***

Antworten
Liber
Beiträge: 1491
Registriert: 4. Jun 2006, 18:09

Re: Schuldgefühle

Beitrag von Liber »

Liebe Pusteblume,

ja, ich kenne eine solche Situation auch.

Und ich hatte im Umgang mit dieser Situation viele Jahre lang nur die Wahl zwischen Verdrängen oder Depression und Schuldgefühlen.

Eine dritte Möglichkeit ist: Sich selbst vergeben.

Das klingt banal und gleichzeitig schwammig - denn wie soll das gehen, mir selbst zu vergeben?

Oft habe ich das versucht, und es ist mir nicht gelungen. Im Endeffekt war es doch nur wieder Verdrängung, bis ein erneuter Auslöser alles wieder unverändert nach oben spülte.

Seit kurzem aber ist etwas Neues dazugekommen. Ich versuche, diese Situation und mein damaligen Fühlen und Handeln, also mich selbst, wie ich damals war, nicht wie bisher "loszuwerden", sondern im Gegenteil liebevoll in mein Leben hereinzuholen. Ich stelle mir mich vor, wie ich damals war, und lade diesen Menschen, die Brittka von damals, zu mir ein. Bisher hatte ich ja alles versucht, sie auszusperren. Ich wollte mit ihr im Grunde nichts zu tun haben, denn sie machte mir ja all die unguten Gefühle.

Und jetzt ist also neu, dass ich sie zu mir einlade, dass ich innerlich meine Türe (mein Herz) für sie öffne und sie einlade, hereinzukommen.

Das fühlt sich ganz anders an als die Argumente, die ich vorher auch schon hatte: "Ich konnte nicht anders, weil dies und das ...."

Die Argumente reichen nicht. Zum Sich-Selbst-Vergeben braucht es mehr, das liebevolle Annehmen.

Es ist nicht leicht und ich ertappe mich ständig wieder bei den alten Schuldgefühlen.

Und trotzdem ... irgendwo dahin geht der Weg, glaube ich.

Viele Grüße
Liber
Beiträge: 1491
Registriert: 4. Jun 2006, 18:09

Re: Schuldgefühle

Beitrag von Liber »

Hallo Pusteblume,

>Ja, richtig, so geht es mir auch. Aber wie machst du das? Dich einzuladen? Machst du das über das Verständnis für die Situation? Oder über das Gefühl?

Im Grunde über beides. Es ist eben keine reine Verstandessache. Da muss noch etwas dazukommen, und das ist nicht willentlich herbeiführbar. Bei mir ist es während einer Therapiestunde gewesen, dass ich auf einmal auf einer tieferen Ebene verstehen konnte, was "ihre" (meine) damaligen Motive gewesen sind - und Mitgefühl dafür aufgebracht habe, anstatt der Verurteilung von früher. Ja, vielleicht ist es das: Mitgefühl anstatt Verurteilung.

>Oder ist es die Zeit, die es dir ermöglichte, über dich als Mensch, der du früher gewesen bist, hinauszuwachsen? Also was ich meine ist, waren es die neuen Erfahrungen, die die Vergebung mit sich brachte (vielleicht automatisch mit sich bringt)?

Ich bin mir nicht sicher. Zeit spielt sicher eine Rolle, aber reicht allein nicht. Neue Erfahrungen machen das von früher ja dennoch nicht ungeschehen. Und: es kommt vielleicht auch darauf an, worin diese neuen Erfahrungen bestehen: in der Therapie erlebte ich keine Verurteilung, sondern Verständnis. Und irgendwann ging diese innere Tür dann auf.

Aber bisher noch nicht für "alles", wofür ich mich mein Leben lang verurteilt habe, sondern es war zunächst diese eine bestimmte Situation.

Ich denke, auch das ist ein längerer Weg.

Alles Gute dir und lieben Gruß
depriheld
Beiträge: 81
Registriert: 9. Apr 2010, 15:04

Re: Schuldgefühle

Beitrag von depriheld »

War bei mir auch ein ganz großes Ding, ständiges Bereuen und darüber grübeln, was man nicht oder falsch oder zu spät gemacht hat. Quälend…
Mir hat geholfen, immer wieder nach falschen Annahmen zu schauen, die dem ganzen Komplex Schuldgefühle, Versagensängste, Minderwertigkeitsgefühle Nahrung geben.
Hinter Schuldgefühlen steht zum Einen der Gedanke, wenn ich es anders gemacht hätte, wäre jetzt alles ganz toll. Aber das ist ja nur eine Annahme. Und du weißt überhaupt nicht, kannst gar nicht überblicken, für was irgendwas noch gut (oder schlecht) ist.
Zum Anderen werden sie aus der Perspektive heraus erfahren, dass es sowas wie einen Schuldigen, ein isoliertes Ich, das eigenständig Entscheidungen trifft und echte Wahlfreiheit hat (und nicht nur den Eindruck), überhaupt gibt.
Jede Entscheidung ist eingebettet in alles, was jemals geschehen ist oder geschehen wird. Was war denn vor deiner scheinbar schlechten Entscheidung? Unendlich viele andere Entscheidungen. Und jedes Mal hast du so entschieden, wie es die gesamten äußeren Umstände + dein DAMALIGER Körper/Geist-Zustand erlaubten. So gesehen entscheidest du immer optimal, so schlimm die Konsequenzen auch scheinen mögen. Wenn du hättest anders entscheiden können, hättest du es doch getan, oder? Es ist einfach nicht zulässig, aus der jetzigen Position heraus, in der ganz andere Informationen vorliegen, ernsthaft anzunehmen, man hätte damals tatsächlich anders entscheiden können, als entschieden worden ist.
Natürlich soll das nicht jeden Mist entschuldigen, der gebaut wurde, es soll überhaupt nichts entschuldigen oder rechtfertigen. Auf der Ebene, wo das bewertet wird, war es wahrscheinlich Mist (aber wie oben erwähnt, du kannst nicht mal wissen, was dieser Mist langfristig hervorbringt – manchmal wachsen ja Blumen drauf:-)).
Lernen kann man schon draus, aber das hat mit Schuldgefühlen nichts zu tun.
Die Gedanken mit Gefühlen im Schlepptau (und umgekehrt) hämmern sonst was ein, aber es ist alles Blödsinn.
depriheld
Beiträge: 81
Registriert: 9. Apr 2010, 15:04

Re: Schuldgefühle

Beitrag von depriheld »

Das mit den "blödsinnigen" Gedanken habe ich ein bisschen salopp verallgemeinert. Oh, die ganzen Gedanken, die jahrelang bis zu Kopfschmerzen durch meinen Organismus gelaufen sind und für so ernst und wahr gehalten wurden, da fasse ich es manchmal alles unter "Blödsinn" zusammen.
Naja, genau genommen ist ja immer "IST-Zustand". Wenn man das länger versucht zu denken, kann man ein bisschen "blöd" werden oder alles steht plötzlich still:-).
Das Verrückte ist, dass es im Vorfeld unleugbar so scheint, als hätte "ich" ECHTE Wahlfreiheit, sonst gäbe es ja keine Diskussion darüber. Aber egal, wie täuschend echt die Illusion scheint, es ist eigentlich schon alles entschieden, bevor der Eindruck entsteht, "ich" habe entschieden (nachzulesen bei Neurowissenschaftlern). Und da wären wir wieder bei der Wurzel. Nämlich, dass die Entscheidung aus der Gesamtheit heraus erscheint und nicht dass eine scheinbar solide, vom Rest der Welt getrennte Entität "Ich" Entscheidungen trifft (egal wie real das erscheinen mag). Schau in die Konzepte der modernen Naturwissenschaft, kein Platz für ein wirkliches "Ich" als feste Person (so wie sie sich wahrnimmt). Wenn du träumst, triffst du da "echte" Entscheidungen oder ist das alles im Rahmen des Traumgeschehens? Genauso im 3D-Kino, treffen die Figuren echte Entscheidungen? Ich möchte jetzt aber keine komplizierten philosophischen Diskussionen lostreten, irgendwie bin ich müde davon.
In Wirklichkeit ist das ganz einfach. Entscheidungen geschehen automatisch im Kontext wie alles andere, egal ob "wichtig", "unwichtig", "schwer", "langwierig" mit oder ohne "Personengefühl". Ich mach' mir da keine Rübe mehr, ganz selbstverständlich sammle ich Informationen, überlege usw. dann purzelt was raus. Vielleicht ruft plötzlich jemand an mit neuen Informationen und alles ist 180 Grad gedreht - ok.
Auch wenn ich mich über eine Entscheidung/Handlung ärgere, weil sie im NACHHINEIN nicht so gelungen erscheint, ist der Ärger kurz, ich bin echt unfähig geworden, eine große Geschichte hineinzugrübeln oder Schuldgefühle zu generieren. Um Akzeptanz muss sich auch keine Sorgen gemacht werden. Mal wird akzeptiert, mal nicht, das macht gar nichts. Es ist halt trotzdem, was ist, dann eben Nicht-Akzeptanz. Diese ganze Anstrengung um Akzeptanz (für das, was eh da ist) ist eigentlich kurios. Aber das ist auch, was ist.
Alles Liebe.
depriheld
Beiträge: 81
Registriert: 9. Apr 2010, 15:04

Re: Schuldgefühle

Beitrag von depriheld »

Gute Reise, liebe Pusteblume!:-)))
KaMa
Beiträge: 63
Registriert: 23. Dez 2009, 00:29

Re: Schuldgefühle

Beitrag von KaMa »

Hallo zusammen,

ich sehe es genau wie Depriheld – der freie Wille ist pure Illusion, und deswegen gibt es im Prinzip weder Schuld noch Schuldige. Verantwortlichkeiten im Sinne von Ursachen gibt es natürlich immer, aber das ist etwas anderes als Schuld.

Zu dieser Erkenntnis kam ich wie folgt:

Vor einiger Zeit machte ich eine völlig krasse Selbsterfahrung: Ich wollte etwas bestimmtes (völlig legales und normales) tun, fühlte dabei aber unterschwellig, dass mein eigentliches Motiv für diese Handlung ein anderes war als das offensichtliche, untadelige. Ich nahm allen Mut zusammen und begann, in den dunklen Ecken meiner Seele nachzugraben – und machte die befürchtete, schaurige Entdeckung: Mein verstecktes Motiv war ein "verwerfliches". Und obwohl ich mir dieses niedere Motiv eingestand (und mich dafür schämte), verschwand es nicht wie ein böser Dämon, der das Licht der Entdeckung scheut, sondern erzeugte weiterhin in mir den Drang zum Handeln!

Darüber, dass so etwas möglich war, also dass ich offensichtlich ganz bewusst etwas wollte, was ich selbst gleichzeitig für "schlecht" hielt, geriet ich in stundenlange Grübeleien und Verwirrung.

Aus dieser Verwirrung erwachte ich mit der für mich bahnbrechenden Erkenntnis, dass ich im Prinzip nicht Herr meiner selbst bin, weil ich nicht von meinem Willen, sondern von meinen Gefühlen und Bedürfnissen gesteuert werde – denn das niedere Motiv, von dem ich gerade sprach, entstand letztlich aus dem Bedürfnis, einen gefühlten Mangel auszugleichen. Und meine Gefühle und Bedürfnisse entstehen auf der Basis meiner Gene und meiner Erfahrungen. Mir wurde also mit einem Mal klar, dass ich (manchmal/oft/immer?) einfach nicht so sein kann, wie ich sein möchte!

Diese Erkenntnis hat meine Sicht sowohl auf meine eigenen Verletzungen als auch auf andere Menschen grundlegend verändert. Denn wenn ich nicht sein kann, wie ich sein will, so können das andere Menschen ebenso wenig!

Ich begriff schlagartig, dass ich nicht verletzt wurde, weil ich es verdient habe, sondern weil diejenigen, die mich verletzt haben, auf Grund ihrer eigenen Gene und schmerzlichen Erfahrungen und ihren daraus resultierenden Gefühlen und Bedürfnissen nicht anders handeln konnten, als sie es eben taten. Es war ein unglaublich erhebendes Gefühl, denn mit einem Mal fielen sowohl Wut und Hass, die ich gegenüber denjenigen empfand, die mir Leid zufügten, als auch der Schmerz dieser alten Verletzungen von mir ab – das war echte Heilung!

Diese Erkenntnis hat auch bewirkt, dass ich mit meinen Mitmenschen nun anders umgehen kann als zuvor, ich bin viel weniger verletzbar geworden, weil ich zum einen vieles nicht mehr als Angriff sehe, und zum anderen weiß, dass Angriffe im Prinzip nicht mir persönlich gelten, sondern aus dem Schmerz des Angreifers resultieren, der dem (völlig menschlichen) Irrtum unterliegt, ich sei für sein Leid (mit)verantwortlich.

Und nun? Alles eitel Sonnenschein, Friede, Freude, Eierkuchen? Nein, leider ganz und gar nicht. Denn obwohl mir obiges wirklich sonnenklar ist und ich weder mich noch jemand anderen ernsthaft anklage oder gar schuldig spreche dafür, wie mein Leben verlaufen ist, leide ich immer öfter so sehr darunter, dass ich glaube, es irgendwann nicht mehr aushalten zu können. Und ich habe Angst, dass mir dann der Mut fehlen wird, es zu beenden, und ich auf ewig (bis zu meinem natürlichen Tod) dazu verdammt bin, meine selischen Schmerzen zu ertragen.

Wie kann ich meiner Hölle entkommen und mich mit meinem Leben aussöhnen, ohne mich in vage Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zu flüchten? Denn diese Hoffnungen werden mit zunehmendem Lebensalter logischerweise immer geringer, und man wird immer härter und unerbittlicher auf sich selbst und das Jetzt zurückgeworfen.

Gruß, Karl

PS: Die Forumsuhr geht etwa vierdreiviertel Minuten vor, es ist also noch nicht so spät, wie es scheint:

http://www.ptb.de/cms/presseaktuelles/u ... ation.html

depriheld
Beiträge: 81
Registriert: 9. Apr 2010, 15:04

Re: Schuldgefühle

Beitrag von depriheld »

Ist das Missverständnis der getrennten Person aktiv, sind automatisch Schuldgefühle möglich. Je nach Konditionierung beim Einen mehr, beim Anderen weniger. Sonst gibt es vielleicht sowas wie Betroffenheit, Wut, Ärger, Traurigkeit, die dann die Handlungen in eine andere Richtung lenken, quasi als Lernprozess. Aber keine echten Schuldgefühle.
Obwohl Schuldgefühle keine wirkliche Grundlage haben, geht es nicht darum, dass sich alle, auch Mörder und Kinderschänder, auf diese Weise rechtfertigen könnten. Sicher könnten sie es tun und haben ja schon oft von "verminderter Schuldfähigkeit" Gebrauch gemacht. Klar, in letzter Konsequenz haben sie keine Schuld, aber die Taten gehen von ihnen aus, und das muss entsprechende Konsequenzen haben.
Offensichtlich hat das Konzept „schuldhafter Sünder“, "karmische Schuld" auch nicht zu paradiesischen Zuständen geführt.
Bevor man sich in der Frage nach gesellschaftlicher Bedeutung verliert, sollte man es erst mal für sich selbst herausfinden.
Ja, ein theoretisches Verstehen ist nur der Anfang. Das theoretische Verstehen von Liebe ist ja nicht das Gleiche wie das Erfahren von Liebe.
Ich empfehle, sich auf keinen Fall irgendwas einzureden. Sondern ehrlich immer wieder hinzuschauen. Solange wie keine wirkliche Klarheit jenseits von Theorie herrscht, bringt es nichts zu leugnen, den Eindruck zu haben, es gäbe wirklich den Denker, den Täter, die solide Person, die Entscheidungen trifft. Das ist ein Paradox, aber was soll’s.
Übrigens gibt es nicht nur keine "Schuld" an "schlechten" Taten, sondern auch nicht an "guten". Fällt die Schuld, fällt auch der Stolz.
@Karl Mayer
Wenn du die niederen Motive bemerkst, musst du doch nicht nach ihnen handeln, aber verdammen brauchst du sie auch nicht, wenn sie nunmal da sind. Finde heraus, wer die niederen Motive hat und wer sie verdammt und ob es zwischen "dir", den "Motiven", dem "Besitzer" der Motiven eine wirkliche Trennung gibt, geben kann.
Aus meiner Sicht bleibt nichts, außer die Schmerzen einzuladen und auszuhalten. Ewig werden sie sich nicht halten können. Was Hoffnung und Trost angeht, ich hatte keinen mehr und wollte keinen mehr. Hoffnungen und Erwartungen halten den Verwirrungsmechanismus am Laufen.
Für mich war wichtig nachzuvollziehen, dass alles so ist, egal ob „ich“ damit einverstanden bin oder nicht. So, wie es trotz Urlaub einfach regnet ohne mich zu fragen. Tja und das führte u.a. zu der einleuchtenden Erkenntnis, dass es wie im Traum keine wirkliche Vergangenheit, keine wirkliche Zukunft, keine wirkliche Person geben kann.
Wenn es dämmert, muss sich das vorübergehend gar nicht lofty, easy und nach „Liebe“ anfühlen.
Antworten