SSRIs müssen neu bewertet werden
Verfasst: 23. Dez 2003, 12:49
Artikel von der Homepage der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. http://www.akdae.de/49/947_2003_044.html
Neuere Antidepressiva (SSRI) und Suizidalität - klärungsbedürftiges Risiko oder Panikmache?
Suizidalität ist häufig, aber nicht immer, Ausdruck einer depressiven Störung. Die Annahme erscheint somit folgerichtig, dass eine adäquate antidepressive Therapie im Allgemeinen das Risiko eines vollendeten Suizids reduziert. Es erscheint somit fast paradox, dass seit langer Zeit Antidepressiva, insbesondere im Hinblick auf ihre antriebssteigernden Effekte, selbst als mögliche Ursache für die Realisierung eines Suizids kritisch diskutiert werden (1).
Seitdem jedoch die US Food and Drug Administration (FDA) ihre Warnung publiziert hat, Kinder und Jugendliche nicht mit neueren Antidepressiva, insbesondere solchen vom Typ der SSRI zu behandeln, hat sich die allgemeine Presse dieses Themas angenommen und auch in der Fachwelt ist Nervosität spürbar. Gelten doch verständlicherweise SSRI wie auch andere neuere Antidepressiva wegen ihrer geringeren Toxizität als besonders vorteilhaft in der ambulanten Behandlung suizidaler Patienten. Was ist aus Sicht des AkdÄ-Vorstandes zu dem Verdacht zu sagen, SSRI könnten möglicherweise selbst Suizidgedanken und suizidale Handlungen auslösen?
Der aktuelle Hintergrund sind zum einen Ergebnisse verschiedener Studien und - methodisch freilich nicht unproblematischer - Metaanalysen, die auf ein erhöhtes Risiko suizidaler Handlungen unter der Therapie mit Vertretern dieser Substanzklasse, insbesondere auch bei Kindern und Jugendlichen, hinweisen (2). Zum anderen hat die BBC-Sendung "Panorama" darauf aufmerksam gemacht, dass bei Befragung von Patienten zu den Erfahrungen, die sie mit SSRI gemacht haben, sich ein (scheinbar) ganz anderes Bild von den unerwünschten Wirkungen dieser Substanzen ergibt ("electric head", gravierende Absetzeffekte, Suizidalität etc.), als es im allgemeinen bisher aufgrund klinischer Studien und der Ergebnisse aus den regulären Spontanerfassungssystemen dargestellt wurde (3). Die Konsequenzen, die sich daraus für eine zukünftige europäische Pharmakovigilanz ergeben, wurden auf einer Tagung der internationalen Vereinigung unabhängiger, pharmakritischer Arzneimittelbulletins (ISDB) in Berlin diskutiert, zu der gemeinsam die Herausgeber von Arzneimittelbrief, arznei-telegramm, Arzneiverordnung in der Praxis und BUKO-Pharmakampagne eingeladen hatten. Hierzu wird in Kürze eine Deklaration der ISDB erscheinen.
Der Verdacht, dass möglicherweise gerade SSRI Suizidalität bei einzelnen Patienten (keineswegs nur bei Kindern und Jugendlichen) de novo auslösen oder sie verstärken können, ist jedoch nicht neu. Auch Prof. Müller-Oerlinghausen, der Vorsitzende der AkdÄ, hat bereits vor Jahren auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht (4). Seine wesentlichen Argumente fasste er kürzlich noch einmal in einem Leserbrief an das arznei-telegramm zusammen, auf den hier verwiesen sei (5). Sehr nachdenklich stimmen in diesem Zusammenhang auch Publikationen von David Healy (6, 7), aus denen hervorgeht, dass sogar bei gesunden Versuchspersonen unter SSRI de novo Suizidideen auftreten können. Im Rahmen der Spontanerfassung sind der AkdÄ Berichte über suizidale Handlungen im Zusammenhang mit der Einnahme von SSRI zugegangen, die in einer kürzlichen Sitzung des Ausschusses "Unerwünschte Arzneimittelwirkungen" mit psychiatrischen Fachmitgliedern diskutiert wurden. Über das Ergebnis wird an anderer Stelle demnächst berichtet.
Die AkdÄ begrüßt, dass die genannten Beobachtungen voraussichtlich zu einer kritischen Neubewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses von SSRI bei den Arzneimittelbehörden, wie z. B. der FDA führen werden. Das Thema wird in einer mit Spannung erwarteten gemeinsamen Sitzung des "Psychopharmacologic Drugs Advisory Committee" und des "Pediatric Subcommittee of the Anti-Infective Drugs Advisory Committee" der FDA am 02.02.2004 diskutiert werden. Bei der Verordnung von SSRI sollte das potentielle Risiko, das im Zusammenhang mit den exzitatorischen Nebenwirkungen von SSRI stehen könnte, auch im Aufklärungsgespräch mit dem Patienten, berücksichtigt werden. Die AkdÄ bittet, ihr einschlägige Beobachtungen mitzuteilen.
Unabhängig von den hier zur Debatte stehenden möglichen Risiken der SSRI, insbesondere im Kindes- und Jugendalter, ist festzuhalten, dass bei depressiven Erwachsenen und Älteren ein Suizid bevorzugt dann auftritt, wenn sie entweder kein Antidepressivum erhalten oder es nicht eingenommen haben (8, 9).
In der demnächst erscheinenden Neuauflage der Leitlinie der AkdÄ zur Therapie der Depression wird deshalb auf die Notwendigkeit einer adäquaten antidepressiven Therapie bei Suizidalität verstärkt eingegangen, wobei auch die antisuizidalen Effekte von Lithiumsalzen (10) in besonderer Weise berücksichtigt werden.
Literatur
Möller H-J: Antidepressants - Do they decrease or increase suicidality? Pharmacopsychiatry 1992; 25: 249-253.
Healy D: Lines of evidence on the risks of suicide with selective serotonin reuptake inhibitors. Psychotherapy Psychosomatics 2003; 72: 71-79.
Medawar C, Herxheimer A, Bell A, Jofre S: Paroxetine, Panorama and user reporting of ADRs: Consumer intelligence matters in clinical practice and post-marketing drug surveillance. Int J Risk Safety Med 2002; 15: 161-169.
Müller-Oerlinghausen B, Berghöfer A: Antidepressants and suicidal risk. J Clin Psychiatry 1999; 60 (Suppl 2): 94-99.
Müller-Oerlinghausen B: Zur Suizidalität unter Paroxetin. arznei-telegramm 2003; 34: 70.
Tranter R, Healy H, Cattell D, Healy D: Functional effects on agents differentially selective to noradrenergic or serotonergic systems. Psychol Med 2002; 32: 517-524.
Healy D: Antidepressant induced suicidality. Prim Care Psychiatry 2000; 6: 23-28.
Isacsson G, Wasserman D, Bergman U: Self-poisonings with antidepressants and other psychotropics in an urban area of Sweden. Ann Clin Psychiatry 1995; 7: 113-118.
Pitkala K, Isometsy ET, Henriksson MM, Lonnqvist JK: Elderly suicide in Finland. Int Psychogeriatr 2000; 12: 209-220.
Anonym: Lithium-Therapie bei der manisch-depressiven Erkrankung: Immer noch der Standard? Arzneimittelbrief 2003; 37: 49-51.
Neuere Antidepressiva (SSRI) und Suizidalität - klärungsbedürftiges Risiko oder Panikmache?
Suizidalität ist häufig, aber nicht immer, Ausdruck einer depressiven Störung. Die Annahme erscheint somit folgerichtig, dass eine adäquate antidepressive Therapie im Allgemeinen das Risiko eines vollendeten Suizids reduziert. Es erscheint somit fast paradox, dass seit langer Zeit Antidepressiva, insbesondere im Hinblick auf ihre antriebssteigernden Effekte, selbst als mögliche Ursache für die Realisierung eines Suizids kritisch diskutiert werden (1).
Seitdem jedoch die US Food and Drug Administration (FDA) ihre Warnung publiziert hat, Kinder und Jugendliche nicht mit neueren Antidepressiva, insbesondere solchen vom Typ der SSRI zu behandeln, hat sich die allgemeine Presse dieses Themas angenommen und auch in der Fachwelt ist Nervosität spürbar. Gelten doch verständlicherweise SSRI wie auch andere neuere Antidepressiva wegen ihrer geringeren Toxizität als besonders vorteilhaft in der ambulanten Behandlung suizidaler Patienten. Was ist aus Sicht des AkdÄ-Vorstandes zu dem Verdacht zu sagen, SSRI könnten möglicherweise selbst Suizidgedanken und suizidale Handlungen auslösen?
Der aktuelle Hintergrund sind zum einen Ergebnisse verschiedener Studien und - methodisch freilich nicht unproblematischer - Metaanalysen, die auf ein erhöhtes Risiko suizidaler Handlungen unter der Therapie mit Vertretern dieser Substanzklasse, insbesondere auch bei Kindern und Jugendlichen, hinweisen (2). Zum anderen hat die BBC-Sendung "Panorama" darauf aufmerksam gemacht, dass bei Befragung von Patienten zu den Erfahrungen, die sie mit SSRI gemacht haben, sich ein (scheinbar) ganz anderes Bild von den unerwünschten Wirkungen dieser Substanzen ergibt ("electric head", gravierende Absetzeffekte, Suizidalität etc.), als es im allgemeinen bisher aufgrund klinischer Studien und der Ergebnisse aus den regulären Spontanerfassungssystemen dargestellt wurde (3). Die Konsequenzen, die sich daraus für eine zukünftige europäische Pharmakovigilanz ergeben, wurden auf einer Tagung der internationalen Vereinigung unabhängiger, pharmakritischer Arzneimittelbulletins (ISDB) in Berlin diskutiert, zu der gemeinsam die Herausgeber von Arzneimittelbrief, arznei-telegramm, Arzneiverordnung in der Praxis und BUKO-Pharmakampagne eingeladen hatten. Hierzu wird in Kürze eine Deklaration der ISDB erscheinen.
Der Verdacht, dass möglicherweise gerade SSRI Suizidalität bei einzelnen Patienten (keineswegs nur bei Kindern und Jugendlichen) de novo auslösen oder sie verstärken können, ist jedoch nicht neu. Auch Prof. Müller-Oerlinghausen, der Vorsitzende der AkdÄ, hat bereits vor Jahren auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht (4). Seine wesentlichen Argumente fasste er kürzlich noch einmal in einem Leserbrief an das arznei-telegramm zusammen, auf den hier verwiesen sei (5). Sehr nachdenklich stimmen in diesem Zusammenhang auch Publikationen von David Healy (6, 7), aus denen hervorgeht, dass sogar bei gesunden Versuchspersonen unter SSRI de novo Suizidideen auftreten können. Im Rahmen der Spontanerfassung sind der AkdÄ Berichte über suizidale Handlungen im Zusammenhang mit der Einnahme von SSRI zugegangen, die in einer kürzlichen Sitzung des Ausschusses "Unerwünschte Arzneimittelwirkungen" mit psychiatrischen Fachmitgliedern diskutiert wurden. Über das Ergebnis wird an anderer Stelle demnächst berichtet.
Die AkdÄ begrüßt, dass die genannten Beobachtungen voraussichtlich zu einer kritischen Neubewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses von SSRI bei den Arzneimittelbehörden, wie z. B. der FDA führen werden. Das Thema wird in einer mit Spannung erwarteten gemeinsamen Sitzung des "Psychopharmacologic Drugs Advisory Committee" und des "Pediatric Subcommittee of the Anti-Infective Drugs Advisory Committee" der FDA am 02.02.2004 diskutiert werden. Bei der Verordnung von SSRI sollte das potentielle Risiko, das im Zusammenhang mit den exzitatorischen Nebenwirkungen von SSRI stehen könnte, auch im Aufklärungsgespräch mit dem Patienten, berücksichtigt werden. Die AkdÄ bittet, ihr einschlägige Beobachtungen mitzuteilen.
Unabhängig von den hier zur Debatte stehenden möglichen Risiken der SSRI, insbesondere im Kindes- und Jugendalter, ist festzuhalten, dass bei depressiven Erwachsenen und Älteren ein Suizid bevorzugt dann auftritt, wenn sie entweder kein Antidepressivum erhalten oder es nicht eingenommen haben (8, 9).
In der demnächst erscheinenden Neuauflage der Leitlinie der AkdÄ zur Therapie der Depression wird deshalb auf die Notwendigkeit einer adäquaten antidepressiven Therapie bei Suizidalität verstärkt eingegangen, wobei auch die antisuizidalen Effekte von Lithiumsalzen (10) in besonderer Weise berücksichtigt werden.
Literatur
Möller H-J: Antidepressants - Do they decrease or increase suicidality? Pharmacopsychiatry 1992; 25: 249-253.
Healy D: Lines of evidence on the risks of suicide with selective serotonin reuptake inhibitors. Psychotherapy Psychosomatics 2003; 72: 71-79.
Medawar C, Herxheimer A, Bell A, Jofre S: Paroxetine, Panorama and user reporting of ADRs: Consumer intelligence matters in clinical practice and post-marketing drug surveillance. Int J Risk Safety Med 2002; 15: 161-169.
Müller-Oerlinghausen B, Berghöfer A: Antidepressants and suicidal risk. J Clin Psychiatry 1999; 60 (Suppl 2): 94-99.
Müller-Oerlinghausen B: Zur Suizidalität unter Paroxetin. arznei-telegramm 2003; 34: 70.
Tranter R, Healy H, Cattell D, Healy D: Functional effects on agents differentially selective to noradrenergic or serotonergic systems. Psychol Med 2002; 32: 517-524.
Healy D: Antidepressant induced suicidality. Prim Care Psychiatry 2000; 6: 23-28.
Isacsson G, Wasserman D, Bergman U: Self-poisonings with antidepressants and other psychotropics in an urban area of Sweden. Ann Clin Psychiatry 1995; 7: 113-118.
Pitkala K, Isometsy ET, Henriksson MM, Lonnqvist JK: Elderly suicide in Finland. Int Psychogeriatr 2000; 12: 209-220.
Anonym: Lithium-Therapie bei der manisch-depressiven Erkrankung: Immer noch der Standard? Arzneimittelbrief 2003; 37: 49-51.