Blauugigkeit

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Albert Keim
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Registriert: 13. Feb 2003, 09:52

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Beitrag von Albert Keim »

Der Satz von Thomas über die innere Überzeugung von der eigenen Wertlosigkeit war mir Anlass zu weiterem Nachdenken. Ich hatte schon vor einiger Zeit geglaubt, das hätte ich hinter mir gelassen. Trotzdem bin ich nicht weitergekommen und ich frage mich immer wieder, warum. Ich hatte wohl gelernt, dass ich selbst aufstehen muss aus meiner Lähmung; aber für den Weg nach diesem Austehen sehe ich in dieser Gesellschaft kein Vorbild. Ich bin mir vorgekommen wie ein Blinder unter anderen Blinden, der vom Hörensagen versucht, einen Weg zu finden. Oder hatte ich eine eingeengte Sicht, einen Röhrenblick? Mein Blick war sehr lange, zu lange auf die ausgebremste Situation gerichtet, vergleichbar mit Hiob in Staub und Asche. Aber ich wollte und will nicht wie Hiob mich unterwerfen und um Belehrung bitten. Da bin ich zu eigensinnig und widerborstig, auch will ich meine bisherige fachliche Arbeit nicht wegwerfen wie Hiob. Da war auch eine Gutgläubigkeit, ja Blauäugigkeit. Dabei weiß ich das, habe es für das Forum in mein Profil geschrieben. Es sind die bitteren Erfahrungen, die Enttäuschungen mit nicht beantworteten Schreiben, die mich dahin bringen, erstmal zu misstrauen und die mich veranlassen, einen Brief mit Arbeitsinhalten nicht einfach an einen Adressaten zu schicken, sondern einen Verteiler anzulegen und später mündlich und telefonisch nachzufragen und nachzubohren. Manchmal erinnere ich mich wehmütig an frühere Zeiten, als ich unter einem Projektleiter gearbeitet habe; der fragte mich schon, ob das oder jenes auch wirklich von Dritten gemacht worden war. So werde und muss ich es selbst in meinen eigenen Arbeitsprojekten handhaben. Ich möchte das nicht missverstanden sehen. Ein Misstrauen in gesundem Ausmaß muss sein. Trotz solcher Kontrolle ist es aber möglich, Vertrauen an andere zu geben und selbst Vertrauen zu erhalten, also auf anständige Weise mit Menschen umzugehen. Es geht um die Frage der Durchsetzungsfähigkeit. Das wird in keiner Schule gelehrt. Aber der berufliche Erfolg hängt davon ab. Albert
Thomas

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Beitrag von Thomas »

Hallo Albert, Hiob scheint mir für die depr. Menschen geschrieben zu sein, ich habe ihn einige Male gelesen, als ich krank war. Und wie hat man uns im Konformationsunterricht belogen, als man uns sagte, er sei der brave Knecht Gottes, der auch in größer Not seinen Glauben nicht verlor! Zum Atheisten wurde er, der es nicht nur wagte, seine Geburt sondern auch Gott zu verfluchen, zum großen Entsetzen seiner Freunde. Was diese Geschichte so wertvoll macht: er bekam Recht vor Gott- die völlige Abkehr vom großen Vater brachte ihn näher an sein Ziel. Warum mich dein Beitrag auch anspricht: Ich bin Chef einer kleinen Firma seit 12 Jahren und leide seit 12 Jahren unter diesen Konflikten des Geschäftslebens, wie oft habe ich mich schon blauäugig geschimpft! Vertrauen erzeugt Betrug, Nachsicht wird ausgenutzt, Verständnis für den Geschäftspartner führt zu Verlusten. Und das wird immer und immer extremer. Aber die Hornhaut an den Ellbogen platzt immer wieder auf, ich musste auch erkennen, dass ich nun mal kein idealer Geschäftsmann bin und dass es für mich auch kein Ziel darstellt, einer zu werden. Dafür muss man leider Federn lassen, wenn man auf menschlichen Anstand Wert legt. Thomas
inka
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Beitrag von inka »

blauäugigkeit - das wurde mir in der therapie an den kopf geknallt. ich nenne es trotzdem immer noch ehrlichkeit, vertrauen, moral - jedoch mit einer gesunden portion misstrauen gemischt ab jetzt. ein teil von mir ist gestorben. inka
Albert Keim
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Beitrag von Albert Keim »

Hallo Thomas und Inka, die Blauäugigkeit ist wirklich ein Problem. Ich kann mich nur teilen. Für einen Teil meiner Umgebung, z. B. einen guten Freund weiter volles Vertrauen und für den Rest ständige Prüfung, was will der gerade wieder. Vielen Dank auch für den Hinweis über die Depression bei Hiob. Jetzt geht mir auf, warum ich mich selbst so lange damit beschäftigt habe. Es gibt ja alle möglichen Schriften über das Hiob, vor allem Theologisches und Philosophisches. Auch Carl Gustav Jung hat im hohen Alter über Hiob geschrieben. Meines Wissens steht bei ihm aber nichts über Depression. Albert
Windrose
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Beitrag von Windrose »

Hallo Albert! Vielleicht nicht bei C.G. Jung aber bei Hiob selbst? Ich erkenne jedenfalls in einigen Textstellen meine eigenen Erfahrungen während einer Depression wieder. Mir als gläubigem Menschen hat es damals geholfen, mit Gott schimpfen zu können, mich bei ihm regelrecht auskotzen zu können, weil mir das Lesen von Hiob gezeigt hat, dass das ein Gott ist, der das aushält (Hiob 10f.). (unabhängig von der durchaus fragwürdigen Theologie der Zeit der Hiobschreiber ... Zusammenhang von Sünde und Lebensumstände ...). Entschuldigt, dass ich mich - ohne mich vorzustellen - einfach in eine Diskussion einmische. Aber ich verfolge schon einige Tage den Austausch in diesem Forum und hier habe ich mich angesprochen gefühlt. Liebe Grüße, Windrose
Albert Keim
Beiträge: 346
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Beitrag von Albert Keim »

Hallo Windrose, als ich Hiob gelesen habe, war mir die Donnerrede Jahwes am Schluss 38,1-41,26 sehr eindringlich. Das war der Chef, der ohne jede Rücksicht auf seiner Amtsautorität besteht. Ich hatte damals mit einem Amtsleiter zu tun, der sich ähnlich benommen hat und ich nehme an, dass sowas abfärbt. Besonders pikant fand ich, dass jener Amtsleiter Pfarrersohn war. Das war ziemlich drückend, ich habe mich aufgelehnt, bin aufgestanden und habe doch kaum etwas erreicht. Ein Dialog hat nicht stattgefunden. Meine Depression wurde verlängert. Dann habe ich angefangen - weil das ja ein Pfarrersohn war, mich mit dem Wesen des Pfarrers zu beschäftigen, seine Arbeit und Motivation. Die Biografie des schwäbischen Landpfarrers Johann Friedrich Flattich ist mir aufgefallen, der lebte im 18. Jahrhundert. Also, das war zu Fürstens Zeiten und er führte ein recht erfolgreiches Leben, war dabei in seiner Gemeinde hochangesehen, dass sich nach seinem Tod einige Legenden um ihn gebildet haben. Man kann auch anders, wenn es der Mensch selbst will, auch in einer autoritären Gesellschaft. Ich bin selbst nicht christlich, aber das Beispiel Flattich zeigte mir, dass gute Dinge möglich sind. Das hat mir einigen Trost gegeben und geärgert habe ich mich über den Schluss von Hiob, dass er widerruft und um Belehrung bittet. Ich stehe aber bei meiner Arbeit draußen im Strom und bin ein Hindernis für den geordneten Abfluss; ich bin ein Störfaktor, ein Störenfried durch meine Anwesenheit und durch meine Arbeit, weil ich dem Chef nicht alles abnehme. Du kannst dich gerne hier einmischen. Ich finde, Einwände geben manchmal andere Ansichten und Einsichten. Das ist oft eine Bereicherung. Vielen Dank und viele Grüße Albert
Windrose
Beiträge: 8
Registriert: 23. Jan 2009, 19:41

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Beitrag von Windrose »

Hallo Albert! Hm, das was du geschrieben hast, hat mich nachdenklich gemacht und ich würde gerne etwas ausführlicher antworten, weil es viel in mir anspricht. Wenn du für dich etwas herausziehen kannst, dann wäre ich froh. Mir ist aufgegangen, wie sehr solche Figuren und Bilder in der Bibel zum Allgemeingut der Menschheit gehören, dass wir sie in unserem Umfeld durchaus wiederentdecken können. Ich habe vor einem Jahr einen Chef gehabt (Pfarrer), der zu der Beschreibung passt, die du über den Amtsleiter abgegeben hast ... seine Amtsautorität genügt als Begründung. Menschlich gesehen war er der Letzte (auch ich habe Gegenbeispiele erlebt). Auch bei uns wurde nicht wirklich gesprochen. Außerdem erwartet "Kirche" (soviel zu meinem Arbeitsgebiet) von ihren Mitarbeiter/inne/n Gehorsam, Demut und Opferbereitschaft... Zitat eines höheren Vorgesetzten: Ihr Chef ist ein schwieriger Fall, aber Sie schaffen das schon! - Dass vor mir bereits 5 Kolleg/inne/n "versagt" haben, wurde mir durch die Blume zu verstehen gegeben. Die wollten bloss jemand haben, der ohne sich zu beschweren die Arbeit tut und keinen Aufruhr veranstaltet. Aber da hatten sie sich geschnitten. Ich habe mich dann auch dagegen aufgelehnt und ich hatte Erfolg. Ich habe dafür gekämpft, nicht mehr dem Einfluss dieses selbstherrlichen und autoritären Pfarrers unterstehen zu müssen. Und die "Kirche" hat mir dann in ihrer großen Gnade eine neue Stelle gegeben. Das alles ist mir nur gelungen, weil ich frei von meiner Depression war und die Angst da wieder reinzurutschen, bzw. der Wunsch frei zu bleiben hat mich kämpfen lassen. Ich weiß nicht ob du das nachvollziehen kannst. Aber ich habe nach meiner überstandenen Depression, die sich schleichend über ein dreiviertel Jahr hinzog unheimlich viel Kraft gehabt. Ironie, Wut und bestimmte Gegebenheiten (autoritärer Chef) nicht einfach hinnehmen, das hilft mir, in diesem Verein, der mir doch so wichtig ist und für den ich wirklich sehr gerne arbeite, auch arbeiten zu können. Da bin ich auch manchmal wie ein Hindernis im Strom, der dann nicht an mir vorbei kommt sondern um mich herumfließen muss, mich beachten muss. Das hat mich unheimlich viel Kraft gekostet, weil ich nämlich ein durchweg blauäugiger Mensch bin und es kann ja so unangenehm sein, Stellung zu beziehen. Das (die Blauäugigkeit)kombiniert mit einem sog. helfenden Beruf (Seelsorgerin) bietet natürlich fast schon die ideale Einflugschneise für Depressionen. Momentan versuche ich aber der Blauäugikeit, die nun mal zu mir gehört, auch wieder etwas Gutes abzugewinnen, denn sie nutzt mir auch in meinem Beruf ... vielleicht nicht immer im Umgang mit Chefs ... aber dafür mit vielen anderen. Ja, jetzt habe ich ziemlich viel losgelassen. Ich weiß nicht genau, wo du arbeitest. Und wieso du ein Störfaktor durch deine Anwesenheit sein kannst? Ich finde es wie gesagt gut, auch mal ein Hindernis darzustellen, wohl geht das nicht immer in jedem Job gut ... Was meintest du mit "dem Chef nicht alles abnehmen"? Du glaubst ihm nicht alles oder du nimmst ihm nicht alle Arbeit ab?? Noch was zum Hiob. Mich regt der Hiobschluss auch immer mal wieder auf. Solche Stellen haben meinen Glauben an Gott und mein Gottesbild oft aufs Härteste herausgefordert ... an so einen wollte ich nicht glauben. Aber das Theologiestudium und vor allem die Bibel-WISSENSCHAFT hat mir andere Sichtweisen ermöglicht und das hilft mir solche Stellen besser einzuordnen, in dem ich sie aus ihrer Zeit heraus verstehen lerne. Mir ist schon klar, dass das eher vom Kopf her geschieht und nicht immer bis zum Bauch vordringt, aber es hat mir doch oft eine Erleichterung gebracht. Mir ist auch klar, dass man mir vorwerfen kann, dass ich mir eh die Bibel so zurechtlege, wie ich sie brauche ... vielleicht ... aber ich glaube, dass das Wort Gottes etwas lebendiges ist, das in unserem Leben fortgeschrieben werden will. So, bevor es jetzt zu fromm wird, höre ich auf Ach ja, noch was zum Hiob: Wie lange leidest du schon? Viele Grüße, Windrose.
Albert Keim
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Beitrag von Albert Keim »

Hallo Windrose, einiges an solchen Figuren ist Allgemeingut, z. B. die Figur des Satan im Buch Hiob. Er wird als Gottessohn bezeichnet. Ich würde sagen, er füllte die Position eines Provinzstatthalters aus und war von einem krankhaften Geltungstrieb besessen. Wer ihm die Türklinke putzte und ihn katzbuckelnd um Rat fragte, der hatte es fein heraus. Aber wehe dem, der eigene Wege ging. Es reichte, ein guter, gerader Mensch zu sein, um negativ aufzufallen. Bezeichnend ist, dass im Buch Hiob nirgends die Rede davon ist, Satan habe einen Befehl oder eine Anordnung gegeben. Die Anstiftung zum Mord und räuberischen Diebstahl ging hintenrum. Nur über die bösartigen Geschwüre wird gesagt, dass Satan Hiob damit schlug. In der autoritären Gesellschaft ist eine Macht nur wirksam, wenn sie im Geheimen wirkt. Ich arbeite freiberuflich als Gewässer- und Fischereibiologe und habe viel mit Behörden zu tun. Auf der einen Seite wird eine gewisse Anpassung erwartet, aber meiner Person wurde mehr zugetraut. Neue Ideen braucht das Land! Damit hatte ich mich bei Satan gerade unbeliebt gemacht. Ich stand davor, eigene Projekte zur Förderung einzureichen. Das hätte auch Gelder beansprucht und die bisherigen Einflussmöglichkeiten Satans wären eingeschränkt worden. Autoritätsgläubige Menschen wollen soviel Subventionenn wie möglich einstecken und solange ein Amtsleiter diesen Typs Mittel zur Verfügung hat, versucht er, diese breit zu streuen, um sich Abhängigkeiten zu erhalten. Eine Zeitlang war das von oben her gern gesehen; das Volk unten war ruhig gestellt. Inzwischen hat sich aber einiges gewandelt im öffentlichen Bewusstsein. Der Schluss vom Buch Hiob hatte mich zur Meinung geführt, dass das Buch für das Volk geschrieben wurde, um ihm die Gnadenmöglichkeiten bei bedingungsloser Unterwerfung zu zeigen. Insofern hatte mich das auf die falsche Spur gebracht. Ich tue mich gerade schwer, mein Bewusstsein von dieser negativen Sicht zu befreien und auf Besseres einzustellen. Die letzten fünf Jahre waren gekennzeichnet durch diese Auseinandersetzung. Ich habe mich stark einschränken müssen und so hieß es: ausharren, durchhalten und weiterarbeiten. Aber gerade die finanziellen Einschränkungen hatten therapeutische Wirkung: ich habe Demut gelernt, die Armut und Keuschheit wohl unfreiwillig auf mich genommen, aber eines Tages akzeptiert. Nur mit dem dritten der evangelischen Räte, dem Gehorsam kann ich mich nicht anfreunden; denn das wäre die Unterwerfung unter Satan. Deshalb wurde ich isoliert zum Einzelgänger, eingeseift und kaltgestellt; der gute Willen zu helfen wurde ausgenutzt. Das Ergebnis wurde mir da oben als fehlende Durchsetzungsfähigkeit, sprich hier Blauäugigkeit angelastet. Da gab es mehrfach Leute, die haben mir gegenüber vom "Schwimmen im Strom" gesprochen. Da ich ja mit Gewässern zu tun habe, habe ich ein paar Gedanken darum herum gebaut. Davon kommt das Wort vom Stehen im Strom und dort arbeiten. Problematisch war ich schon immer. Insofern ist es fast müßig zu fragen, wie lange ich schon leide. Aber jetzt reicht es für heute. Viele Grüße Albert
Monika 44

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Beitrag von Monika 44 »

Lieber Albert, ja alle hat seine Grenzen! Ich neige leider auch dazu gute Miene zum bösen Spiel zu machen! Aus Angst, teils aus Bequemlichkeit. Teils kommen meine Depris auch davon-immer der leichte Weg. Richtig blauäugig bin ich eigentlich nur Menschen gegenüber die ich sehr mag-sonst bin ich sehr kritisch und selektiere auch! Aber hat jemand mein Herz gewonnen...tja dann wirds gefährlich...dann bin ich nicht mehr blauäugig sondern blind! Halt dem Strom weiter Stand! Gruss MOMO
Christoph von der Heyden
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Beitrag von Christoph von der Heyden »

Hallo Albert! Was Du da geschrieben hast fand ich sehr anregend noch mal nachzudenken, was so alles in uns steckt. Da wird von schwarzer Dame gespochen, von Satan, von Licht e.t.c. Irgendwie kenne ich das alles, aber nur weil ich manchmal das eine oder das andere bin. Kann mich dann toll mit mir selbst unterhalten. Zuhören?? Wem höre ich dann zu? Vielen Dank für die Anregungen! Liebe MOMO! Du wirst blind?? Bitte nicht, sonst kannst Du ja keine Beiträge mehr schreiben. :o) Alles Liebe Christoph
Monika 44

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Beitrag von Monika 44 »

Lieber Christoph, auch Blinde können am PC arbeiten...dafür die Striche am f und j...oder lieg ich da falsch? Computer und Momo....zwei Welten prallen aufeinander...! Gruss MOMO
Windrose
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Beitrag von Windrose »

Hallo Albert, jetzt habe ich das Bild vom "Stehen im Strom" verstanden ... schönes aber auch anstrengendes Bild. Vielleicht ist es gut, sich vom Stehen auch mal ne Weile auszuruhen und guten Gewissens mitzuschwimmen oder sich sogar tragen zu lassen, um sich dann wieder in den Strom zu stellen?? Ich will dir keinen Ratschlag geben, nur meine Gedanken dazu mitteilen. Ich wünsche dir jedenfalls alles Gute. Windrose
Windrose
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Beitrag von Windrose »

Hallo Momo, ich kann das sehr gut nachvollziehen, was du da beschrieben hast. ... und dann tuts so verdammt weh, wenn man enttäuscht wird, weil man (=ich) sich doch für so kritisch hält, dass man zu der Überzeugung gekommen ist: na dem kann ich vertrauen, dem kann ich alles abnehmen, der wird mich schon verstehen ... Das kann mich schon manchmal runterreißen. Viele Grüße, Windrose.
Albert Keim
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Beitrag von Albert Keim »

Hallo Windrose, natürlich kann ich nicht all die Zeit im Strom stehen und dort arbeiten. Bei Hochwasser muss ich mich ans Ufer retten und auf einem Baum oder einem Hügel warten, bis das Hochwasser abgelaufen ist. Wenn ich im Strom abgetrieben würde, also mit dem Strom schwimmen würde, wäre meine Glaubwürdigkeit als Sachverständiger in Gefahr. Ich hatte so verschiedene Erlebnisse bei dieser Arbeit als Störfaktor für den geordneten Abfluss. Das hat mehr oder weniger darauf gezielt, mich aus dem Strom zu entfernen; aber bisher habe ich überlebt und werde weiter leben und arbeiten. Mit der Zeit lernt der Mensch auch die Gefahren kennen und bewerten: Wo gibt es gefährliche Strudel? Wo gibt es Bereiche, an denen eine gute Arbeit möglich ist? Was sind die Vorboten für gefährliche Hochwasser? Viele Grüße Albert
Monika 44

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Beitrag von Monika 44 »

Liebe Windrose, ja das "fallen lassen können" im richtigen Moment..jemandem vertrauen...misstrauen... Eigentlich bräucht ich oft nur auf meine Antenne vertrauen..oft lieg ich da nicht so falsch. Aber ich schwenk oft um weil ich dann denke ich habe mich getäuscht... Ist mir schon oft zum Verhängnis geworden! Lieber Gruss MOMO
Albert Keim
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Blauugigkeit

Beitrag von Albert Keim »

Hallo Monika, meist ist der erste Eindruck der richtige. Das liegt daran, dass Menschen ein unbewußtes Gespür für andere Menschen haben. Mir ist es auch schon so gegangen wie dir. Das ist mir eine Lehre gewesen. Aber Menschen können auch ihre Einstellung mir gegenüber ändern. Im konkreten Fall war es so, dass ich als Betroffener der letzte war, welcher das zu spüren bekam und zu spät. Die anderen im Umfeld waren lange vorher informiert und machten mit bei der Intrige. Da habe ich wieder meine Blauäugigkeit. Trotzdem bin ich weiterhin auf ein Mindestmaß an Vertrauen anderen gegenüber angewiesen. Viele Grüße Albert
Monika 44

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Beitrag von Monika 44 »

Lieber Albert, Ich weiss was Du meinst...aber komischerweise bin ich jemand der es sofort merkt wenn sich die Luft für ihn verschlechtert hat! Wer für sowas sehr begabt ist ist mein Mann... schon zweimal hat er sich völlig sicher in seiner Arbeit gefühlt...hat gedacht alle lieben ihn(das denkt er wirklich-er ist Waage)und wurde rausgemobbt... Ja lieber Albert wo wir wieder beim Thema "Fallenlassen" wären....aber dazu fällt mir heut nix mehr ein..bin ziemlich müde! Bis bald+viele Grüsse MOMO
Albert Keim
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Blauugigkeit

Beitrag von Albert Keim »

Harmoniesucht - oder: muss ich zu allen Menschen nett sein? Blauäugigkeit ist Teil von einem vielschichtigen Charakterzug. Reicht es, dass ich mich von dieser nachteiligen Eigenschaft befreie oder kümmere ich mich besser um den ganzen Komplex, der sich rankt um Blauäugigkeit, Harmoniesucht und Empfindlichkeit? Mein erstes Schlüsselerlebnis war die Reise ins Saipoland, das ist die Initiationsreise der samischen Schamanen. Unser Seminarleiter erzählte uns, dass nicht jeder diese Reise machen; nur Menschen, die compassion besitzen, sind dazu in der Lage. Compassion lässt sich schwer übersetzen, am ehesten mit Mitgefühl. Der Wolf steht am Ufer und sieht drüben auf der Flussinsel das Weiße Rentier. Er ist hungrig, so geht er ins Wasser, um den Fluss zu durchqueren. Aber es ist Blut im Flusswasser und der Fluss ist tief; er muss einen tüchtigen Schluck davon nehmen. Der Blutgeschmack macht ihn richtig wild und gierig. Endlich kommt er drüben an und will dem weißen Rentier die Kehle durchbeißen. Dreimal setzt er an und dreimal zuckt er zurück. Dann überwindet er sich und er haucht seinen Atem dem weißen Rentier ins Herz. Danach gelangt er ins Saipoland. Als ich die Reise das erste Mal durchführte, war das drüben wunderschön; mir fiel auf, dass der Seminarleiter zu dieser Reise keine Nachbesprechung hielt. Auch ein zweites und drittes Mal war die Reise möglich. Aber dann verblasste es und eines Tages fiel mir das Stichwort "Harmoniesucht" zur Reise ins Saipoland ein: jene Gemeinschaft von Menschen, die fröhlich sich gegenseitig beim Hausbau helfen und Gefahren wie Feuersbrunst und tätliche Angriffe von außen gemeinsam abwehren, ohne Streit miteinander zu haben. So ist mir das einige Zeit später bewusst geworden. Ich gehöre oder kann ich inzwischen sagen ich gehörte? zu denen, die es allen recht machen und nirgendwo anecken wollen, ausgenommen es ging darum, für meine Verletzungen selbst agressiv zurückzuzahlen. Jene Reise war eine erste Vorbereitung darauf, dass ich nicht mein ganzes Leben lang außerhalb des Alltags schweben kann. Mir ist bewusst geworden, dass der Abschied von der Blauäugigkeit, von Harmoniesucht, von Empfindlichkeit und von Agressivität ein langer, schwieriger Prozess ist. Gerade vor wenigen Wochen habe ich erlebt, dass ich heftig angegriffen wurde auf eine gemeine Weise; das war Mobbing und ich habe gemerkt, dass ich mich nur zum Teil wehren kann; mehr als eine Woche habe ich gebraucht, bis der Angriff verdaut war. Dann fing der Typ von Neuem an. Ich habe gemerkt, dass da eine Kluft ist zwischen mir und anderen Menschen im Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehung. Wie kann ich darüber mich austauschen? Ich weiß nicht, wie lange das noch dauern wird und wohin mich das noch führen wird. Albert
Albert Keim
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Blauugigkeit

Beitrag von Albert Keim »

Den Weg der Erkenntnis findest du nicht auf den Landkarten unserer messbaren Welt. Du beginnst damit, dass du die vier Straßen findest, die nebeneinander herlaufen, und die mittlere wählst. Diese Straße wird von einem unüberwindlichen Canyon gekreuzt, der bis an das Ende der Welt reicht. Dort musst du hindurch! Dann kommst du an ein undurchdringliches Dickicht. Du musst hindurch! Dann kommt ein Ort, an dem es Schleim regnet. Wisch ihn nicht ab! Und dann kommt ein Ort, an dem die Erde brennt. Geh hindurch! Schließlich wächst ein steiler Felsen vor dir in die Höhe, der dem Fuß keinen Halt bietet. Geh einfach weiter! Bist du so weit gewandert und bedroht jemand dein Leben, so sage: "Ich bin bereits gestorben." Klappentext zu: Über den Rand des tiefen Canyon. Lehren indianischer Schamanen. Hrsg.: Dennis und Barbara Tedlock. München 1978. Jahrelang ist mir dieser Text im Kopf herumgespukt. Ich bin nicht davon losgekommen. Jetzt meine ich, einen Zugang gefunden zu haben. Vielleicht ist noch nicht alles vollständig, aber ich will es versuchen. Die bekannten Straßen sind zu finden, aber die mittlere Straße von vier Straßen, gibt es die überhaupt? In der Mitte sind doch zwei Straßen. Will das sagen, ich muss zwischen diesen vier Straßen meinen eigenen Weg suchen? Auf diesem Weg, den ich abseits der üblichen Straßen mir suche, gibt es Hindernisse. Ein Canyon ist ein tief eingeschnittenes Tal mit steilen Abhängen. Ohne Hilfsmittel ist es kaum möglch, zur Talsohle zu gelangen und auf der anderen Seite wieder hochzuklettern. Ich muss erst einen möglichen Einstieg suchen, einen natürlichen Kletterpfad, den Wind und Wasser im Gestein geschaffen haben. Also muss ich an diesem Hindernis in meinem Leben mögliche Ansatzpunkte suchen, die eine Bearbeitung erlauben. Das Dickicht ist ein Geflecht von verholzten Pflanzen. Ich muss die Pflanzentriebe, einen nach dem anderen auseinanderbiegen, oder einzelen wegschneiden, um mich durchzuarbeiten. Das bedeutet Kleinarbeit, die Arbeit am Detail einer Aufgabe. Der Ort, an dem es Schleim regnet, das ist die Gelegenheit, bei der Hohn und Spott über mich ausgegossen werden. Es sind die täglichen Abwertungen und Nadelstiche. Ich soll den Schleim nicht abwischen, ich muss die Beleidigungen ertragen. Wollte ich das vesuchen, würde ich mich auf ein Gezänk um Argumente einlassen, in dem ich am Ende verlieren werde. Der Ort, an dem die Erde brennt: da wird es unerträglich. Die Last der Arbeit und das Leiden drücken mich unbarmherzig. Ich möchte schreien und mich bemerkbar machen, ich fange an zu jammern und zu klagen. Es gibt auch Leute, die mir zusehen, es gut mit mir meinen und mir anraten, an einen besseren Ort zu gehen, aber ich weigere mich, die Arbeit an diesem Ort zu verlassen. Dem Höllenfeuer muss ich standhalten, das Tal der Qualen muss ich durchwandern. Der steile Felsen vor mir, der dem Fuß keinen Halt bietet, scheint unüberwindbar. Und doch muss ich weitergehen! Wie das? Ist das vielleicht wie mit der Angst, die ich überwinde, indem ich einfach den Schritt ins Ungewisse nach vorne tue? Oder ist der steile Felsen die Tradition, eine Mauer, vor der ich stehe auf meinem Weg. Wie kann ich sie überwinden? Tatsächlich existiert die Mauer in den Köpfen der Menschen auch in meinem Kopf; so muss ich in meinem Kopf zuerst damit anfangen, die Mauer zu übersteigen. Bin ich soweit, kann mir jemand begegnen, der mein Leben bedroht und ich kann diesem Gegner nur sagen, dass ich schon gestorben bin und deshalb keine Angst vor dem Sterben habe. Ja, auf diesem Weg war ich mehr als einmal großer Gefahr ausgesetzt, ich war in meiner Existenz bedroht, fühlte mich von fast allen verlassen und allein. Spätestens an jenem Ort, wo das Feuer brennt, wo die Konflikte unerträglich sind, wo ich zerrissen, zerstückelt und zerrieben werde, da fühlte ich später, dass ich dem Tod ins Auge gesehen hatte. Und das kann wieder geschehen. Die Bedrohung meiner Existenz kann sich wiederholen. Wenn es für mich als Lebewesen mit einer Vorzugstemperatur einen Hitzetod geben kann, dann muss es auf der anderen Seite der Skala einen Kältetod geben. ICh habe eine dieser Bedrohungen als Einfrieren unter einer Eisdecke erlebt. Es gibt ja das Wort vom Kaltstellen und das meint, dass ein Angestellter, Beamter oder sonstwie Abhängiger von den Entscheidungssträngen abgeschnitten wird. Da liefen manche Dinge ohne mich, von denen erfuhr ich erst hinterher, einmal sogar aus der Zeitung. Ich spürte das körperlich als ständige Frieren und musste mich mehr als üblich warm anziehen. In jener Situation habe ich mich erinnert, dass tibetische Mönche beim Meditieren bestimmte Körperteile erwärmen und sogar nasse Tücher auf der Haut trocknen lassen. Wenn die das machen können, habe ich mir gesagt, dann versuch ichs auch. Zwar nicht in der Meditation, aber in der Reise. Es klappte zwar nicht perfekt, nasse Tücher habe ich nicht probiert, aber es hat soweit gereicht, um mich unter dieser imaginären Eisdecke zu erwärmen und herauszuschmelzen. Wenig später bekam ich eine Venenentzündung am rechten Bein. Mein Hausarzt ließ Verband und Salbe besorgen und sagte beim Anlegen des Verbandes: "Jetzt wollen wir die Selbstheilung unterstützen." Da hat es bei mir geklingelt. Das rechte Bein wurde gesund und ich beschäftigte mich mit dem Gedanken, dass Venenentzündungen psychosomatisch bedingt sein können, so wie das in meinem Fall geschehen war durch die Kaltstellung; und ich hatte vorher ja meine seelische Verletzungen in der Unteren Welt heilen können. Vierzehn Tage später fing es am linken Bein an. Da habe ich meine eigenen Kräfte mobilisiert, habe mich in die Untere Welt begeben und mir die Beine massieren lassen. Damit war der Besuch in der Arztpraxis überflüssig geworden. Ein prominentes Beispiel für eine Venenentzündung im Zusammenhang mit der sozialen Stellung war der frühere US-Präsident Richard Nixon nach seinem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Präsidentenamt. Es ist die soziale Ächtung, das Gefühl, gemieden zu werden, welches eine Venenentzündung auslösen kann. Ich hatte mich aus einer Abhängigkeit befreit und mich gegen eine Macht behauptet. Vier Jahre vorher hatte ich in einer ähnlichen Situation einen Depressionsschub erlitten. Jetzt gab es immer noch Leiden, aber ich hatte einen Weg gefunden, dem Leiden zu widerstehen und für eine Aufgabe zu leben und zu arbeiten. Damit sind noch nicht alle Schwierigkeiten behoben. Ich will ja meine volle berufliche und soziale Integration in die Gesellschaft. Eine mögliche Gefahr auf dem weiteren Weg besteht darin, dass diese Eingliederung zu schnell vonstatten geht. Dann könnte der Erfolg mir zu Kopfe steigen und ich würde vom hypomanischen Zustand in die Manie abgleiten, also die Kontrolle verlieren. Ich habe nur einen Schritt über die Schwelle zu tun. Aber die Tür an dieser Schwelle lässt sich nur langsam, sehr langsam, zentimeterweise öffnen. Das ist gut so. Es erinnert mich, nicht zu schnell zu gehen, auf dem Boden zu bleiben und nicht abzuheben. Albert
waltraut
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Registriert: 13. Feb 2003, 09:52

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Beitrag von waltraut »

Lieber Albert, ich finde die Geschichte sehr schön und plastisch. Der gedanke mit dem langsamen Öffnen der Tür leuchtet mir ein. Lieben Gruß und einen schönen Tag! Waltraut
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