obwohl ich selbst nervös bin. (Formal gibt es zum Glück erstmal keinen Grund für die Panik, alle Nachsorgeuntersuchungen der letzten Jahre, Blutwerte und Ultraschall/MRT, waren immer völlig okay.)

Wenn ich nicht mit ihr rede und nicht bei ihr bin, kann ich sie auch ganz gut ausblenden, aber mein Besuch zu Weihnachten hat mir gezeigt, dass das nicht gut ist. Wenn ich sie ausblende, überlasse ich sie ihrem Schicksal, dann sinkt sie ungebremst in die Depression, die Angst, alles. Denn wenn ich sie ausblende, erfahre ich gar nicht erst, wie schlecht es ihr geht. Dass sie so viel Gewicht verloren hat z.B., erzählt sie mir nicht am Telefon, das sehe ich eben nur, wenn ich bei ihr bin.
Und das Wissen, dass kein anderer bei ihr ist, der sie zur Lösung führt und sie nicht nur ablenkt, macht das Gewicht auf meinen Schultern nicht kleiner. Alle helfen ihr, sich abzulenken und vor dem Alleinsein zu fliehen, dabei ist das gerade der Motor, der die Depression am Laufen hält.
Antworten