Woher habe ich die Kraft genommen?

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future
Beiträge: 31
Registriert: 20. Jun 2003, 14:57

Woher habe ich die Kraft genommen?

Beitrag von future »

Liebe Emily,
ich danke dir für deine Antwort.
Das mit dem Aufschreiben war kein Witz. Ich habe wirklich schon oft darüber nachgedacht. Nicht weil ich glaubte damit Geld verdienen zu können, sondern weil ich diese Erlebnisse endlich verarbeiten wollte. Früher habe ich Tagebuch geführt, dann habe ich vieles jahrelang in mir vergraben.Doch in den letzten Jahren kommen die alten Geister immer häufiger wieder zum Vorschein.
Ich führe dieses Phänomen teils auf die Medien zurück, sie beeinflussen uns extrem.
Gewalttaten gegen Kindern gab es bestimmt schon immer.Ich glaube nicht das das ein Neuzeitliches Problem ist. Heute kommen diese Taten nur leichter ans Tageslicht. Die ständige Konfrontation mit solchen Taten war am Anfang ein Problem für mich. Ich konnte mir Filme oder Berichte nie zuende ansehen oder durchlesen. Stets hatte ich mit den wieder aufkommenden Gefühlen zu kämpfen. Mein Lebensgefährte wusste lange Zeit nichts von meinen Erlebnissen. ( Als ich 9 war vertraute ich mich einer Freundin an, in der Hoffnung sie würde meiner Mutter davon erzählen. Ein Hilfeschrei, der nie Gehört wurde. Danach sprach ich nie wieder darüber). Vor vier Jahren habe ich mich ihm dann anvertraut. Von da an konnte er meine Reaktionen auf solche Berichte besser verstehen. Irgendwann erkannte ich, das es so nicht weitergehen kann. Die Medien würden meinetwegen nicht aufhören zu berichten. Wenn ich eins gelernt habe im Leben, dann ist es das:
Vor seinen Problemen kann man nicht weglaufen, denn man trägt sie in sich. Also gibt es nur eine Lösung: ´Ich muss mich meinen Problemen ohne Wenn und Aber stellen`!


Woher nehme ich die Kraft?!

Jetzt, als Erwachsene und Mutter von drei Kindern ( eigentlich sind es ja vier - mein Lebensgefährte ist mein grösstes Kind - lach ), da gibt es vieles das ich als Kraftquelle anführen könnte. Damals, als Kind? Ich weiss es im Moment nicht so genau.
Wie überlebt ein Kind schreckliche Situationen? Wie überleben die Kinder in Indien oder Afrika, oder überall auf der Welt. Kinder, die total auf sich allein gestellt sind. Ich glaube: Bis sich ein richtiges Bewusstsein, durch die Erfahrungen mit der Umwelt und uns selbst, entwickelt hat, ist es der Instinkt der solche Kinder überleben lässt. Ein reiner Überlebenswille! Und je nachdem wie stark oder schwach dieser Überlebenswille ausgeprägt ist, wird es für das eine Kind " leichter " und das Andere schwerer sein zu überleben. Natürlich spielt die Umwelt eine grosse Rolle dabei.
Auf mich allein gestellt war ich ja trotzdem nicht. Ich hatte wenigstens ein Dach über den Kopf; ein warmes Bett im Winter; täglich zu essen und doch immer wieder Menschen um mich.

Meine Mutter hat oft die Geschichte meiner Geburt erzählt.
Als ich geboren war und der Arzt mir einen Klapps auf den Allerwertesten gab, soll ich Tränen geweint haben. Kann es sein das die Seele schon weiss was einem bevorsteht?Jedenfalls waren Tränen mein ständiger Begleiter.

Ich bin kein religiöser Mensch im Sinne von Kirche und ähnlichem, doch ich glaube an eine höhere Macht. Ich glaube an das unendliche Dasein, in welcher Form auch immer. Ich glaube an Offenheit und Ehrlichkeit, und Gerechtigkeit ist das allerwichtigste für mich. Ich mache keinen Unterschied zwischen den einzelnen Menschen.
Der Unterschied liegt nur im Alter und Geschlecht. Haut- und Haarfarbe sind mir nicht wichtig; Nationalität;Religion ect. sind in meinen Augen nur Äussere Erscheinungen im Leben eines jeden. Und ich glaube ganz fest an eines:
Kein Mensch ist von Geburt an Schlecht oder böse, oder verdorben, oder wie immer man es auch nennen mag.
Es sind unsere Gene und unsere Umwelt, die uns zu dem machen was wir sind.

Bis bald und liebe Grüsse
Heike
Emily
Beiträge: 1217
Registriert: 13. Feb 2003, 09:52

Re: Woher habe ich die Kraft genommen?

Beitrag von Emily »

Liebe Heike,

deinen Satz, du würdest gerne ein Buch schreiben, hatte ich durchaus nicht als Witz verstanden, sondern als ernstgemeinte Aussage. Ich kann sehr gut verstehen, dass du dir das Aufschreiben als eine Form der Verarbeitung wünschst und vorstellst. Dazu würde ich dich gerne ermutigen. Mir geht es in dieser Hinsicht genau wie dir, ich hatte auch das Bedürfnis, mir die Lasten von der Seele zu schreiben. Bei mir ist die Verarbeitung meiner eigenen Erlebnisse, die ich meiner Krankheit zu "verdanken" habe, durch das Aufschreiben erst so richtig in Gang gekommen. Wenn du also das Bedürfnis hast, darüber zu berichten, dann kann daran eigentlich nicht viel falsch sein.

Natürlich kann man ein Buch schreiben, aber was einem vielleicht fehlen würde, wäre die Resonanz. Hier bekommt man sie. Dadurch bekommt man manchmal nochmals eine veränderte Sicht auf die Dinge, und das kann sich auch als hilfreich erweisen.
Hattest du therapeutische Hilfe in all diesen Schwierigkeiten, oder wie bist aus dem Tal wieder herausgekommen?

Lieber Gruß,
Emily.
Data

Re: Woher habe ich die Kraft genommen?

Beitrag von Data »

Liebe Heike,

auch von mir ein herzliches Willkommen hier im Forum! Deine Beiträge haben mich tief beeindruckt. Ich denke, du kannst uns allen durch deine große Lebenserfahrung, deine gewonnenen Einsichten und durch deine bewundernswerte Grundhaltung zum Leben und zu den Menschen, die du dir vielleicht trotz, eher wohl aber wegen deiner schlimmen Vergangenheit angeeignet hast, eine wertvolle Hilfe sein und uns viele neue Denkansätze liefern. Ich freue mich, dass du hierher gefunden hast!

Viele Grüße!

Data
future
Beiträge: 31
Registriert: 20. Jun 2003, 14:57

Re: Woher habe ich die Kraft genommen?

Beitrag von future »

Oh, Emily,
das ging aber schnell. Ich bin doch gerade erst rausgegangen, um Wäsche aufzuhängen.-lach-

Ja, nach meinem Selbstmordversuch musste ich zu einem Therapeuten. Doch irgendwie lief wohl Alles schief. Für mich war damals das Verbot meiner Mutter das vorrangigere Problem. Es wurde also nur darüber gesprochen. Meine übergrosse Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung ließ mich alles Andere in den Hintergrund schieben und nur Dafür kämpfen. Deshalb konnte das Problem wohl nicht an der Wurzel angepackt werden. Es waren, glaube ich, auch nur ein oder zwei Sitzungen. Danach hatte meine Mutter ein Gespräch mit dem Psychiater. Ich durfte nicht dabei sein. Als ich sie danach fragte, was der Arzt gesagt hat,interpretierte sie es mit den Worten: " Er hat gemeint man müsse Dich mit Samthandschuhen anfassen."
Später, während meiner Zeit als Alleinerziehende, ging ich von mir aus zu einer Therapheutin. Das Ende vom Lied: Es machte mich aggressiv all denen Gegenüber, von denen ich mich belastet fühlte, die ich aber trotzdem liebte. Ich fand keine Lösung und brach ab.

Leider muss ich jetzt aufhören. Die Pflicht ruft.
Bis bald und danke für Dein Willkommensgruß
Heike.
future
Beiträge: 31
Registriert: 20. Jun 2003, 14:57

Re: Woher habe ich die Kraft genommen?

Beitrag von future »

Lieber Data, auch dir ein herzliches Dankeschön für Dein Willkommensgruß.
Leider kann ich im Moment nicht ausführlicher werden. Meine kleine Tochter kommt gleich von der Schule und muss versorgt werden, und dann ruft da auch noch der Job.
Eines möchte ich aber noch los werden:
Ich habe mir ein Stück Kindlichkeit bewahrt. Leider vergessen viele, viele Erwachsenen das sie auch mal Kinder waren. Fast so, als wäre es eine Krankheit gewesen. Da sehe ich oft das Problem von Unverständnis der Erwachsenen den Kindern gegenüber.
Bis bald und liebe Grüsse
Heike
future
Beiträge: 31
Registriert: 20. Jun 2003, 14:57

Re: Woher habe ich die Kraft genommen?

Beitrag von future »

Liebe Emily,
ich muß mich ganz herzlich bei dir bedanken. So intensiv, wie in den letzten beiden Tagen, habe ich schon ewig nicht mehr über meine Kindheit und Jugend nachgedacht.
Wenn überhaupt, dann waren es auch hauptsächlich Vorwürfe meinen Eltern und Verwandten gegenüber, oder auch Verständnis. Aber nie habe ich versucht mir klar zu machen, wie ich all Das überstanden habe.
Mein Leitsatz war stets: Gib nie die Hoffnung auf!
Das hatte ich mir nach meinem Selbstmordversuch geschworen. Aber da war ich fünfzehn.
In den Jahren zwischen den Ereignissen?
Nun, mein Leben war mit Arbeit erfüllt.
Mein Leben beginnt für mich mit fünf Jahren, ab da kann ich mich an ein Familienleben erinnern. Die vier Jahre im Kinderheim sind nur Bruchstücke. Meine Mutter hat zwar immer etwas anderes behauptet, aber ich kann mich anstrengen wie ich will, es kommt einfach nicht mehr dabei heraus.
Meine Eltern waren beide berufstätig und machten nebenbei noch Heimarbeit. Wir Kinder mußten helfen wo wir konnten. Sie hatten, solange ich mich erinnern kann, Geldprobleme. Wenn es Streit gab, ging es stets ums Geld. Ich habe es gehasst. Den Streit und später auch das Geld.
Nun, wie gesagt, es wurde stets gearbeitet. Beruflich; Heimarbeit und Haushalt. Dann kam die Schule dazu. Ich habe zwei jüngere Schwestern, auf die wir aufpassen mußten und als mein Bruder mit 15 das Haus verlies, trug ich die Verantwortung. An meinem 11ten Geburtstag sagte meine Mutter zu mir: " Du bist jetzt die Älteste von euch Kindern und mußt deinen Schwestern ein Vorbild sein."
Tagsüber hatte ich keine Zeit zum Nachdenken und Nachts, nun Nachts kamen die Alpträume.
" Ich fahre mit dem Zug zu meiner Tante. Es ist Abends und schon dunkel. Meine Tante steht am Bahnsteig und erwartet mich. Wir gehen an den schlecht beleuchteten Bahnhofsgebäuden entlang. Plötzlich habe ich das Gefühl wir werden verfolgt. Wir gehen schneller, fangen an zu laufen. Dann bin ich allein. Ein Mann, ganz schwarz gekleidet, mit einem großen schwarzen Hut verfolgt mich. Ich drehe mich um, will sehen wer mir da solche Angst macht, doch ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Dann: Eine Sackgasse, ich komme nicht weiter, kann nicht fortlaufen und der Mann steht vor mir. Er zieht ein Messer, hebt den Arm und will zustechen." Ich wache schweissgebadet auf. Jedesmal, bevor er zusticht.
Die Träume haben sich in meine Seele gebrannt. Auch, wenn ich jetzt nicht mehr darunter leide, ich kann mich an jeden Einzelnen erinnern.
" Ich gehe die Straße entlang,mit nur einem Hemd bekleidet. Kein Höschen, nur ein Hemd. Ich fühle mich nackt und schäme mich. Hinter mir eine ganze Meute von Leuten, sie verfolgen mich. Ich versuche zu laufen, aber es geht nicht. Als wäre ich mit der Straße verwachsen. Ich strenge mich an, will rennen und neige mich mit dem Oberkörper immer mehr der Straße zu. Meine Füße kleben immernoch fest. Doch dann komme ich plötzlich los und renne und renne. Die Menschenmenge hinter mir. Plötzlich neigt sich die Strasse nach unten und anstatt den Berg runter zu laufen, fange ich an zu Fliegen. Erst habe ich Angst, doch dann gefällt es mir. Ich breite die Arme aus und gleite über die Landschaft hinweg. Unter mir sehe ich Straßenzüge; Dörfer und Felder. Ich geniesse es mit den Wolken zu fliegen, doch dann falle ich. Tiefer und tiefer." Wieder wache ich schweissgebadet auf.
Als ich einmal bei meinen Großeltern war, träumte ich das meine Füße brennen. " Ich lag auf der Schlafcouch meiner Großeltern, sah an mir herunter und meiner Füße brannten."
Doch der hartnäckigste Traum hat mich bis zu meinem 36igsten Lebenjahr verfolgt.
" Ich fahre einen weißen VW-Käfer, ohne Gangschaltung. Ich fahre einfach so durch die Gegend." Immer dasselbe Auto, immer weiß und ohne Gangschaltung.
Ich glaube dieser Traum hat mit meiner Mutter zutun gehabt, denn bevor ich ihn das letztemal träumte hatte ich Streit mit Ihr. Im folgenden Traum fuhr dann nicht ich den weißen VW-Käfer, sondern meine Mutter. Ich hatte ein anderes Auto. Wir trafen uns im Traum irgendwo, um miteinander zu reden. Doch wir stritten uns erneut und trennten uns. Seitdem habe ich diesen Traum nie mehr geträumt. Damals habe ich aufgehört meiner Mutter nachzuweinen. Ich hatte eine eigene Familie und wollte mich voll und ganz auf sie konzentrieren. Ich konnte endlich loslassen.
-Fortsetzung folgt-

Liebe Grüße
Heike
Emily
Beiträge: 1217
Registriert: 13. Feb 2003, 09:52

Re: Woher habe ich die Kraft genommen?

Beitrag von Emily »

Liebe Heike,

beim Lesen deines Postings fällt mir der schöne Spruch ein: "Alles im Leben hat seine Zeit." Je älter ich werde, desto mehr erkenne ich die Wahrheit hinter diesem Satz. Lachen und Weinen hat seine Zeit, Glück und Trauer, Verstehen und Nichtverstehen, Gesundheit und Krankheit, Stehenbleiben und Entwickeln, und so vieles andere auch noch. Vielleicht ist jetzt der Moment für dich, das Erlebte mal zu hinterfragen, zu deuten, besser zu verstehen, zu interpretieren? Wenn du dieses Bedürfnis spürst, dann ist es doch gut so, oder nicht?

Ich war 8 Jahre lang krank, mir kam es wie eine entsetzliche Ewigkeit vor. Immer stärker wurde das Bedürfnis, die erlebten Dinge endlich irgendwie einsortieren, verstehen, verarbeiten zu können. Sinngebung für die scheinbare Sinnlosigkeit war und ist so wichtig für mich! Die Art der Verarbeitung schlimmer Erlebnisse mag für jeden Menschen sehr verschieden sein. Ich hatte und habe nach wie vor den Eindruck, dass das Gespräch mit anderen, die ebenfalls schlimme Erfahrungen machen/machten, unglaublich positive Wirkungen in einem freisetzen kann. Das buchstäblich "er-lebte" Verständnis dabei ist mir persönlich sehr wichtig. Ich wüsste nicht, wodurch man es auf gleichwertiger Ebene ersetzen könnte.

Für deine Geschichte kannst du nichts. Sie war so, wie sie eben war. Viele Dinge sind nicht beeinflussbar für uns, sie entziehen sich unserer Einflussnahme vollkommen, auch wenn wir uns noch so anstrengen. Meine Krankheit habe ich einem Arzt zu "verdanken". Ein Widerspruch in sich? Leider nein! Ich hatte lange Zeit schlimme Schuldgefühle wegen meiner Krankheit, obwohl ich vom Verstand her genau wusste, dass diese Gefühle von Schuld völliger Unsinn waren. Jeder hat seine Zeiten von Krankheit, Schuldgefühlen, Versagensgefühlen, Fassunglosigkeit ggü. Ereignissen und ihren Folgen. Die Frage, die sich mir jeden Tag neu stellt, lautet für mich: Was kann ich an Positivem daraus gewinnen?
Das ist auch einer der Gründe, warum ich solch ein Forum so wichtig finde. Wo sonst könnte ich so viele wertvolle Erfahrungen von Menschen vermittelt bekommen, die auch durch tiefe Täler gegangen sind/gehen? Natürlich lese ich Bücher zur Thematik, aber wo bleiben die Menschen hinter diesen Büchern? Hier lese ich die Postings, aber die Menschen dahinter kann man spüren. Das ist ein entscheidender Unterschied.

Interessiert an deiner Fortsetzung ...
Emily.
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