Das Husten der Flöhe?

Amy_h_S_
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Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Amy_h_S_ »

Liebe Foris,

...wie fange ich jetzt an...?

Wie ich heute wieder festgestellt habe, lasse ich mich total beeinträchtigen von diffusen Wahrnehmungen / Interpretationen, dass es meinem Gegenüber irgendwie schlecht gehen könnte. Ob das dann reine Projektion ist, zutrifft, oder etwas komplett anderes bedeutet, überprüfe ich nicht immer. (Wenn doch, trifft es allerdings schon wohl häufig zu, deshalb bleibt es wohl auch so wirksam - oder aber ich überprüfe womöglich eher dann, wenn das Gefühl deutlicher ist????). Doch egal wie - ich kann mich dann überhaupt nicht mehr gut auf etwas anderes konzentrieren...

Heute war das so in der Therapiestunde: Beim Reinkommen hatte ich diese komische Ahnung, dass meine Therapeutin traurig sein könnte. Ich kann nicht mehr genau sagen, woran ich das festgemacht habe und sie war gewohnt professionell und hat mir heute extrem weitergeholfen. Könnte also auch ein Hirngespinst sein - und doch... ach ich weiß nicht. Ich habe mich nicht getraut sie zu fragen bzw. die Idee, dass ich sie tatsächlich danach fragen könnte, ist mir erst später überhaupt gekommen.

Stattdessen habe ich sie den Großteil der Stunde über ganz genau beobachtet, zwischendurch Lachen provoziert und musste mich regelrecht gewaltsam zwingen, von meinem Heul-Tag und dem gestrigen Brutalaufschlag auf der "Depri-Null-Linie" zu erzählen. Das kam mir noch blöder und jammeriger vor als ohnehin schon. Das ist doch bescheuert! Anstatt die "Flöhe" mal zu thematisieren!
Andererseits: wieso verstehe ich solche (Mein-Gegenüber-könnte-sich-schlecht-fühlen-Ahnungen) immer sofort als Appell? So nach dem Motto: Kümmere dich! Oder vielmehr, in Kritikers Worten: "TYPISCH egozentrische Kuh, hast mal wieder xyz im Stich gelassen! Dir geht eh alles am A*** vorbei!"

Kennt ihr sowas? Diese vage Idee, etwas Schlimmes könnte jdm widerfahren sein und gleichzeitige totale Lähmung? (Oder liegt das nur an meinen sozialen Ängsten?)
Könnt ihr darauf reagieren? Wäre es überhaupt gut, das immer klären zu wollen? Vielleicht mag mein Gegenüber ja gar nicht (zu mir und jetzt) etwas dazu sagen bzw. gar darüber reden? Komme ich nur auf solche Ideen, weil's mir selbst gerade nicht gut geht?

Sorry ich dreh mich heute mit solchen Sackgassen-Gedanken im Kreis. Aber Aufschreiben macht's heute auch irgendwie nicht klarer. Grrrrmpf!
löschen oder abschicken??

Luftholen,... Abschicken = Stinkefinger für das Ich-muss-alles-allein-raffen-Muster...

glg und sorry für die stimmungsgerechte Wortwahl z.T., Amy
BD
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Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von BD »

Liebe Amy,

ich möchte Dir gerne antworten, weil ich Dich und Deine Antworten sehr schätzen gelernt habe und Dich wissen lassen möchte, dass ich mitlese und es mir leid tut, dass Du so im Gedankenkarussel steckst.

Leider kenne ich sowas kaum, daher tue ich mir mit Tipps schwer. Generell habe ich aber für mich die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, andre Leute anzusprechen und nachzufragen als sich ständig selbst zu fragen was hat der o.ä.. Anscheinend lässt es dich ja nicht los.

Wenn das allerdings immer bei Situationen auftritt wo das Gefühl hast, dem andren gehts schlecht musst Du vielleicht schon auch lernen, dass Du nicht für andre verantwortlich bist, für Deine Therapeutin schon gar nicht.

Ehrlich gesagt, würde ich das was Du erlebt hast direkt beim nächsten Theapeigespräch einbringen und ihr offen davon erzählen. Deshalb gehen wir ja zur Therapie, um solche Dinge zu besprechen.

So das war jetzt doch ein Ratschlag, vielleicht hilfts dir was.

Ich wünsche Dir auf jeden Fall alles Gute und dass Du schnell aus dem Grübeln wieder rauskommst.

LG und wenn Du magst eine Umarmung
Waldsee
Amy_h_S_
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Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Amy_h_S_ »

DANKE liebe Waldsee!!!!

Du hast mir gerade gezeigt, wie gut es ist nicht alleine auf dem Karussell hocken zu bleiben.

Weil du nämlich recht hast: Ich sollte das beim nächsten Mal ansprechen.
Und ich drehe mich im Kreis, weil es mir so unglaublich unangenehm ist und ich lieber tausend andere Fragen mit hinein kreise, anstatt mich dem Ansprechen zu stellen...

Wer hat hier mal geschrieben: Immer dahin wo die Angst ist?
Nur ein paar wahre Worte und doch soo schwierig umzusetzen. Aber ich nehme mir das vor. *mutbröckchenvombodenkratz*

DANKE! und gerne Umarmung zurück!
Amy
chrigu
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Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von chrigu »

Hi Amy,

vielleicht ist das gar keine Projektion, sondern wirklich ein feines Gefühl für die Stimmung anderer? Letzteres kenne ich (vielleicht ist das auch gar nicht das, was Du erlebst, aber ich versuche trotzdem, es Dir zu schildern, eventuell steckt ja etwas für Dich drin).

Manchmal bin ich hypersensibel für die Stimmung von anderen. Der Effekt ist dann (wenn ich es nicht rechtzeitig merke), dass ich die Stimmung entweder übernehme und mich am Ende des Tages wundere, warum ich zB traurig bin, obwohl gar kein Grund besteht. Oder es geht mir wie Du und ich fühle mich plötzlich dafür verantwortlich, den anderen aufzumuntern. Wobei es natürlich auch sein kann, dass diese Verantwortung aus der Erfahrung resultiert, dass die Stimmung auf mich abfärbt und ich das nicht will und deshalb für bessere Stimmung sorge.

Lange Zeit habe ich mich übrigens für unsensibel gehalten, bis ich verstanden habe, dass ich wegen dieser Supersensibilität offenbar einen ziemlich guten Schutzwall aufgebaut hatte. Mittlerweile ist der Schutzwall nicht mehr so ausgeprägt da und wenn es mir selbst nicht gut geht, dann fällt es mir schwer, mich von den Stimmungen anderer zu "distanzieren".

Ein richtig gutes Rezept dafür habe ich noch nicht gefunden.

Einen Grund für diese Sensibilität meine ich aber zu kennen: Das ist ein Muster, dass mir als Kind oft geholfen hat. In meiner Familie wird über Emotionen selten gesprochen, zumindest über negative, also habe ich eben gelernt, diese zu lesen. Und gleichzeitig habe ich auch gelernt, mich dafür verantwortlich zu fühlen.

Hilft Dir das vielleicht?

Herzliche Grüße
Chrigu
Ulysses
Beiträge: 594
Registriert: 19. Jan 2013, 17:34

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Ulysses »

Liebe Amy,

ja, ich kenne dieses Karussell, könnte manche Sätze von Dir fast wörtlich so für mich tippen.

Ich kann Dir dazu keine "gesammelten, schlauen Erkenntnisse" schreiben, weil ich an diesem Punkt noch oft selber hänge und es einfach nicht fertigbringe, vom Karussell abzusteigen. Obwohl mir schon ganz schlecht ist davon.

Aber ich weiß mittlerweile, so ähnlich wie hier schon erwähnt, dass es eine Art Schutzmechanismus ist, der von ganz klein auf antrainiert ist. Es war für mich zum Teil existentiell wichtig, Stimmungen und vor allem Schwankungen und negative Schwingungen so bald wie möglich zu spüren, um darauf reagieren zu können.

Weil ich passend zu den äußeren Bedingungen auf diesem Gebiet anscheinend talentiert war, hab ich das sehr, sehr gut und schnell gelernt. So habe ich ein Pseudo-Gefühl von "Handlungsfähigkeit" entwickelt, was auf der Kontrolle und Beeinflussung der Gefühle anderer aufgebaut hat.

Später habe ich auch anderen Gewinn aus dieser "Fähigkeit" gezogen, nämlich den Ruf, die beste Zuhörerin der Welt zu sein, am besten auf den Kummer anderer eingehen zu können, immer einen passenden Rat zu haben, schon zu wissen wie es dem anderen geht, noch bevor er etwas sagt...

Besonders schmerzhafte Kehrseite dieser Medaille: Wirkliche, echte emotionale Nähe funktioniert so nicht. Ich habe heute noch in engen Freundschaften und Beziehungen Schwierigkeiten, diese "Gedankenleser-Position" aufzugeben. Auch mal auszuhalten, dass es jemandem schlecht geht und ich daran nix tun kann. Und sollte. Weil jeder das Recht auf seinen Kummer hat. Und dass es, wenn ich das nicht aushalte, dann mein (von früher erlerntes) Problem ist.

Mehr kann ich grad dazu nicht schreiben, ist mir aus aktuellem Anlass im Alltag zu nah. Aber ich freue mich über Deinen Thread, Amy, hat mich wieder zur Auseinandersetzung angeregt. Vielleicht funktionieren demnächst meine Gedanken dazu wieder besser....

Herzliche Grüße

Ulysses
gost
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Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von gost »

Hallo Amy,
ich kann mich Ulyssis anschließen.

Vielleicht solltest Du das Buch doch mal lesen.

Der Autor sagt dazu das das eine Anpassungsleistung ist und die wer weiß wie lange schon so läuft.
Der Depressive passt sich an die Situationen an. Und vergisst damit sich selbst.

Das kann dann in einer Anpassungsstörung enden.

Die Antwort gibt der Autor hiermit:

"Sich zu erlauben , Platz einzunehmen und für die anderen wahrnehmbarer zu werden, ist das neue Credo.

Zuerst komm ich und dann der Weg"

Heißt für mich, daß ich mich frage ob ich bereit bin in diese Situation zu gehen(zu helfen, zuzuhören usw.)oder ob ich mich distanziere und dann auch zu meiner Entscheidung zu stehen, ohne Schuldgefühle.

Ich muss auch noch an diesem Thema arbeiten. Aber Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Hope so.

Liebe Grüße
rm
Beiträge: 2209
Registriert: 5. Nov 2006, 15:46

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von rm »

Guten Morgen Amy,

ich finde, da hast Du ein ganz wichtiges Thema angeschnitten und:

Flöhe kann man auch lustig finden, seien sie auch noch so sensibel und anfällig für's Husten. Ich jedenfalls empfinde dieses sensible Ohr in mir als äußerst hilfreich mittlerweile und glaube fest daran:

..lieber ein zuuu snsibles Ohr, als ein unsensibles 'Miteinander'.

Du bist Ok, so wie Du bist, und das ist gut so (empfinde ich jedenfalls so ).

Herzliche Grüße,
Reinhart
Amy_h_S_
Beiträge: 299
Registriert: 18. Okt 2012, 14:17

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Amy_h_S_ »

Guten Morgen ihr Lieben!

Ihr könnte euch gar nicht vorstellen, wie dankbar ich euch allen für eure Antworten bin!!! Ich war gestern zu platt um weiter zu antworten, bin früh ins Bett und habe tatsächlich gut geschlafen!

@chrigu: Ja, das hilft mir sehr!!! Genau über dieses feine Gespür für die Stimmung von anderen habe ich mit meiner Therapeutin sogar schon gesprochen. Und ich dachte anfangs sie nimmt mich auf den Arm, weil ich mich selbst bis dato eher als unsensibel und kaltschnäuzig beschrieben hätte. Aber so wie du den Schutz-Mechanismus dahinter beschreibst, fange ich wirklich an, es zu verstehen.

Einer der Gründe, die diese gespannte Aufmerksamkeit auf die Stimmungslage meiner Umgebung aufrechterhalten, liegt bei mir, wenn ich das so überdenke, wohl leider auch in der Sozialangst. Eine Art Sicherheitsverhalten. Verbunden mit der Vorstellung: Wenn ich wüsste wie es meinem Gegenüber gerade geht, könnte ich irgendwie angemessener reagieren. Am liebsten die (gefühlte) Dauer-Gefahr von Fettnäpfchen, etwas Dummes und/oder Unpassendes zu sagen, eine heikle Frage zu stellen usw. verkleinern können.
Aber wenn ich das tatsächlich so steuern könnte, würde es ja gruseligerweise an Manipulation grenzen… Das kann ich doch nicht ernsthaft wollen!?

Entsprechend könnte ich vielleicht besser versuchen meinem Sicherheitsbedürfnis und dem Wunsch bei meiner eigenen Stimmung zu bleiben (v.a. wenn sie denn mal gut ist ) auf andere Weise zu begegnen. Zu wissen, dass ich für die Gefühle der anderen nicht verantwortlich bin, reicht allein noch nicht ganz aus. Denn gerade bei meiner Therapeutin ist es das beste Beispiel: Für sie bin ich nun wirklich nicht verantwortlich – das wäre im Gegenteil wohl eher anmaßend.


@Ulysses: Auch mal auszuhalten, dass es jemandem schlecht geht und ich daran nix tun kann. Und sollte. Weil jeder das Recht auf seinen Kummer hat. Und dass es, wenn ich das nicht aushalte, dann mein (von früher erlerntes) Problem ist.

Damit hast du dermaßen den Nagel auf den Kopf getroffen. Und mir ist dadurch klargeworden, warum mich das gerade jetzt so beschäftigt. Ich fühle mich zurzeit häufig extrem hilflos und fassungslos, weil es zwei Freundinnen total mies geht und es so wehtut ihre Trauer und ihren Schmerz zu sehen. (Ich mag darüber grad nicht ausführlich schreiben.) Also versuche ich (ungute) Schleichwege gegen meine Hilflosigkeit zu finden…
Ja, du hast recht, wirkliche emotionale Nähe funktioniert über das Vorher-Ahnen gerade nicht.

Was ich außerdem noch mache – ich katastrophisiere. Ich versuche nicht nur den Schmerz meines Gegenübers zu erahnen, sondern baue daraus dann Horror-Szenarien. Mir fallen gerade mehrere Situationen ein, in denen ich zwar gemerkt habe, dass etwas nicht stimmte, aber in denen meine Weltuntergangs-Vorstellungen sich dann als völlig überzogen herausgestellt haben. So als ob der Schmerz geringer ausfallen würde, wenn er mich nicht überraschen kann!? Sich wappnen, einpanzern, gefasst auf etwas machen? Wäre jedenfalls dann kein Wunder, dass ich mich als gefühlskalt erlebt habe – sollte ja bloß nichts mehr durchdringen und mögliche Überraschungsangriffe sollten in den Anfängen erstickt werden. Oder so...


@gost: Yepp, der Giger-Bütler steht übrigens bereits auf meiner To-Buy-Liste! Zunächst will ich mir allerdings noch „Selbstachtung“ von McKay und Fanning besorgen. Daraus hat mir meine Therapeutin ein Kapitel über den pathologischen Kritiker kopiert und das fand ich so gelungen, gut geschrieben und erhellend, dass ich unbedingt gerne weiterlesen möchte.

Heißt für mich, daß ich mich frage ob ich bereit bin in diese Situation zu gehen(zu helfen, zuzuhören usw.)oder ob ich mich distanziere und dann auch zu meiner Entscheidung zu stehen, ohne Schuldgefühle. Ich ahne schon, dass DAS wieder mal viiiiieeel Übung erfordern wird für mich. Seufz. Aber es lohnt sich ja nunmal. So unabschätzbar sehr.


@Reinhard: jau, die lustigen Flöhe. Jetzt stelle ich mir gerade vor wie ich dem Problem mit einem Flohzirkus-Direktor zu Leibe rücke oder meiner Therapeutin und anderen mutmaßlich Traurigen wortlos eine Tube Flohschampoo in die Hand drücke… hihi
Was du schreibst zeigt mir nochmals einen weiteren sehr wichtigen Aspekt. Ich wünsche mir auch kein unsensibles Miteinander! Und das ist doch im Grunde ein schöner, erhaltenswerter Wunsch. Nur meine Wege dahin, die will ich gerne ändern und flexibler gestalten, nicht mehr so destruktiv-streng-rigoros.

Danke dir für diesen Satz: Du bist Ok, so wie Du bist, und das ist gut so (empfinde ich jedenfalls so ). Womöglich wird vieles einfacher, wenn ich es schaffe genau das zu verinnerlichen?!


Nochmals DANKE an euch, ich habe heute das Gefühl, irgendwas ist angekommen und vieles, was ich an Veränderungen der letzten Zeit vage, unbenannt, vorsichtig bemerkt habe, ist mir klarer geworden. Auch wo die alten Muster dann manchmal erst recht (wie aus Protest) laut werden und wie einige meiner Themen so verknäuelt zusammenhängen. Und auch klarer wohin ich gerne möchte und dass bitteschön das Karussell auch gerne mal ein paar Runden ohne mich drehen darf;)

Ich bin gerührt und meine Angst, das Thema nächste Woche anzusprechen, ist euretwegen von panikmäßiger hochnotpeinlicher (ich mag dieses Wort übrigens, eine Peinlichkeit, die sich so akut anfühlt, dass sie mich in Not versetzt) Horrorvorstellung auf magenzusammenzieh-unangenehm gesunken!

gglg von Amy
bigappel
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Registriert: 10. Dez 2010, 08:10

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von bigappel »

Liebe Amy,
hallo @ all,

ich bin "nur" Angehörige meines betroffenen Ehemannes, trotzdem interessiert mich Dein Thread sosehr, dass ich meine Erfahrungen sozusagen als "Zuschauer" kundtun möchte.

Bei meinem Mann ist u.a. Sozialphobie diagnostiziert, u.a. daraus resultierend Depressionen.

In seiner Familie wurde (und wird noch heute) so gut wie nicht gesprochen, über Gefühle schonmal gar nicht.

Obwohl aus gutem Hause, war die psychische und körperliche Gewalt der Mutter das Thema für meinen Mann und seine Geschwister.

Für ihn war es überlebensnotwendig rechtzeitig, bevor die Dame zuschlug, zu erkennen, in welchem emotionalen Gemütszustand sie denn wohl war, um neue psychische und körperliche Misshandlungen möglichst nicht weiter oder weniger erleiden zu müssen.

Heute, nach über 40 Jahren, hat er das "Gedankenlesen" und Gefühle lesen verinnerlicht.

Er handelt, natürlich gerade bei mir, genau so, wie von Ulysses und Dir, liebe Amy, beschrieben.........

Mittlerweile habe ich verstanden, wo es herkommt und dass es so schwer ist, obwohl ich mich massivst gegen das Erahnen meiner Gefühle wehre (ich hasse es!!!!), ich habe nämlich einen Mund und kann sagen, wenn ich etwas nicht will u.ä. , fällt er immer und immer wieder in das Erlernte.

Allerdings das "neue" Leben, mit mir, meinem Kind, hilft, neue Strategien und Muster zu entwickeln - ihm hilft es - ; das tut ihm gut.

Fazit: natürlich ist es gut, wie Ihr seid.
Emotionale Holzklötze sind auch nicht erstrebenswert, aber .......

traut Euch, die Emotionen des Gegenübers nicht - so massiv - anzunehmen,
traut Euch Euch zuzutrauen es auszuhalten,
wichtige Menschen auch mal traurig, weinend, genervt oder was auch immer zu sein, die packen das......
traut Euch, Thematiken anzusprechen, Gedanken- Gefühle lesen ist sicherlich in einem gewissen Rahmen gut, aber sprechen :
ansprechen: klärt und bringt Gewissheit.

Nur zu!

Heute - als Erwachsene/r - ist keiner mehr ausgeliefert.

Herzliche Grüße
Pia
Ein Tier zu retten, verändert nicht die Welt, aber die ganze Welt ändert sich für dieses Tier.
Sockenmonster
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Registriert: 5. Sep 2011, 13:14

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Sockenmonster »

Hallo,

Ich weiß eigentlich gar nicht so richtig, was ich dazu schreiben soll, aber mir kommt dieses Schema Gefühle zu "erspüren" und sie wenn möglich zu verbessern sehr bekannt vor.

Mir persönlich geht es mit negativen Gefühlen anderer so, zumindest im näheren Umfeld, bei meinen Kunden kann ich mich inzwischen weitestgehend abgrenzen. Ich bin stets und ständig dabei darauf zu achten wie mein Gegenüber reagiert und versuche entweder dem entgegen zu wirken oder aufzubauen.

In meiner Familie waren Gefühle nie das große Thema und ohne meine Therapeutin wäre ich wahrscheinlich auch heute noch der Meinung ein emotionaler Klotz zu sein, denn ich habe verlernt mich selbst und meine eigenen Gefühle richtig wahr zu nehmen.

Mir wurde gesagt, das hat auch etwas mit Abgrenzen zu tun, gerade die negativen Gefühle auch auszuhalten und vor allem, sie nicht gleich auf einen selbst zu beziehen.

Mir wäre es wahrscheinlich wie dir ergangen, Amy und danach hätte ich mich selbst darüber geärgert dass ich mein Thema gar nicht angebracht habe.

Wie ein besserer Umgang mit solchen Situationen möglich ist, habe ich bisher noch nicht heraus gefunden. Manchmal klappt es, mich selbst wichtig zu nehmen und auf mich und meine Gefühlslage einfach zu achten, aber manchmal ist noch eher Seltenheit.

Übernehmt ihr dann auch schon mal die aufgenommenen Gefühle? Mir fällt das in meiner Familie auf, dass ich ganz schnell die gereizte Stimmung auch selbst übernehme wenn ich dort zu besuch bin. Seltsamerweise übernehme ich mehr die negativen als positiven Stimmungen. Geht das auch anderen so?

Liebe Grüße
Socke




- - Wer im Glashaus sitzt, soll ruhig mit Steinen werfen, Scherben bringen Glück. - -
chrigu
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Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von chrigu »

Hallo Amy,

freut mich, dass Dir die Postings hier weiterhelfen. Mir nämlich auch!

Ulysses, das hier trifft es für mich sehr gut:
>Wirkliche, echte emotionale Nähe funktioniert so nicht.
Genau. Insofern möchte ich diese Art der Sensibilität gar nicht über Gebühr loben oder als besonders erstrebenswert erachten, weil sie nämlich keine gesunde Sensibilität ist. Sie verschiebt die Verantwortlichkeiten für Gefühle in eine ungesunde Schräglage, in erster Linie natürlich für mich als "Gefühleleser", aber auch für mein Gegenüber, das mich nicht als aus mir heraus handelnd erlebt, sondern gesteuert vom Erleben der fremden Gefühle.

Besonders intensiv erlebe ich das Übertragen und Lesen der Gefühle in Konfliktsituationen. Auch das passt wieder gut in mein Muster, weil auch das etwas ist, was ich nicht gelernt habe auszuhalten. Die Übersensibilität liefert da natürlich Auswege, die aber wiederum auch nicht gesund sind. Im Grunde entmündige ich damit ja auch mein Gegenüber, ziemlich gruselig eigentlich.

Insofern ist für mich das Gegenstück von einem zu sensiblen Ohr nicht der kalte Holzblock oder das unsensible Miteinander, sondern eine gesunde Sensibilität (die ich aber gerade nicht genau definieren kann).

@Socke: Ja, mir geht es auch so, dass ich Stimmungen übernehme. Mir fällt das vor allem bei negativen Stimmungen auf. Den Grund dafür weiß ich nicht so genau. Vielleicht denkt irgendetwas in mir, dass ich dann die schlechte Laune mitertrage und es so dem anderen leichter mache.

Dieses Phänomen beschränkt sich bei mir meistens auf mein näheres Umfeld, allerdings erlebe ich an mir manchmal auch, dass vor allem Kinder mit ihren Launen auf mich abfärben. Ich tippe, dass das vor allem mit dem Gefühl der Verantwortlichkeit zu tun hat. Puh, viel Denkmaterial!

Viele Grüße
Chrigu
Amy_h_S_
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Registriert: 18. Okt 2012, 14:17

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Amy_h_S_ »

Huhu

Also so blöd es ist, dass das Thema nicht nur mich plagt, ist es doch tröstlich zu lesen, dass ich damit nicht allein stehe.

@Pia: Deine Perspektive ist für mich ziemlich spannend und ergibt eine wichtige Motivation fürs Umlernen. Denn ich kann wirklich gut nachvollziehen, dass und warum es total nervt, wenn dein Mann versucht, deine Gefühle vorauszulesen. Bei mir hat sich die Sozialphobie auch zuerst entwickelt und immer mehr (Lebens-) Raum gegriffen bis die Depression hinzu kam bzw. darauf aufbaut(e). Bedeutet nun für meine Therapie, dass ich genau dort auch schwerpunktmäßig ansetzen muss, um mich gegen die depressiven Tendenzen besser zu schützen. Dass will ich mir immer wieder klarmachen, denn spaßig ist der Weg erstmal ganz und gar nicht…

Deshalb vielen lieben Dank für deine so überzeugenden Ermunterungsworte zum Schluss! Ich kann jeden Anstupser gebrauchen! Die Versuchung ist ja doch oft gemein groß sich in die alten Schleichwege zu verkriechen…

Das:
Allerdings das "neue" Leben, mit mir, meinem Kind, hilft, neue Strategien und Muster zu entwickeln - ihm hilft es - ; das tut ihm gut.

macht mir Mut! Es ist also möglich Neues an die Stelle der Vorweg-Ahnungen zu setzen und es freut mich, das zu lesen!!!


@Sockenmonster: Jau, darin mich hinterher zu ärgern, bin ich überhaupt auch ganz groß! Nur – es bringt ja nix, außer mir noch weitere Selbstabwertung. Also versuche ich mir die einzelnen Sachen einigermaßen zu verzeihen, irgendwie abzuhaken und stattdessen zu gucken, wie ich beim nächsten Mal weitermachen kann. Kann ich das Thema nochmal aufgreifen? Etwas nachträglich oder an anderer Stelle klären? Oder lässt es sich eben nicht mehr ändern und ich kann besser versuchen die Konsequenzen zu akzeptieren? So sieht zumindest der Plan aus – der gelingt allerdings bei weitem nicht immer… Ich bin halt überhaupt nicht schnell und geübt genug und in realen Situationen greift so ein automatisiertes Verhalten ratzfatz dazwischen – hinterher ist man dann schlauer, aber ist ja auch irgendwo unfair sich dann immer auf dieser Basis des besseren Überblicks zu verurteilen, oder?

Die Stimmungen zu übernehmen, das passiert mir auch häufig. Auch die positiven übrigens. Manchmal ohne, dass ich es richtig merke und manchmal lasse ich mich auch dankbar aufheitern. Aber es ist eben etwas anderes, ob ich mich für mich entscheide mich aufheitern zu lassen oder ob ich anfange das Prinzip anderen aufdrängen zu wollen, schätze ich. Wenn die Stimmung im Raum gereizt ist, kommt mir neben der Gereiztheit auch noch Unsicherheit u.a. in die Quere.

Das finde ich aber nochmal schwieriger ehrlich gesagt: In einem atmosphärisch vergifteten Raum den Ärger bei den anderen zu lassen. Hmm. Auch da hilft vermutlich ansprechen: Können und wollen wir das jetzt sofort klären oder können wir es für den eigentlichen Grund des Treffens erstmal beiseite lassen und vielleicht erklären womit es mir jetzt besser gehen würde. Wenn's zu schlimm wird, gehen? Naja ich muss ja nicht die Welt an einem Tag umschmeißen, ich mach erstmal nächste Woche weiter…;)

@chrigu: Ich bin hängengeblieben bei „ungesunde Sensibilität“ und „verschobene Verantwortung“ als Erklärungen, die ich vielleicht auch in der Situation selbst irgendwann schneller anwenden könnte...? Weil sie vieles gesammelt auf den Punkt bringen und so als eine Art Stoppschild funktionieren könnten? Ich habe mir gegen die Ängste noch so ein paar Signalwörter gesucht, die ich mir hervorhole, um mir selbst zu zeigen und mich zu erinnern, wo/wann ich aufpassen sollte.

In Konfliktsituationen verschärft sich das Ganze bei mir auch. Finde ich auch irgendwie logisch, weil die empfundene Gefahr dabei für mich größer ist und ich deshalb umso verbissener in die übliche vermeintlich (!) entlastende Verhaltensweise falle. Naja Schritt für Schritt.

Und ich unterschreibe, unterstreiche, ausrufezeiche „Puh, viel Denkmaterial!“ Ich werde das alles hier nochmal sacken lassen und mir eure Antworten wohl noch ziemlich häufig durchlesen!

DANKESCHÖN!
Lerana
Beiträge: 2088
Registriert: 4. Feb 2012, 18:42

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Lerana »

Liebe Amy,

ich kenne das auch!! Und wie!! Meine Therapeutin hat mal zu mir gesagt, ich solle ihre Arbeitsbelastung doch bitte mal ihre Sorgen sein lassen, aber gaaaaanz freundlich reagiert, als ich sie mal fragte, ob etwas nicht mit ihr stimme, sie sähe so müde aus.

Und ich habe wieder und wieder versucht, meine Therapeutin zu unterhalten. Sie hat das angesprcohen und gesagt, dass es ihr schwer falle, da nicht immer mitzugehen (z.B. wenn ich scherze), denn ich sei darin offenkundig Profi.

Auch für mich war das wichtig zu Hause zu wissen, wie es Mama so geht.

Jetzt kommt eine andere Sicht:
Meine Mutter kann, wenn ich mal von meinem Kummer erzähle, diesen gar nicht aushalten, denn sie weint dann sofort und es endet damit, dass ich sie trösten muss. Was ich damit sagen will ist, dass es gut ist emphatisch zu sein, dass übertriebene Ateilnahme jedoch auch schwierig sein kann, denn wenn man jemandem begenet und es einem schelcht geht, dann wünscht man sich ja eine Stütze und nicht jemanden, der mitleidet.

Ich kenne auch die furchtbare Angst, egozentrisch zu sein, nicht genug auf den anderen bedacht gewesen zu sein, es wieder gut machen zu müssen, wenn mich mal jemand getröstet hat....

Aber das erstaunlich ist, die Menschen um einen verschwinden nicht alle, wenn man sich nicht immer gleich auf ihre Stimmung stürzt. Ich weiß, das ist schwer und am aller schwersten ist es wohl, das schlechte Gewissen auszuhalten, dass man hat, wenn man anfängt, sich nicht mehr zuständig zu machen. Aber es lohnt sich, wie Pia es sagt, das auszuhalten und wie du hörst, kann man es ja auch zu gut meinen, übergriffig werden und das ist dann eher nervig. Immerhin Pia hasst es!

Ich grüße dich ganz, ganz herzlich!

Lerana
Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. (Francis Picabia)
Amy_h_S_
Beiträge: 299
Registriert: 18. Okt 2012, 14:17

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Amy_h_S_ »

Liebe Lerana,

eine ähnliche Frage hat meine Therapeutin mir zu einer anderen Situation sogar schon einmal gestellt. Das fällt mir erst jetzt wieder ein…

Ob es eine wirkliche Hilfe wäre, wenn ich mit einer Freundin, die leidet, haargenauso mitleiden würde und ob ich mir dieses Extrem umgekehrt wünschen würde, wenn’s mir schlecht geht und ich Unterstützung und Halt suche. Mit dem was du schreibst, wird es für mich anschaulicher (und damit hoffentlich besser zu merken). Denn anscheinend hatte ich das mal wieder beiseite geschoben, obwohl sich mehrere meiner Baustellen genau darum drehen. (olle Mistdemenz!)

Und darüber hinaus geht meine Vorstellung, besser (bis irgendwann übertrieben) und vorausschauend mitleiden müssen zu können eigentlich auch schon wieder in die Richtung: Stelle in möglichst allen Bereichen einen Perfektions-Rekord auf, sonst bist du eh nichts wert. Wähhh.

Aber dieses Übergriffige? - Neee da will ich echt ne Alternative finden!

Es ist sehr sehr traurig, dass du dich in deinem Kummer nicht an deine Mutter wenden kannst und noch nie konntest. Ich wünsche dir wirklich, dass der Plan der erholsamen Ferien mit viel Selbstfürsorge viel Gutes für dich tut!!! Und dass die Ausschleich-Holperei möglichst schnell abnimmt!

Aber das erstaunlich ist, die Menschen um einen verschwinden nicht alle, wenn man sich nicht immer gleich auf ihre Stimmung stürzt.

Ja, das stelle ich auch allmählich fest; die sind sogar ziemlich unerschütterlich in ihrer Freundschaft. (und wie gesagt, meine Kollegen/innen verzeihen mir, wie gerade ausprobiert, auch übles Gemotze.) Und trotzdem fühlt es sich oft noch (!) blöd an, verschiedene neue Strategien zu testen. Tausche blödes Gefühl gegen blödes Gefühl. Aber dann auch wieder etwas freier, größeren Einklang versprechend.


Vielen herzlichen Dank auch dir und glg von Amy
Ulysses
Beiträge: 594
Registriert: 19. Jan 2013, 17:34

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Ulysses »

Hallo Ihr,

dieser Thread beschäftigt mich gerade sehr. Auch wenn ich nicht auf jeden einzeln eingehen kann, in wirklich jedem Beitrag sind Gedanken enthalten, bei denen ich denke Ja, genau so!"

So ähnlich wie Pia es schreibt, war es für mich zum Teil existentiell wichtig, Gefühle und Stimmungen zu erahnen. Weil auch andere Beteiligte dann gemerkt haben, wie effektiv ich als Gedankenleserin arbeite, kam bald die ausgesprochene Forderung an mich, dies zu tun. (So nach dem Motto "Sag doch Du dem... dass ich... Bei Dir artet das nie so aus, Du kannst doch so gut vermitteln...") Also als Forderung von erwachsenen Personen an mich als Kind noch vor der Pubertät.

Die Vermischung von "Ich kann gut vermitteln, es klappt immer wieder" und der Schlussfolgerung "Dann bin auch ich schuld daran, wenn es stimmungsmäßig eskaliert, weil dann hab ich's nicht gut genug gemacht", die passiert in einem Kinderkopf ganz schnell automatisch. Und damit war der Grundstock für den auch oben schon angesprochenen Nebeneffekt des Gedankenlesens perfekt gelegt: Nämlich alle Stimmungen um mich herum grundsätzlich immer auf mich zu beziehen. Und deshalb bei schlechter Stimmung anderer grundsätzlich mit schlechtem Gewissen an der "Wiedergutmachung" zu arbeiten.

Diese extreme Stimmungslage ist nun schon lange her, es hat sich vieles verändert, aber das Grundkonzept ist hartnäckig und Überreste flammen immer mal wieder auf. Vor allem in engen Beziehungen.

Ich werte mich deshalb nicht mehr so ab wie früher. Denn diese Muster hatten ihren Sinn und haben mir Schutz geboten. Aber sie sind heute nicht mehr angemessen für mich. So wie man sich als Erwachsener nicht dafür schämen sollte, dass man mal zum Mitfahren im Auto einen Kindersitz benötigt hat, weil das ja Sicherheit gebracht hat, aber man sich keinen Gefallen tun würde, sich heute noch in einen solchen Sitz zu zwängen, oder so ähnlich...

Interessant finde ich, dass die Angst, ein "unsensibler Holzklotz" zu werden, wenn man sich abgrenzt, anscheinend auch bei vielen mitschwingt.

Für mich gibt es mittlerweile neben dem Extrem Holzklotz und dem Extrem Selbstaufgabe wirklich vieles dazwischen. Und ich kann die generelle Fähigkeit zur Empathie auch als ehrliche Qualität sehen. Entscheidendes Kriterium ist dabei für mich geworden, dass ich die Wahl haben möchte, die Wahl über mein eigenes Verhalten.

Also nicht generell und immer nur zuhören und Gedankenlesen, aber auch nicht generell und immer mich abgrenzen und hinter einer Schutzmauer verstecken. Ich will unterschiedliche Facetten von Verhalten können (ggf. üben) und mich entscheiden können. Ob ich heute zuhöre, Hilfe anbiete oder mich zurückziehen will. Und eben nicht aus Zwang, Angst und Hilflosigkeit "automatisch" handeln.

Dieses Konzept von "Ich will die Wahl haben" hat vieles für mich verändert, auch die Art, wie ich in der Therapie mit mir gearbeitet habe. Mir gefällt daran vor allem, dass nichts generell entwertet und beurteilt wird. Und dass die Betonung auf meiner eigenen Verantwortung liegt.

(Heißt nicht, dass das alles immer schon klappt, aber das ist die Richtung, in die ich gehe.)

Herzliche Grüße und danke für diesen echt spannenden Thread,

Ulysses

P.S.: Und so absurd es auch klingt: Auch wenn ich selber das Konzept so perfekt gelebt habe, finde ich trotzdem "Dauer-Gedankenleser" um mich herum extrem anstrengend, lästig und übergriffig.
chrigu
Beiträge: 2081
Registriert: 20. Mär 2006, 12:20

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von chrigu »

Hallo zusammen,

für mich ist das hier auch gerade ein brandaktuelles Thema und ich freue mich über die vielen wertvollen Gedankenanstöße.

Tatsächlich ist es bei mir auch so, dass ich oft die Vermittlerin war, auch schon als Jugendliche. Und genau in diese Vermittlerrolle bin ich vor einiger Zeit mal wieder gerutscht und kann mich noch nicht recht befreien: Es gibt in meinem beruflichen Umfeld einen sehr schwierigen Kollegen, der mit seinem Verhalten genau mein Muster des Gedankenlesens bedient (weil er nämlich erwartet, dass man doch sieht, wenn es ihm nicht gut geht etc.) - und ich bin voll in die Falle getappt. Dadurch, dass ich vermeintlich gut mit ihm zurechtkomme (aber im Grunde ja nur erspüre, was er gerne hätte), gehen andere Kollegen lieber den Umweg über mich, statt sich direkt mit dem schwierigen Menschen selbst auseinanderzusetzen. Mittendrin: ich. Weia.

Dass mich das alles unglaublich viel Kraft und Energie kostet, merke ich schon seit einiger Zeit. Ungefähr war mir auch klar, dass ich "nur" mein altes Muster abschalten muss (ha, Kinderspiel ), aber dass diese Vermittlerrolle auch aus dem Gedankenlesermuster resultiert und ich auch noch von anderen dadurch eine Betreuerrolle zugewiesen bekomme, das habe ich bisher noch nicht so klar gesehen, nur diffus gefühlt.

Also versuche ich gerade mich darüber zu freuen, dass ich ein eins-a-Lernfeld vor der Nase habe, an dem ich selbst beobachten kann, welchen Effekt es hat, wenn ich mich anders verhalte und nicht mehr meinem alten Muster ausgeliefert bin. Denn so ist der Preis im Moment einfach zu hoch.

Gleichzeitig hoffe ich, dass ich nach einem solchen ersten Schritt etwas einfacher den gehen kann, der noch wichtiger für mich ist: Mich in meiner Familie aus der Vermittler- und Betreuerrolle zu befreien. Da bin ich das alles nämlich auch und damit kann ich auch schon lange nicht mehr gut umgehen.

Alte Muster abzulegen ist zwar irgendwie beängstigend, aber ich habe das Gefühl, dass sich gerade eine Menge bewegt und ich nur gewinnen kann.

Herzliche Grüße an Euch
Chrigu
Ulysses
Beiträge: 594
Registriert: 19. Jan 2013, 17:34

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Ulysses »

Hallo chrigu,

Also versuche ich gerade mich darüber zu freuen, dass ich ein eins-a-Lernfeld vor der Nase habe, an dem ich selbst beobachten kann, welchen Effekt es hat, wenn ich mich anders verhalte und nicht mehr meinem alten Muster ausgeliefert bin. Denn so ist der Preis im Moment einfach zu hoch.

Respekt für diese Haltung! Ich stoße zur Zeit auch aktuell in einer bestimmten Situation (außerhalb von Beziehung und Familie) immer wieder massivst an meine Grenzen, gehe darüber und bediene alte Muster. Bin zwar dabei, daran schrittweise etwas zu ändern, aber bisher mit Panikattacken, Mühe und Quälerei.

Die Sichtweise "danke für dieses 1-a-Lernfeld" finde ich einfach nur gut. Und will diese Haltung für meine Situation übernehmen. Auch Dir weiterhin alles Gute für diese Baustelle und die weitere heftige Baustelle Familie.

Herzliche Grüße

Ulysses
Amy_h_S_
Beiträge: 299
Registriert: 18. Okt 2012, 14:17

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Amy_h_S_ »

Hallo ihr Lieben,

den Thread zu starten hat mich Überwindung gekostet, aber inzwischen - durch eure vielen Anregungen - merke ich wie viele verschiedene Facetten das Thema hat und warum es mich gerade jetzt beschäftigt.

Was ich für mich allerdings noch nicht wirklich greifen kann, ist die Frage, wann und warum der Vorauslese-Radar mir in meiner Kindheit Schutz und/oder Vorteile geboten hat. Ich finde einige entscheidende (Pseudo-)Vorteile, die diesen Radar in Schulzeit und im Zusammenhang mit sozialen Ängsten verstärkt haben, z.B. bin ich häufig für meine Diplomatie gelobt worden und dafür, mich in andere Sichtweisen (eben auch unausgesprochene) hineinversetzen zu können. Zu erahnen, worauf jd im Gespräch hinaus will, in welchem Gefühl er/sie etwas sagt, erleichtert sicherlich einige als schwierig empfundene Gespräche und verspricht, fehlende kommunikative Kompetenz zu kompensieren. Selbst dann, wenn diese Ahnung eigentlich kaum zutrifft: sie verringert die Ängstlichkeit. Außerdem hatte ich jeweils eine ziemlich gute Ahnung / Intuition dafür, was in der nächsten Klausur Thema sein würde, bzw. was den Lehrern/innen zu vermitteln wichtig war…;) Und eben auch, wann es von einigen wieder Grausamkeiten und Demütigungen regnen würde. Womöglich dieses Mal selbst betroffen zu sein und der ständige Wunsch gegen diese Spitzen gewappnet zu sein…

Aber innerhalb meiner Familie finde ich fürs Gefühle-Lesen eigentlich keine lebensnotwendige Funktion. Ein paar kleinere Ansätze schon, aber dann kommen sie mir auch wieder an den Haaren herbeigezogen vor. Vielleicht kann mir dabei meine Therapeutin noch helfen.


@Ulysses: Das Bild mit dem Kindersitz finde ich genial! Kein Wunder, dass es sich heute so quetschig und eng anfühlt! Also ab auf den Vordersitz, hinters Lenkrad mit mir!!!
Ja, ich möchte auch die Wahl haben und ich habe begeistert genickt bei diesem Absatz:

Für mich gibt es mittlerweile neben dem Extrem Holzklotz und dem Extrem Selbstaufgabe wirklich vieles dazwischen. Und ich kann die generelle Fähigkeit zur Empathie auch als ehrliche Qualität sehen. Entscheidendes Kriterium ist dabei für mich geworden, dass ich die Wahl haben möchte, die Wahl über mein eigenes Verhalten.

Damit gerät es für mich aus der Pflichtaufgabe „Überholte Muster loswerden“ heraus, hin zu einem wünschenswerten, positiv besetzten Ziel. Heraus aus den Zwangsläufigkeiten und dem Vorhersehbaren zugunsten von mehr Entscheidungsfreiheit!


@chrigu: Jaaa genau, es gibt dieses Pendant, dieses Verhalten kenne ich auch! Menschen, die darauf warten, dass sie jemand anspricht, wie es ihnen geht. Die mich quasi stumm bedrängen (so mein (!) Gefühl) und gehört-gesehen werden wollen, ohne dass sie selber den Anfang machen müssen. Gerade letzte Woche hat das eine Kollegin mit ihrem Dauerbelastungsthema versucht. Ich hätte schwören können zu wissen, worüber sie gerne reden möchte und dass sie sich gerade belastet fühlt. Aber in dem Moment wollte ich mich jemand anderem zuwenden und habe halbbewusst ignoriert, was sie NICHT gesagt hat. Also doch eine Wahlmöglichkeit wahrgenommen! Vielleicht geht das doch manchmal schon besser als gedacht?!

Andersherum ertappe ich mich dabei manchmal auch selbst… Wenn ich mich nicht so richtig traue zuzugeben, dass es mir schlecht geht und ich keine Welle machen will, aber andererseits doch wieder zuuu gerne wahrgenommen werden möchte – dann gerate ich auch manchmal genau in diese Verhaltensweise und hoffe, dass jemand meine Stimmung erahnt und seinen Radar anschmeißt. Wo ich den doch schließlich auch immer im Gepäck habe. Argh!!!!! Beides kann so nervig werden. Wie soll so Kommunikation funktionieren??? Also auch andersherum: Reden. REDEN. REDEN…

Dass du die Situation mit deinem Kollegen als Lernfeld wahrnimmst finde ich auch richtig toll! Und dann wird auch er wohl umlernen müssen! ^^
Genauso wie deine Familie. Schwieriges Terrain gegen die eingelaufenen Pfade. Aber du hast so recht: Wir können dabei wirklich viel gewinnen!

So und jetzt sage ich ganz explizit: Mir geht es heute besser und ich bin dankbar und froh und überhaupt irgendwie in Aufbruchstimmung!

Herzliche Grüße von Amy
chrigu
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Registriert: 20. Mär 2006, 12:20

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von chrigu »

Hi Amy,

ich glaube, Du hast Dir die Frage nach den Vorteilen des Lese-Radars (schönes Wort) schon selbst beantwortet: Angst wird verringert, Schutz wird gewährleistet. Ganz egal, ob das ein "berechtigtes" Gefühl ist - im Sinne von: es gibt wirklich eine Bedrohung oder die Angst wird wirklich weniger und der Schutz größer - es geht ja darum, nicht ausgeliefert sein zu wollen. Und genau das liefert der Radar, egal, ob er wirklich oder nur vermeintlich funktioniert.

Vielleicht muss so ein Radar auch nicht Vorteil und Schutz bieten im Sinne von Überleben. Ich glaube für mich auch nicht, dass ich zum Beispiel in meiner Familie einen solchen Radar zum Überleben im eigentlichen Wortsinne brauchte. Zwar kann ich es noch nicht ganz in Worte fassen, aber seit Deiner Threaderöffnung denke ich darüber nach und das Bild fügt sich nach und nach zusammen (kennt ihr das herrliche Gefühl, wenn man plötzlich wieder ein Puzzleteil zu sich selbst in der Hand hat?). Es geht um mangelnde Konfliktfähigkeit und nicht ausgetragene Konflikte; um Eltern, die mich emotional nicht so tragen konnten wie ich es brauchte (obwohl sie mich bedingungslos lieben, aber sie haben die darüberhinausgehende emotionale Betreuung selbst nie gelernt); um Harmonie.

Mir ging es übrigens auch so, dass ich lange Zeit von meinem Umfeld erwartet habe, meine Gefühle ebenso zu lesen. Eine liebe Mitforistin ( ) hier sagt immer: nur sprechenden Menschen kann geholfen werden - aber ich musste in dieser Hinsicht echt erst mal sprechen lernen. Das ergibt für mich übrigens auch wieder ein Puzzleteil: meine eigene Unfähigkeit, mich über meine Gefühlswelt zu artikulieren, Worte zu finden, wenn es schmerzhaft ist. Zum Glück kann ich das mittlerweile gut.

Danke Ulysses und Amy, dass Ihr meinen Lernfeldansatz gut findet, aber ich schrieb ja ein wenig vorsichtig/abschwächend "ich versuche mich zu freuen". Natürlich weiß ich, dass es eine Chance ist, sowohl die Situation als Lernfeld zu betrachten als auch auf diesem zu üben. Aber momentan merke ich auch, dass meine Energielosigkeit dazu führt, dass ich mir denke: warum muss ich eigentlich was ändern? Warum kann es nicht einfach mal funktionieren? (Sorry, genereller ich-will-auf-den-Arm-Modus...) Der Gedanke daran, schon morgen intensiv mit diesem Lernfeld konfrontiert zu sein hat gerade eher diesen Effekt, den es zu Schulzeiten hatte, wenn am nächsten Tag die Mathearbeit anstand: Ich will nicht. Hm.

Aber andererseits will ich mich ja auch nicht wieder auf den Kindersitz quetschen (lassen). Irgendwie ist es ja auch toll, dass ich es selbst in der Hand habe, etwas zu ändern. Den schwierigen Kollegen als Lernfeld zu betrachten hilft mir außerdem, weil das ein wenig Distanz schafft, die er wiederum nämlich zur Zeit stetig reduziert - weil ich ihn ja so gut "verstehe" und so gut auf ihn eingehen kann. Ich brauche viel mehr Grenzen!

Liebe Grüße!
Chrigu

PS: Und ich meine, wenn morgen früh die Sonne schiene und der verflixte Wind endlich mal die Klappe halten würde, dann könnte ich mich viel motivierter ins Lernfeld stürzen, bestimmt!
bigappel
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Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von bigappel »

Guten Morgen @ all,
guten Morgen chrigu,

auch ich bin Fan Deiner Lernfeld-Methode;
klasse ! .

Humor ist nach meiner Erfahrung ein gutes "Mittel" Entspannung in eine Situation zu bringen.

Liebe Chrigu, ich kann gut nachvollziehen, dass es auch Druck ausüben kann, 5 Tage die Woche dem Lernfeld "ausgeliefert" zu sein:

Aber, wie Du ja auch schreibst : Du hast die Wahl.

Tritt der schwierige Kollege auf das Lern-Parkett, so kannst Du vor Deinem geistigen Auge (oh, mein Lern-Objekt) doch entscheiden:
ja, jetzt = Üben oder
Nö = bin anders beschäftigt........

Vermutlich schwerer, als formuliert, aber Übung muss nicht dauernd sein.

Und ja @ Lerana: ich hasse das Gedankenlesen wirklich.

Weil auch ich die Wahl haben möchte.

Mein Mann liegt oft falsch mit seinem Gedankenlesen, weil ich von Haus aus viel optimistischer bin, als Muttern (die personivizierte Negativität = ein Grauen) und wenn er dann anfängt, "mich zu trösten" oder Mut zuzusprechen, zu etwas, was für mich gar nicht - negativ - existiert, dann weiß ich erstmal nicht, in welchem Film er gerade ist ....... da er dann aber in seinem Gedankenlesen - Film ist, kommt er nicht drauf, dass ich nicht gedanken lesen kann
*die Beschreibung verwirrt doch schon, oder
*.

Ich bin froh, dass es empathische Menschen gibt; es wäre eine traurige Welt, wenn nicht,
aber - wie Ulysses, Chrigu, Amy, eigentlich alle schreiben - bitte nicht in einem sich selber schädigenden oder übergriffigem Rahmen.

Eine schöne, verkürzte Woche bzw.
schöne Ferien

herzlichst
Pia

P.S.

Liebe Amy,
ich möchte an der Stelle gerne von Deinem Thema etwas abweichend eine Frage an Chrigu stellen:

Liebe Chrigu,

Du hast geschrieben, Du hast länger auch von Deinem Umfeld "verlangt", Deine Gedanken zu lesen, konntest sie nicht formulieren.

Exakt genau so scheint es bei meinem Mann derzeit zu sein.

Erst gestern sind wir wieder total aneinander gerasselt (naja, ich bin gerasselt, er saß sowas wie fassungslos dabei ) :
ich sollte wieder - seine - Gedanken lesen, was ich immer noch nicht kann (da besteht keine Hoffnung, dass ich dies jemals erlernen werde).

Es war eigentlich banal.
Und soooooooooooooooo anstrengend.

Ein kleiner Satz hätte jeden Stress vermieden; aber es ging nicht; er war in sich gefangen......

Nicht mal ein "geht jetzt nicht" war ihm möglich ..... er suchte in sich seine Antwort... und suchte ... und suchte ....

Wie bist Du da rausgekommen und vor allem:
welche Reaktion Deines Gegenübers war Dir hilfreich.

Ich komme mir manchmal wie ein Holzklotz vor;
aber ich kann halt nicht Gedankenlesen......
und es nervt!

Situation abbrechen?

Schonmal vielen Dank!
LG
Ein Tier zu retten, verändert nicht die Welt, aber die ganze Welt ändert sich für dieses Tier.
chrigu
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Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von chrigu »

Liebe Pia,

auch Dir danke für Dein Feedback auf mein Lernfeld. Gut, dass Du mich an die beiden Optionen erinnerst, bei mir treffen manchmal Ungeduld und ein falscher Disziplingedanke aufeinander und dann zwinge ich mich zu etwas, das aber manchmal gar nicht passt. Andererseits habe ich dann aber auch Angst, dass ich ewig etwas Schwieriges, Konfliktbeladenes hinausschiebe und mich der Einfachheit halber aktiv ins alte Muster hineingebe. Aber da für mich momentan das Abgrenzen ungeheuer wichtig ist, ist es im Zuge dessen auch wichtig, dass ich das Gedankenlesen abstelle. Jawoll!

>Wie bist Du da rausgekommen und vor allem: welche Reaktion Deines Gegenübers war Dir hilfreich.
Aufmerksam gemacht hat mich überhaupt erst mein damaliger Freund. Der hat mir immer und immer wieder gesagt, dass er nicht Gedanken lesen könne und ich ihm doch einfach sagen solle, was los ist. Das konnte ich aber - ähnlich wie Dein Mann - überhaupt nicht. Nicht nur, dass mir die Worte dafür fehlten, ich war auch so wenig in Kontakt mit mir selbst und meinen Gefühlen, dass ich wirklich nicht wusste, was los ist. Gleichzeitig hab ich aber erwartet, dass er das weiß. Voll verrückt! Und sehr offensichtlich nicht machbar...

Mein Glück war, dass der Freund sich sehr gut abgrenzen konnte. Er hat mir irgendwann gesagt, dass er so einfach nicht weiterkönne und wenn ich ihm nicht sagen würde was los sei, dann habe er die Wahl, das entweder zu ignorieren, das als Affront oder irgendwie anders gegen sich auszulegen oder versuchen zu akzeptieren, dass ich gerade nicht anders könne. Er sagte, dass er theoretisch natürlich immer die letzte Option probieren wolle, ich aber auch verstehen müsse, dass er aus Selbstschutz manchmal auch einfach ignorieren müsse und er auch nicht dagegen ankäme, dass sich mein Verhalten manchmal wie ein Verhalten gegen ihn anfühle.

Letztlich haben wir uns auf ein kleines gemeinsames Signal geeinigt, das dann hieß "ich kann gerade nicht anders, ich erwarte von Dir kein Gedankenlesen, bitte akzeptiere dass ich mich gerade nicht erklären kann", verbunden damit, darüber zu sprechen, sobald es wieder geht. Das hat meistens funktioniert und uns beiden Sicherheit gegeben. Er musste mich allerdings oft an die Abmachung erinnern und nach dem Signal fragen, weil ich mittendrin im Tief auch daran nicht mehr gedacht habe.
Wäre das vielleicht auch eine Option für Euch?

Herzliche Grüße
Chrigu
Ulysses
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Registriert: 19. Jan 2013, 17:34

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Ulysses »

Hallo Ihr,

ich sitze gerade hier und versuche zu sortieren, was dieser Thread alles in mir auslöst und was alles klickert. Und merke dabei, dass ich irgendwie gerade an diesem Thema mit meiner "Doppelrolle" als Betroffene und Angehörige an die heftigsten Grenzen stoße.

Amy, ich hoffe, es ist okay für Dich, dass auch ich mich ein wenig an Pias Frage anhänge. Es geht zwar dabei immer noch um Flöhe, aber vielleicht um einen anderen Zirkus als den Deinen.

@ chrigu:
Ich danke Dir herzlich für Deinen Beitrag und Deine Erklärung. Irgendwie hänge ich hier in meiner Beziehung in einer ähnlichen Situation, wie Pia es beschreibt. Nur dass ich zusätzlich immer wieder das Gefühl habe, es wäre zwar mein Gedankenlesen erwünscht, damit ich begreife, was alles gerade nicht geht. Darüber hinaus aber wäre oft erwünscht, dass ich keine Kontaktversuche unternehme, und schon gar nicht auf irgendetwas wie Gefühle bezogen. Bisher (also seit ca. eineinhalb Jahren ihrer Erkrankung) gab es keine Phase, in der wir über diese Dinge reden konnten oder eventuelle Absprachen über Situationen treffen konnten.

Dann geht es mir so, wie Du es von Deinem Freund schreibst: Dass ich das Verhalten gegen mich deuten muss. Und keine Chance zur Klärung bekommen. Ich weiß nicht, an welche Stelle dieses Thema besser passt, vielleicht eröffne ich dazu noch einen Thread bei den Angehörigen. Aber Deine Beschreibung passte so zu meinem Gefühl, dass ich das Wirrwarr einfach mal dazu tippen musste. Vielleicht fällt Dir oder denen, die mitlesen, ja etwas dazu ein.

Ich stoße dabei vor allem deshalb an meine Grenzen, weil ich das selbst in meinen heftigsten Jahren nicht kannte. Also das völlig verstummen, erstarren und in sich zurückziehen. Ich konnte oft nicht, war hilflos, aber ich war immer an Austausch und Kontakt interessiert, auch wenn es phasenweise nur ganz extrem wenige Bezugspersonen waren. Ich kann auch mittlerweile völlig akzeptieren, dass es solche Symptome gibt und dass auch der/die Betroffene ganz ehrlich nichts dafür kann. (Und es ihm/ihr vermutlich damit noch viel schlechter geht als mir nebendran) Aber ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, wenn die Phase so extrem lange dauert.

Jetzt mach ich hier mal einen Punkt, sonst drehe ich mich im Kreis meiner aktuellen Fragen und Zweifel.

Herzliche Grüße an alle Flohzirkus-Dompteure

Ulysses

P.S.: Beinahe vergessen: Ich glaube, der Anspruch, sich über eine dermaßen heftige Lernbaustelle wirklich zu "freuen" ist ganz schön extrem. Aber alleine schon die Sichtweise so zu wechseln, etwas für mich positives herauszuziehen, finde ich gut.
chrigu
Beiträge: 2081
Registriert: 20. Mär 2006, 12:20

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von chrigu »

Liebe Ulysses,

komischerweise kann ich mir heute auch kaum noch vorstellen, derart im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos gewesen zu sein, war ich aber. (Dass ich mir das heute nur schwer vorstellen kann, zeigt mir zum einen wie weit ich zum Glück davon mittlerweile entfernt bin, und zum anderen wie viel ich zum Glück gelernt habe und dass ich an mir selbst dran bin.)

Ich glaube aber, dass so eine kleine Abmachung echt viel wert sein kann und auf beiden Seiten für Erleichterung sorgt. Vielleicht kannst Du sie an Deine Freundin aufschreiben, als Vorschlag? Dann müsste zum Beispiel nur auf diesen Zettel gezeigt werden und Du wüsstest, dass ihre Sprachlosigkeit nicht gegen Dich geht und sie wüsste, dass sie Dich nicht auch noch zusätzlich mit den Gedanken darüber belastet.

Mir haben Absprachen (wir hatten auch noch andere) immer sehr geholfen. Wir haben sie in besseren Phasen getroffen und manchmal dachte ich dann: so ein Quatsch, was ist das für eine blöde Beziehung, in der wir solche Absprachen haben, aber ich glaube fest daran, dass so etwas sehr hilfreich ist. Auch wenn ich mich zugegebenermaßen nicht immer dran gehalten habe, aber das lag an einem wiederum anderen Muster.

Es ist auch sauschwer zu sagen, was genau richtig ist, weil ich als Betroffene das selbst nicht wusste. Oder ähnlich wiederstrebende Gefühle hatte wie Deine Freundin: Einerseits wollte ich einfach nur in den Arm genommen werden, andererseits konnte ich Nähe nicht ertragen. In diesem Zwiespalt stecke ich heute noch manchmal, ihn dann aber äußern zu können macht natürlich vieles leichter und hilft mit, dem eigentlichen Bedürfnis auf die Spur zu kommen.

Es ist auf so vielen Ebenen total unfair, was Depressionen mit einem selbst und mit Angehörigen und der Beziehung zueinander machen! Denn so viele der Probleme könnten (meiner Meinung nach) im Dialog gelöst werden und an genau diesem Punkt hakt es. Vielleicht helfen dann tatsächlich nur kleine Umwege. Ich habe mal kurz mit Autisten gearbeitet, die haben auf Buchstabenkärtchen oder Bilder gezeigt, um sich auszudrücken. Manchmal denke ich, dass mir sowas auch geholfen hätte - hätte ich mich dann nicht gleichzeitig dafür geschämt, derart sprachlos zu sein.

Herzliche Grüße
Chrigu

Edit: Von mir aus kann diese "Nebendiskussion" gerne hier bleiben, denn ich empfinde die beiden Aspekte als eng zusammenhängend. Aber damit möchte ich Dir, Amy, als Threaderöffnerin natürlich nicht vorweggreifen.
bigappel
Beiträge: 1488
Registriert: 10. Dez 2010, 08:10

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von bigappel »

Hallo Ihr Lieben,

ganz, ganz herzlichen Dank, Ihr Lieben,
für Eure Antworten und ganz besonders Dir,
liebe Chigru.

Eigentlich haben wir eine Art Absprache bzw. ich habe mir erbeten wenigstens ein hörbares "kann nicht" oder "geht jetzt nicht" oder Ähnliches auszusprechen und mein Mann hat zugesagt, dem nachzukommen.

Soviel zur Theorie; die Praxis funktioniert nicht.

Ich weiß definitiv, dass mein Mann weder deshalb nicht antwortet, um mich zu ärgern, noch, weil es mich nichts angeht, noch sonst, um mir in irgendeiner erdenklichen Form irgendwie negativ zu sein.

Aber es klappt nicht.

Im Grunde weiß ich, dass er dann nicht kann, weil ich insoweit mittlerweile "Gedanken lesen" kann, aber ich will nicht.

Ich möchte hören: ich kann nicht, eine rote Karte gezeigt bekommen oder sonst eine Reaktion außer: schweigen.

Dabei fühle ich mich schlecht, weil ich im Grund ja weiß, er kann nicht..... aber er ist doch nicht taubstumm (darüber haben wir mal gesprochen, dass ein "geht nicht" oder rote Karte zeigen oder sonstiges Zeichen doch gehen müßte); funktioniert aber nicht und das verstehe ich eben nicht.

Jetzt hadere ich mit mir selber, ob ich zu erzieherisch bin, aber dieses Schweigen scheint bei mir auch Baustellen aufzuzeigen (na, das wohl nicht gesehen werden, so vermute ich; meine Mutter wurde in ihrer Ehe bei "Fehlverhalten" mit Schweigen bestraft);
mir bleibt dann nur das Abgrenzen, was ich gut kann; mein Mann nimmt mir das dann übel und macht "Böckchen" und schon sind alle angenervt.

Gestern hab ich mich "ausgetobt" und Ansage gemacht, dass er dann halt schmollen soll, ich könne das aushalten......... irgendwann hatte ich dann wieder den "Erwachsenen" vor mir.

Irgendwie noch etwas unbefriedigend auf beiden Seiten.
Meine Baustelle möchte ich nicht auf ihn übertragen, aber so ohne jede Reaktion .... schwierig.

Aber Dein Beitrag, liebe Chigru nimmt mir die Unsicherheit, doch an der Vereinbarung festzuhalten, auch wenn das Ganze noch ziemlich ausbaufähig ist.

Mittlerweile weigert sich auch meine Tochter, die Gedanken meines Mannes lesen zu können *auch sie kann das nämlich aufgrund vermutlich eines leiblichen Vaters, der emotional ihr nicht das Geben konnte, was sie benötigt * da hat Dein Statement, liebe Chigru mich voll erwischt bei Deiner Schilderung * ; doppelte Breitseite für den armen Kerl vereinfacht es nicht ..........

Ganz herzlichen Dank!
Ich lese - insgesamt - beigeistert weiter mit.

Viele Grüße
Pia
Ein Tier zu retten, verändert nicht die Welt, aber die ganze Welt ändert sich für dieses Tier.
Amy_h_S_
Beiträge: 299
Registriert: 18. Okt 2012, 14:17

Re: Das Husten der Flöhe?

Beitrag von Amy_h_S_ »

Nur ganz kurz, bin auf dem Sprung...

Von mir aus kann diese "Nebendiskussion" gerne hier bleiben, denn ich empfinde die beiden Aspekte als eng zusammenhängend.

Sehe ich haargenauso und ich find's spannend - wenn auch ziemlich traurig diese Schattenseiten.
Aber selbst wenn das hier noch ganz andere Richtungen nehmen sollte, wäre ich die letzte, die was dagegen hätte

Diesen Zustand totaler Sprachlosigkeit kenne ich zwar nicht, und kann es deshalb nicht einschätzen, aber ich konnte anfangs auch sehr schlecht beschreiben, wie ich mich fühle (fühlte ich überhaupt etwas?) und schon mal gar nicht, was ich will, was ich mir wünsche.
(Da war auf der einen Seite ein wundervoll reiches Gefühlsvokabular aus meinen Büchern und andererseits große Leere was mich selbst betraf. So als hätten die Worte überhaupt keine Gültigkeit für mich.)

Ich habe nach und nach in der Therapie gelernt darüber zu sprechen, was wann los ist und wie es mir geht. Weil meine Therapeutin immer wieder nachhakt, Fragen stellt, auf Entscheidendes zurückkommt. Wenn ich es in einer besseren Phase geschafft habe, Worte zu finden, kann ich sie nach und nach auch für schwierigere Situationen suchen. Vielleicht auch weil ich mich außerhalb der Therapie weiter damit beschäftige und Beschreibungen und Alternativen suche, die mir spontan eben noch nicht eingefallen sind. Und ich kann inzwischen auch meiner Umgebung viel viel mehr erzählen.

Ich musste allerdings auch ersteinmal lernen, überhaupt so ausschweifend über mich und meine Befindlichkeiten, Probleme, Kreisel etc. zu reden, weil mir so schnell alles überflüssig, jammerig und übertrieben erscheint und ich mir nicht vorstellen konnte, dass das irgendwen interessiert (Job hin oder her).
Wenn ich's recht überlege - dabei hilft mir auch das Forum, diese Sicht zu korrigieren.

glg an euch
Amy
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