"Das Ganze"

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lae
Beiträge: 188
Registriert: 14. Feb 2012, 12:37

"Das Ganze"

Beitrag von lae »

Guten Morgen,

ein Gedicht von dem Arzt und Lyriker Gottfried Benn zum Nachdenken:

"Das Ganze

Im Taumel war ein Teil, ein Teil in Tränen,
in manchen Stunden war ein Schein und mehr,
In diesen Jahren war das Herz, in jenen
waren die Stürme - wessen Stürme - wer?

Niemals im Glücke, selten mit Begleiter,
meistens verschleiert,da es tief geschah,
und alle Ströme liefen wachsend weiter
und alles Aussen ward nur innen nah.

Der sah dich hart, der andre sah dich milder
der wie es ordnet, der wie es zerstört,
doch was sie sahn, das waren halbe Bilder,
da dir das Ganze nur allein gehört.

Im Anfang war es heller was du wolltest
und zielte vor und war dem Glauben nah,
doch als du dann erblicktest, was du solltest,
was auf das Ganze steinern niedersah,

da war es kaum ein Glanz und kaum ein Feuer,
in dem dein Blick, der letzte sich verfing:
ein nacktes Haupt, in Blut, ein Ungeheuer,
an dessen Wimper eine Träne hing."

Bitte die letzte Zeile mitlesen! Das ist alles,was ich jemals sagen wollte.

laetitia
Lerana
Beiträge: 2088
Registriert: 4. Feb 2012, 18:42

Re: "Das Ganze"

Beitrag von Lerana »

Liebe laetitia,

nachdem ich gerade in einem anderen Thread dafür geworben habe, dass fragen hilft, frage ich jetzt hier:

Vielleicht bin ich nicht literarisch versiert genung, aber was möchtest du uns mitteilen?

Vor allem, weil du uns auf die letzte Zeile aufmerksam machst. Es tut mir leid, aber ich verstehe es nicht. Kannst du es mir erklären? Was brauchst du von uns? Was möchtest du mit diesem Thread?

Herzliche Grüße
Lerana
Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. (Francis Picabia)
FönX
Beiträge: 3370
Registriert: 2. Jul 2008, 11:37

Re: "Das Ganze"

Beitrag von FönX »

Hallo lerana,

ich habe laetitia so verstanden, dass sie sich von dem Gedicht berührt fühlt und das mit uns teilen will. Den Hinweis auf die letzte Zeile verstehe ich auch nicht. Könntest du, laetitia, uns einen Tipp oder eine Erklärung geben?

Liebe Grüße
FönX

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Czarek
Beiträge: 695
Registriert: 12. Jan 2010, 15:29

Re: "Das Ganze"

Beitrag von Czarek »

:hello:
Zuletzt geändert von Czarek am 4. Feb 2017, 10:35, insgesamt 1-mal geändert.
"Liebe Dich selbst - dann können die andere Dich gern haben"
(Hirschhausen)
LittleDream
Beiträge: 11
Registriert: 13. Apr 2012, 10:03

Re: "Das Ganze"

Beitrag von LittleDream »

hallo,
ich glaube da geht es darum, dass man es einem Menschen nicht ansieht wie es in ihm ausschaut.
Das man nur an ihn ran schauen und nicht in ihn rein schauen kann.
Man sieht nur die äussere Schale und nicht den Kern.

LG
LittleDream
Lerana
Beiträge: 2088
Registriert: 4. Feb 2012, 18:42

Re: "Das Ganze"

Beitrag von Lerana »

Hallo,

vielen Dank für die Interpretationen. Irgendwie finde ich das spannend, was ihr darin seht, obwohl das ja nicht mein Thread ist.

Ich gestehe ja, dass ich, obwohl ich eine Leseratte bin, nur mit sehr wenig Lyrik etwas anfangen kann. Bin eher so der Prosatyp.

Ich würde mich freuen, wenn laetitia vielleicht auch noch mal sagen könnte, weshalb sie es gepostet hat, denn dann ist es für so Lyrikmuffel wie mich leichter, zu antworten.

Finde es aber wirklich total spannend, was ihr so seht!!

Vielen Dank und herzliche Grüße
Lerana
Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. (Francis Picabia)
lae
Beiträge: 188
Registriert: 14. Feb 2012, 12:37

Re: "Das Ganze"

Beitrag von lae »

Hallo,
finde es schön, dass ihr euch so intensiv mit einem meiner Lieblingsgedichte auseinandersetzt.
Hier noch mal einige Motive, warum ich dieses Gedicht hier plaziert habe:
Es beschreibt grundsätzlich menschliche Erfahrungen.
Jugend (Idealismus): 1. Strophe; "Im Anfang war es heller,was ..."
Dann:
Erwachsen sein (Realismus): erst heißt es "wolltest" dann "solltest". Erwachsen sein bedeuted die Einsicht, dass wir nicht alles so in unserer Hand haben wie wir es gerne hätten, heißt anerkennen von Grenzen, akzeptieren von Realitäten.
Was gerade wir Depressiven beim Anblick von Realitäten sehen, kann schrecklich sein: "...ein nacktes Haupt, in Blut, ein Ungeheuer,"
Ich habe 3 1/2 Jahre schreiend, weinend und würgend im Bett verbracht. Meine Gefühlswelt habe ich noch nirgends besser beschrieben gefunden als in dieser Zeile.
Was dieses Gedicht auch ganz deutlich ausdrückt ist, dass wir einen anderen Menschen niemals "ganz" sehen. All unsere Sichtweisen sind von eigenen Vorstellungen geprägt. Ein grundsätzliches Problem menschlicher Kommunikation, das mir beim Lesen und Schreiben gerade hier im forum, besonders auffällt: "Der sah dich hart, der andre sah dich milder ...."
Die meisten Menschen finden das Gedicht trostlos, hoffnungslos, düster usw.
Aber:
"...ein Ungeheuer,
an dessen Wimper eine Träne hing."
Poetischer, schöner,klarer habe ich die Ahnung von einem besseren Leben, Hoffnung, Mitgefühl, eigentlich die ganze Bandbreite menschlicher Empfindungen, noch nicht ausgedrückt gefunden.
laetitia
Lerana
Beiträge: 2088
Registriert: 4. Feb 2012, 18:42

Re: "Das Ganze"

Beitrag von Lerana »

Liebe laetitia,

danke für deine Erklärungen.

>>"...ein Ungeheuer,an dessen Wimper eine Träne hing."<<
Auch ich, obwohl Lyrikmuffel, finde das sehr poetisch, wenn auch sehr traurig und ich hoffe inständig, dass du dich, gerade nach dieser vorangegeangenen Diskussion, nicht damit identifizierst, so nach dem Motto: Vielleicht scheine ich ungeheuerlich, aber eigentlich ist es Schmerz. Denn dann würde ich jetzt mal sagen (und das habe ich noch nie, das ist so gar nicht meine Art): Lass dich mal drücken.

Vielleicht lässt das Gedicht aber auch so viel Spielraum, dass meine Phantasie mit mir durchgeht.

Herzliche Grüße
Lerana
Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. (Francis Picabia)
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