Nicht aufgeben: Wir alle sind wichtig
Verfasst: 11. Dez 2014, 15:57
Hallo,
bisher habe ich Euch nur zugehört / Eure Beiträge gelesen. Jetzt will ich zeigen, warum ich trotz jahrelanger Depressionen immer noch leben kann. Auch wenn man glaubt, entsetzlich einsam und sinnlos zu sein: Das stimmt einfach nicht, es gibt immer Menschen, für die wir eine Bedeutung haben. Hier ist meine Geschichte dazu:
Bilanz zum Jahresende
Ach, was soll`s. Sie wird es auch diesmal tun. Zweiundsechzig mal hatte sie bereits Weihnachten gefeiert und sie war schon 44 mal dafür zuständig gewesen, dass dieses Fest so ablief, wie es alle erwarteten. Zum Advent wurde das Haus geschmückt, in der letzten Adventswoche die Krippe aufgestellt - eine kostbare Töpferarbeit ihrer Tochter- und in der Zeit dazwischen waren Geschenke zu verpacken, Kekse und Pralinen herzustellen. Der Weihnachtsbaum war dem Heiligen Abend vorbehalten.
Seit ihr jüngster Sohn - ein Nachkömmling - erwachsen war, hatte sie ab November manchmal daran gedacht, den Höhepunkt der Weihnachtszeit, den Heiligen Abend, einfach auszulassen. Sie stellte sich vor, allein in einem verschneiten Bergdorf, vielleicht in Österreich, die Weihnachtstage zu verbringen. Sie träumte von einer Pferdeschlittenfahrt, heißem Punsch, Spaziergängen mit dem Hund durch unberührte Schneelandschaften und viel Zeit zum Lesen. Ein freundliches Gasthaus mit guter Speisekarte würde ihr Quartier sein.
Dann wieder zweifelte sie an dem Plan und stellte sich vor, welche Schwierigkeiten der Hund mit seinen kurzen Beinen im tiefen Schnee haben würde oder wie andere Gäste den Tisch nahe am Kamin in der Gaststube besetzten und fröhlich Weihnachten feierten. Sie würden gute Laune und Lärm verbreiten und sie würde sich in ihr einsames Zimmer zurückziehen. Den Fernseher einschalten, um Verbindung zur Welt zu halten. Heiligabend hatten sie nie ferngesehen, sie wusste überhaupt nicht, wie das Programmangebot an diesem Abend war. Sicherlich angepasst an die Bedürfnisse alter, einsamer Menschen, zumindest bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, die sie schaute. Also würde das Programm vielleicht passen.
Einen Zimmerservice hätte das österreichische Gasthaus bestimmt nicht und für ein Getränk müsste sie wieder hinuntergehen in eine festlich geschmückte Gaststube zu fremden Menschen, die mit zu viel Alkohol zu fröhlich feierten. Sie würde sich ausgeschlossen fühlen, noch einmal mit dem Hund hinausgehen, heiß duschen und sich im Zimmer auf dem Bett ausstrecken. Dann würde sich die Verzweiflung zu ihr legen, sie in das tiefe schwarze Loch drücken. Sie würde keinen Widerstand leisten können. Hätte sie wohl daran gedacht, die gesammelten Medikamente in den Koffer zu packen? Und falls ja, würde sie nun endgültig Schluss machen, um die Seelenschmerzen niemals mehr zu spüren? Diese Vorstellung war ziehend verführerisch. Sie wäre fein heraus, aber was wäre mit den anderen?
Das fing doch schon mit dem Hund an: Wann würde der merken, dass sie tot ist und was würde das für ihn bedeuten? Er musste doch zum Morgenspaziergang raus, Fressen und Trinken bekommen. Würde die Sterbeversicherung ausreichen für den Heimtransport ihrer Leiche oder würde sie hier im Ort bestattet? Besonders nett wäre eine derartige Weihnachtsüberraschung mit Leichenwagen für die anderen Hotelgäste schließlich auch nicht. Ganz abgesehen von den Leuten zuhause. Das war eben der heikelste Punkt. Nicht nur für den Hund war sie verantwortlich, sondern auch für ihre hochbetagten Eltern. Ihre noch lebenden Geschwister sahen es als selbstverständlich an, dass sie sich darum kümmerte. Die Schwester lebte auf einem anderen Kontinent und fühlte sich in keiner Weise verantwortlich. Sie unterstützte trotz ihres Millionenvermögens die Eltern kein bisschen.
Bei diesem Gedanken spürte sie eine kleine, sorgfältig verborgene Wut auf die Eltern, die bei den äußerst seltenen Besuchen der Schwester so begeistert und dankbar dafür waren. Ein paar Stunden ihrer Zeit opferte diese Tochter ihnen alle zwei Jahre, ehe sie, wie ein Hubschrauber Schmutz aufwirbelnd, zu fröhlicheren Zielen aufbrach. Wenn die Eltern auf diese Tochter angewiesen wären, würden sie sich schnellstens im Altenheim wiederfinden. Auch ihr Bruder würde sich einfach auf seine Frau verlassen, wenn sie nicht mehr wäre, und von dieser Seite wäre ebenfalls nur das Altersheim zu erwarten. Außerdem hatten die Eltern es abgelehnt, von ihrer Schwägerin versorgt zu werden, was kein Wunder war bei ihrer „Hoppla-hier-komm-ich-Mentalität“. Feingefühl hatte die wirklich nicht.
Ihre Freundinnen würden sich vorwerfen, nicht aufmerksam genug gewesen zu sein, sie würde mit ihrem Abgang deren Gewissen belasten – fair wäre das überhaupt nicht. Aber noch viel wichtiger waren die eigenen Kinder und die Enkelkinder. Die würden sich um die Großeltern kümmern, wenn sie in ihr Bergdorf führe und davon ausgehen, dass sie gut gelaunt wiederkäme.
Drei Enkelkinder hatte sie von ihrer Tochter. Der Älteste wohnte inzwischen beim geschiedenen Vater, er könnte wahrscheinlich mit fast 16 Jahren ganz gut ohne sie auskommen – obwohl - in den Ferien besuchte er sie ja immer noch gern. Die jüngeren Enkeltöchter würden bestimmt verstört sein, wenn sie erführen, dass Oma G. freiwillig ausgestiegen war aus dem Abenteuer Leben. Hatte sie den Mädchen nicht immer wieder erzählt, wie viele Möglichkeiten ihnen das Leben böte, wenn sie weiter so erfolgreich und engagiert lernten? Diese Kinder waren wirklich vielversprechend. Sie würde eigentlich noch gerne sehen, was aus ihnen wird und vielleicht sogar Urenkel erleben. Aber dabei wäre das Risiko von Enttäuschungen hoch. Wie bei ihrer Tochter, die ihre vielen Talente nicht nutzte, sondern seit ihrer zweiten Ehe nur noch Heimchen am Herd war. Zugegeben, die Tochter war sehr fleißig, sie gärtnerte, malte, kochte und backte – alles mit Begeisterung und in höchster Qualität. Die Kinder förderte sie bewundernswert und hoffte sicherlich, dass ihren Mädchen das große Los im Leben zufallen würde.
Ihr fiel auf, dass auch ihre Tochter sich bemühte, der folgenden Generation alle Chancen zu bieten, so wie sie selbst es früher für ihre Kinder getan hatte. Obwohl sie die Tochter immer wieder aufgefordert hatte, doch jene Möglichkeiten für sich zu nutzen, die Frauen heutzutage hatten. Als sie selber noch jung war, gab es noch keine Betreuung für Kinder an den Universitäten oder halbwegs familiengerechte Arbeitszeiten. Dafür hatte sie mit anderen Frauen erst kämpfen und sich als Emanze verspotten lassen müssen. Sie hatte gearbeitet, als ihr Mann studierte und kaum war er mit dem Studium fertig, beschwerte sich die Schwiegermutter, dass sie trotz des Kindes arbeitete. Im Gegensatz dazu war sie selber nun insgeheim unzufrieden mit der Tochter, weil die ihre Fähigkeiten nicht vermarktete.
Sie würde aufpassen müssen, nicht alle geplatzten Hoffnungen auf die Enkel zu projizieren und vielleicht wieder enttäuscht zu werden. Aber das würde nicht ausreichen als Grund für einen Selbstmord. Um Himmels willen dürften die Kinder niemals einen derartigen Druck empfinden! Denn da war noch ihr jüngerer Sohn und ihn hatte sie nicht verschonen können. Nicht, dass er ein Versager wäre, ganz im Gegenteil. Er war ehrgeizig und erfolgreich, sogar seine Doktorarbeit hatte er bereits abgeschlossen. Dieser Sohn hatte sie schon als Baby überrascht mit einem Einfühlungsvermögen, das ein Baby einfach nicht haben darf. Immer hatte er gespürt, wenn es ihr schlecht ging. Hatte sich bemüht, sie bei guter Stimmung zu halten, sie von dem schwarzen Loch der Verzweiflung fern zu halten, wenn ihr Mann beruflich unterwegs war und sie sich voller Angst mögliche Unfälle und Katastrophen ausmalte.
Und als dann ihr Mann so früh starb, hatte sie es nicht geschafft, den Sohn daran zu hindern, die Verantwortung und Aufgaben seines gestorbenen Vaters zu übernehmen. Sie wusste schon damals, dass diese Last für einen knapp Sechzehnjährigen zu schwer war. Damals war sie von ihrem Schmerz überwältigt und er wollte für sie stark sein. Auf Reisen war er ihr Beschützer, der Aufpasser, der sich zurechtfand und auf sie achtete. Zuhause übernahm er die Arbeiten, die ihr Mann früher erledigt hatte, versuchte ihr zu helfen, so gut er konnte.
Sie hatte ihn ermuntert, im Ausland zu studieren und sich vom Gefühl der Verantwortung für sie frei zu machen. Doch er hielt regelmäßig Kontakt zu ihr, richtete ihren Computer so ein, dass sie sich jederzeit sehen konnten. Natürlich hatte auch sie ihn unterstützt, wo immer sie konnte. Trotzdem wäre es unendlich lieblos, ihn mit ihrem Freitod zu konfrontieren. Von ihrem Ende wollte er nie etwas hören, selbst ihre Vorsorge-maßnahmen waren ihm unangenehm. Das Thema Tod war ihm unerträglich, kein Wunder.
Es war so schnell gegangen, nur sieben Wochen blieben ihrem Mann nach der tödlichen Diagnose. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen, hatte jeden Gedanken abgewehrt, ohne den geliebten Mann leben zu müssen. Doch dann musste sie ohne ihn weiterleben. Es war so viel zu erledigen. Die Firma musste geschlossen werden, der Sohn musste seine Schule gut schaffen, die Tochter mit drei Kleinkindern war an ihre Grenzen gekommen, die Eltern wären verzweifelt, wenn auch sie sich jetzt noch verabschiedet hätte. Also funktionierte sie, aber sie fühlte sich halbiert mit grausamen Schmerzen, die nicht nachließen.
Sie lernte, den Seelenschmerz hinter einer sachlichen Maske zu verstecken, weil die Familie ihr Leid kaum aushalten konnte. Beim ersten Weihnachten ohne den Mann hatten die Enkelkinder mit ihrer Freude über das geschmückte Zimmer, den Baum und die Geschenke ihre trüben Gedanken in Schach gehalten. Die eingeübten Gewohnheiten hatten ausreichend funktioniert. Auch in den folgenden Jahren wurden die alten Rituale beibehalten, ergänzt um das Musizieren und Singen der Enkelkinder. Inzwischen scheint es, dass eins der Mädchen wirklich überragend begabt ist mit ihrer Viola.
Das regelmäßige Diskutieren des Weihnachtsessens geschieht Anfang Dezember. Sie will dieses Jahr keine Plätzchen backen, denn die von der Tochter sind ohnehin viel besser, aber dann probiert sie doch ein Rezept mit Bananen, weil der Sohn schon Mitte des Monats kommt. Dieses Jahr hat sie die Familie erstaunt, weil sie es rigoros ablehnt, schon wieder einen gebratenen Vogel zu essen. Sie mag weder Gans noch Pute und alle wissen, dass auch ihr alter Vater kein Geflügel mag. Ebenso wenig wie Lamm, das auch ihr nicht schmeckt. Schweinefleisch kommt für die jüdische Familie der Tochter nicht in Frage. Doch sie werden die Herausforderung des gemeinsamen Essens irgendwie lösen, auch wenn keine Sahne in die Soße darf, das wäre nicht koscher.
Sie überlegt bereits, ob sie den Weihnachtsbaum rücksichtslos bunt oder dezent einfarbig schmückt. Was aber bestimmt fehlen wird, ist ein verrücktes einzelnes Teil im Baum, eine verbogene Gabel vielleicht oder eine Spülbürste, irgendein skurriles Teil, das ihr Mann immer heimlich in das Grün geschmuggelt hatte. Das ist allerdings seit 12 Jahren vorbei.
bisher habe ich Euch nur zugehört / Eure Beiträge gelesen. Jetzt will ich zeigen, warum ich trotz jahrelanger Depressionen immer noch leben kann. Auch wenn man glaubt, entsetzlich einsam und sinnlos zu sein: Das stimmt einfach nicht, es gibt immer Menschen, für die wir eine Bedeutung haben. Hier ist meine Geschichte dazu:
Bilanz zum Jahresende
Ach, was soll`s. Sie wird es auch diesmal tun. Zweiundsechzig mal hatte sie bereits Weihnachten gefeiert und sie war schon 44 mal dafür zuständig gewesen, dass dieses Fest so ablief, wie es alle erwarteten. Zum Advent wurde das Haus geschmückt, in der letzten Adventswoche die Krippe aufgestellt - eine kostbare Töpferarbeit ihrer Tochter- und in der Zeit dazwischen waren Geschenke zu verpacken, Kekse und Pralinen herzustellen. Der Weihnachtsbaum war dem Heiligen Abend vorbehalten.
Seit ihr jüngster Sohn - ein Nachkömmling - erwachsen war, hatte sie ab November manchmal daran gedacht, den Höhepunkt der Weihnachtszeit, den Heiligen Abend, einfach auszulassen. Sie stellte sich vor, allein in einem verschneiten Bergdorf, vielleicht in Österreich, die Weihnachtstage zu verbringen. Sie träumte von einer Pferdeschlittenfahrt, heißem Punsch, Spaziergängen mit dem Hund durch unberührte Schneelandschaften und viel Zeit zum Lesen. Ein freundliches Gasthaus mit guter Speisekarte würde ihr Quartier sein.
Dann wieder zweifelte sie an dem Plan und stellte sich vor, welche Schwierigkeiten der Hund mit seinen kurzen Beinen im tiefen Schnee haben würde oder wie andere Gäste den Tisch nahe am Kamin in der Gaststube besetzten und fröhlich Weihnachten feierten. Sie würden gute Laune und Lärm verbreiten und sie würde sich in ihr einsames Zimmer zurückziehen. Den Fernseher einschalten, um Verbindung zur Welt zu halten. Heiligabend hatten sie nie ferngesehen, sie wusste überhaupt nicht, wie das Programmangebot an diesem Abend war. Sicherlich angepasst an die Bedürfnisse alter, einsamer Menschen, zumindest bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, die sie schaute. Also würde das Programm vielleicht passen.
Einen Zimmerservice hätte das österreichische Gasthaus bestimmt nicht und für ein Getränk müsste sie wieder hinuntergehen in eine festlich geschmückte Gaststube zu fremden Menschen, die mit zu viel Alkohol zu fröhlich feierten. Sie würde sich ausgeschlossen fühlen, noch einmal mit dem Hund hinausgehen, heiß duschen und sich im Zimmer auf dem Bett ausstrecken. Dann würde sich die Verzweiflung zu ihr legen, sie in das tiefe schwarze Loch drücken. Sie würde keinen Widerstand leisten können. Hätte sie wohl daran gedacht, die gesammelten Medikamente in den Koffer zu packen? Und falls ja, würde sie nun endgültig Schluss machen, um die Seelenschmerzen niemals mehr zu spüren? Diese Vorstellung war ziehend verführerisch. Sie wäre fein heraus, aber was wäre mit den anderen?
Das fing doch schon mit dem Hund an: Wann würde der merken, dass sie tot ist und was würde das für ihn bedeuten? Er musste doch zum Morgenspaziergang raus, Fressen und Trinken bekommen. Würde die Sterbeversicherung ausreichen für den Heimtransport ihrer Leiche oder würde sie hier im Ort bestattet? Besonders nett wäre eine derartige Weihnachtsüberraschung mit Leichenwagen für die anderen Hotelgäste schließlich auch nicht. Ganz abgesehen von den Leuten zuhause. Das war eben der heikelste Punkt. Nicht nur für den Hund war sie verantwortlich, sondern auch für ihre hochbetagten Eltern. Ihre noch lebenden Geschwister sahen es als selbstverständlich an, dass sie sich darum kümmerte. Die Schwester lebte auf einem anderen Kontinent und fühlte sich in keiner Weise verantwortlich. Sie unterstützte trotz ihres Millionenvermögens die Eltern kein bisschen.
Bei diesem Gedanken spürte sie eine kleine, sorgfältig verborgene Wut auf die Eltern, die bei den äußerst seltenen Besuchen der Schwester so begeistert und dankbar dafür waren. Ein paar Stunden ihrer Zeit opferte diese Tochter ihnen alle zwei Jahre, ehe sie, wie ein Hubschrauber Schmutz aufwirbelnd, zu fröhlicheren Zielen aufbrach. Wenn die Eltern auf diese Tochter angewiesen wären, würden sie sich schnellstens im Altenheim wiederfinden. Auch ihr Bruder würde sich einfach auf seine Frau verlassen, wenn sie nicht mehr wäre, und von dieser Seite wäre ebenfalls nur das Altersheim zu erwarten. Außerdem hatten die Eltern es abgelehnt, von ihrer Schwägerin versorgt zu werden, was kein Wunder war bei ihrer „Hoppla-hier-komm-ich-Mentalität“. Feingefühl hatte die wirklich nicht.
Ihre Freundinnen würden sich vorwerfen, nicht aufmerksam genug gewesen zu sein, sie würde mit ihrem Abgang deren Gewissen belasten – fair wäre das überhaupt nicht. Aber noch viel wichtiger waren die eigenen Kinder und die Enkelkinder. Die würden sich um die Großeltern kümmern, wenn sie in ihr Bergdorf führe und davon ausgehen, dass sie gut gelaunt wiederkäme.
Drei Enkelkinder hatte sie von ihrer Tochter. Der Älteste wohnte inzwischen beim geschiedenen Vater, er könnte wahrscheinlich mit fast 16 Jahren ganz gut ohne sie auskommen – obwohl - in den Ferien besuchte er sie ja immer noch gern. Die jüngeren Enkeltöchter würden bestimmt verstört sein, wenn sie erführen, dass Oma G. freiwillig ausgestiegen war aus dem Abenteuer Leben. Hatte sie den Mädchen nicht immer wieder erzählt, wie viele Möglichkeiten ihnen das Leben böte, wenn sie weiter so erfolgreich und engagiert lernten? Diese Kinder waren wirklich vielversprechend. Sie würde eigentlich noch gerne sehen, was aus ihnen wird und vielleicht sogar Urenkel erleben. Aber dabei wäre das Risiko von Enttäuschungen hoch. Wie bei ihrer Tochter, die ihre vielen Talente nicht nutzte, sondern seit ihrer zweiten Ehe nur noch Heimchen am Herd war. Zugegeben, die Tochter war sehr fleißig, sie gärtnerte, malte, kochte und backte – alles mit Begeisterung und in höchster Qualität. Die Kinder förderte sie bewundernswert und hoffte sicherlich, dass ihren Mädchen das große Los im Leben zufallen würde.
Ihr fiel auf, dass auch ihre Tochter sich bemühte, der folgenden Generation alle Chancen zu bieten, so wie sie selbst es früher für ihre Kinder getan hatte. Obwohl sie die Tochter immer wieder aufgefordert hatte, doch jene Möglichkeiten für sich zu nutzen, die Frauen heutzutage hatten. Als sie selber noch jung war, gab es noch keine Betreuung für Kinder an den Universitäten oder halbwegs familiengerechte Arbeitszeiten. Dafür hatte sie mit anderen Frauen erst kämpfen und sich als Emanze verspotten lassen müssen. Sie hatte gearbeitet, als ihr Mann studierte und kaum war er mit dem Studium fertig, beschwerte sich die Schwiegermutter, dass sie trotz des Kindes arbeitete. Im Gegensatz dazu war sie selber nun insgeheim unzufrieden mit der Tochter, weil die ihre Fähigkeiten nicht vermarktete.
Sie würde aufpassen müssen, nicht alle geplatzten Hoffnungen auf die Enkel zu projizieren und vielleicht wieder enttäuscht zu werden. Aber das würde nicht ausreichen als Grund für einen Selbstmord. Um Himmels willen dürften die Kinder niemals einen derartigen Druck empfinden! Denn da war noch ihr jüngerer Sohn und ihn hatte sie nicht verschonen können. Nicht, dass er ein Versager wäre, ganz im Gegenteil. Er war ehrgeizig und erfolgreich, sogar seine Doktorarbeit hatte er bereits abgeschlossen. Dieser Sohn hatte sie schon als Baby überrascht mit einem Einfühlungsvermögen, das ein Baby einfach nicht haben darf. Immer hatte er gespürt, wenn es ihr schlecht ging. Hatte sich bemüht, sie bei guter Stimmung zu halten, sie von dem schwarzen Loch der Verzweiflung fern zu halten, wenn ihr Mann beruflich unterwegs war und sie sich voller Angst mögliche Unfälle und Katastrophen ausmalte.
Und als dann ihr Mann so früh starb, hatte sie es nicht geschafft, den Sohn daran zu hindern, die Verantwortung und Aufgaben seines gestorbenen Vaters zu übernehmen. Sie wusste schon damals, dass diese Last für einen knapp Sechzehnjährigen zu schwer war. Damals war sie von ihrem Schmerz überwältigt und er wollte für sie stark sein. Auf Reisen war er ihr Beschützer, der Aufpasser, der sich zurechtfand und auf sie achtete. Zuhause übernahm er die Arbeiten, die ihr Mann früher erledigt hatte, versuchte ihr zu helfen, so gut er konnte.
Sie hatte ihn ermuntert, im Ausland zu studieren und sich vom Gefühl der Verantwortung für sie frei zu machen. Doch er hielt regelmäßig Kontakt zu ihr, richtete ihren Computer so ein, dass sie sich jederzeit sehen konnten. Natürlich hatte auch sie ihn unterstützt, wo immer sie konnte. Trotzdem wäre es unendlich lieblos, ihn mit ihrem Freitod zu konfrontieren. Von ihrem Ende wollte er nie etwas hören, selbst ihre Vorsorge-maßnahmen waren ihm unangenehm. Das Thema Tod war ihm unerträglich, kein Wunder.
Es war so schnell gegangen, nur sieben Wochen blieben ihrem Mann nach der tödlichen Diagnose. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen, hatte jeden Gedanken abgewehrt, ohne den geliebten Mann leben zu müssen. Doch dann musste sie ohne ihn weiterleben. Es war so viel zu erledigen. Die Firma musste geschlossen werden, der Sohn musste seine Schule gut schaffen, die Tochter mit drei Kleinkindern war an ihre Grenzen gekommen, die Eltern wären verzweifelt, wenn auch sie sich jetzt noch verabschiedet hätte. Also funktionierte sie, aber sie fühlte sich halbiert mit grausamen Schmerzen, die nicht nachließen.
Sie lernte, den Seelenschmerz hinter einer sachlichen Maske zu verstecken, weil die Familie ihr Leid kaum aushalten konnte. Beim ersten Weihnachten ohne den Mann hatten die Enkelkinder mit ihrer Freude über das geschmückte Zimmer, den Baum und die Geschenke ihre trüben Gedanken in Schach gehalten. Die eingeübten Gewohnheiten hatten ausreichend funktioniert. Auch in den folgenden Jahren wurden die alten Rituale beibehalten, ergänzt um das Musizieren und Singen der Enkelkinder. Inzwischen scheint es, dass eins der Mädchen wirklich überragend begabt ist mit ihrer Viola.
Das regelmäßige Diskutieren des Weihnachtsessens geschieht Anfang Dezember. Sie will dieses Jahr keine Plätzchen backen, denn die von der Tochter sind ohnehin viel besser, aber dann probiert sie doch ein Rezept mit Bananen, weil der Sohn schon Mitte des Monats kommt. Dieses Jahr hat sie die Familie erstaunt, weil sie es rigoros ablehnt, schon wieder einen gebratenen Vogel zu essen. Sie mag weder Gans noch Pute und alle wissen, dass auch ihr alter Vater kein Geflügel mag. Ebenso wenig wie Lamm, das auch ihr nicht schmeckt. Schweinefleisch kommt für die jüdische Familie der Tochter nicht in Frage. Doch sie werden die Herausforderung des gemeinsamen Essens irgendwie lösen, auch wenn keine Sahne in die Soße darf, das wäre nicht koscher.
Sie überlegt bereits, ob sie den Weihnachtsbaum rücksichtslos bunt oder dezent einfarbig schmückt. Was aber bestimmt fehlen wird, ist ein verrücktes einzelnes Teil im Baum, eine verbogene Gabel vielleicht oder eine Spülbürste, irgendein skurriles Teil, das ihr Mann immer heimlich in das Grün geschmuggelt hatte. Das ist allerdings seit 12 Jahren vorbei.