Hallo Sebastian,
bisher habe ich nur mitgelesen, aber jetzt juckt es mich doch in den Fingern: Dein Vater war/ist Pfarrer, soll heißen, Du hast eine christliche Erziehung genossen. Nachdem Du Akademiker bist, bist Du sicher in der Lage, die Bibel selbst zu deuten, und wenn ich mich richtig erinnere, steht da irgendwas in der groben Richtung, dass Gott unser Richter ist und niemand sonst. Warum also verurteilst Du Dich selbst? Das kannst Du am Ende Deines Lebens getrost ihm überlassen. Vorher wird er kein Urteil fällen, wenn man dem Neuen Testament Glauben schenken darf.
Wie wäre es, wenn Du Deine Schuldgefühle, Deine Minderwertigkeitsgefühle und alles Negative in Gottes Hand legst und bei der Gelegenheit mal schaust, was Du alles an positiven Anlagen in Dir trägst? Ist Dir das zu philosophisch, gotteslästerlich oder so? Würde mir leid tun, denn es ist als ENTlastung gedacht, nicht als BElastung.
Du bist schon sehr lange in Deinem negativen Denken und Fühlen gefangen, zu lange vielleicht, um noch Hoffnung zu haben. Kannst Du Dich überhaupt noch an Zeiten erinnern, in denen es Dir besser ging? Während des Auslandsaufenthalts möglicherweise?
Ich verstehe gut, dass Du keine Energie hast, ausgelaugt aus der Arbeit kommst, keine Erfolgserlebnisse hast, keine Lust auf irgendetwas. Das klingt schon sehr nach stärkerer Depression. Und der Wunsch, keine Verantwortung mehr zu haben, Ruhe zu finden, Dich entspannen zu können, auch.
Es mag in Deinen Ohren brutal klingen, aber solange Du Dich noch weigern kannst, in eine Klinik zu gehen, geht es Dir noch nicht schlecht genug. Ich habe Zeiten erlebt, in denen ich alles getan hätte, um diesem entsetzlichen Zustand der inneren Leere, des absolut Gar-nichts-mehr-fühlens zu entkommen, gemischt mit Phasen, in denen da nur noch Schmerz war, undefinierbar, aber vorhanden, Tag und Nacht.
Ich kenne die sich ständig drehenden Gedankenkarusselle, die Kraftlosigkeit, den Wunsch, möglichst niemanden zu Gesicht zu bekommen, weil der ja möglicherweise von mir wollen könnte, nur allzu gut. Der Ausweg heißt tatsächlich Veränderung - Veränderung im Denken, und dazu brauchst Du einen entsprechend geschulten Helfer. Wenn es nicht dieser Therapeut ist, ist es vielleicht ein anderer.
Und Sebastian, Du musst niemandem etwas beweisen, weder dass Du ein toller Hecht bist noch dass Du es eben nicht bist. Dir geht es sehr schlecht, und nur dadurch, dass Andere das zur Kenntnis nehmen, Deine Eltern z.B., ändert sich nichts daran. Ich verstehe, dass Du keine Lust und keine Energie hast, dagegen anzukämpfen, keinen Sinn darin siehst. Aber mal ganz ehrlich: wer außer Dir selbst behauptet, dass Du kein Recht darauf hast, ein glückliches selbstbestimmtes Leben zu führen? Hast Du Dir jemals Gedanken darüber gemacht, WARUM Du glaubst, Du hättest nicht genug geleistet, um glücklich sein zu dürfen? Wer legt das Maß dessen fest, was Du leisten musst, um Dir ein schönes Leben zu verdienen? Du? Dein Chef? Dein Vater?
Du hast einen neuen Halbjahresvertrag - bei einem neuen Arbeitgeber? Und auch dort fühlst Du Dich nicht wohl? Vielleicht solltest Du mal darüber nachdenken, Dich beruflich völlig neu zu orientieren und in die Entwicklungshilfe zu gehen oder so. Da werden u.a. Ingenieure gebraucht, und zu sehen, wie Dein Tun sofort positive Auswirkungen hat, hilft Dir vielleicht, mehr Freude an der Arbeit zu entwickeln, einen Sinn im Leben zu finden.
Derartige Überlegungen sind anstrengend, ich weiß, aber auf eine Wunderheilung kannst Du leider nicht hoffen. Die Zeiten, als Jesus auf der Erde wandelte und zu den Menschen sagte: "steh auf, nimm Deine Bahre und geh", sind leider vorbei. Und auf "... aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund", ist bedauerlicherweise auch kein Verlass.
Um Deiner selbst Willen: gib Dich nicht auf! Du bist jeden Einsatz wert, absolut jeden! Mach Dich frei von den Einflüssen Deiner Kindheit und schau auf das, was Du schon erreicht hast: Du hast Abitur gemacht, studiert, promoviert. Das schafft nicht jeder. Du hast eine Freundin, mit der Du gut auskommst. Auch das kann nicht jeder von sich behaupten. Du liebst sie nicht? Bist Du sicher? Oder ist das die Depression, die aus Dir spricht? Liebt sie Dich denn? Vermutlich ja, sonst wäre sie nicht mit Dir zusammen. Freu Dich, da ist ein Mensch, der Dich für wertvoll hält, dem Du nichts beweisen musst.
Du weißt nicht, worüber Du mit anderen Menschen reden sollst? Wer sagt, dass Du reden musst? Manchmal ist es sehr erholsam, mit jemandem gemeinsam zu schweigen.
Hast Du jemals darüber nachgedacht, dass zu einem Gespräch zwei gehören: einer, der redet, und einer, der zuhört. Wer aktiv zuhören kann, ist oft ein gefragter, weil rarer Gesprächspartner.
Das, worüber Andere reden, interessiert Dich nicht? Hast Du schon mal versucht, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben?
Du bist in gewisser Weise sehr zwiegespalten: einerseits möchtest Du dabeisein, wenn Andere etwas unternehmen und andererseits empfindest du das als Last. Aus meiner Sicht ebenfalls typisch für eine Depression. Vielleicht solltest Du Deinen Freunden reinen Wein einschenken und sie bitten, kleinere Dinge mit Dir zu unternehmen, bei dem derzeitigen Wetter mit Dir Eisessen zu gehen oder so und nicht böse zu sein, wenn Du Dich nicht großartig am Gespräch beteiligst.
Depressive sind in der Regel sehr empfindsame Menschen, besitzen in guten Zeiten viel Empathie. Ich nehme mal an, bei Dir ist das nicht anders. Nutze diese Deine Fähigkeiten, wann immer Du kannst. Und wenn Du es nicht kannst, weil es Dir zu schlecht geht, vergiß nicht: Du bist krank, und das ist nicht Deine Schuld. Es ist niemandes Schuld und auch keine Strafe für irgendein Fehlverhalten. So funktioniert das Leben nicht, auch wenn Du das zu glauben scheinst. Wäre das wahr, müssten alle Mörder und sonstigen Verbrecher todsterbenskrank sein. Sind sie aber nicht.
So viel wollte ich eigentlich nicht schreiben, aber es sprudelt nur so aus mir heraus. Bitte nicht übel nehmen! Ich will Dich weder beleidigen noch Dir auf die Zehen treten noch Dir unterstellen, dass Du Dich nicht ändern willst, sondern Denkanstöße geben, querdenken sozusagen, andere Interpretationen ins Spiel bringen als Deine eigenen.
Ich wünsche Dir viel Kraft, Geduld und Ausdauer auf Deinem ganz besonderen Weg, den Mut, Neues zu testen und die Großherzigkeit, Dir selbst und Deinen Eltern zu verzeihen.
Schuldgefühle sind auch mir nicht fremd, und ich habe unbewusst sehr lange Vergebung gesucht - bei Anderen. Es hat fast anderthalb Jahre gedauert bis ich erkannt habe, dass es nicht wichtig ist, dass Andere mir verzeihen sondern dass ich mir zuerst selbst verzeihen muss - und ihnen. Alles Andere hat sich dann von selbst gefügt. Ich nehme seit etwa 18 Monaten Antidepressiva, habe das Glück, dass sie wirken, und ich habe eine sehr einfühlsame, aber doch wissenschaftlich orientierte Therapeutin - für mich die genau richtige Mischung.
Als Akademiker brauchst Du möglicherweise auch einen Therapeuten, der Dir gehirnchemische Vorgänge aufzeigt und erklärt, wie eine Depression den Gehirnstoffwechsel verändert und warum, wie sie entsteht und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse man inzwischen gewonnen hat. Das hat mir sehr viel weitergeholfen, vorallem, was die Schuldgefühle betrifft und die Frage, "warum gerade ich", als alle Verhaltenstherapie.
Du hast es nicht nötig, mit der Krankheit zu punkten, im Selbstmitleid zu baden. Du hast viele gute Eigenschaften, die für Dich sprechen: Du bist intelligent, einfühlsam, nicht oberflächlich und dergleichen mehr. Bei näherer Überlegung kannst Du sicher noch ein paar gute Eigenschaften beisteuern, die ich noch nicht entdeckt habe in Deinen Beiträgen.
Für mich sieht es übrigens so aus, als ob Du schon während des Studiums kleine Fluchten unternommen hast, um der wohl damals schon latent vorhandenen Depression zu entkommen, und zwar durch das Kiffen. Da hast Du Dich gut gefühlt und frei, oder?
Viele Grüße
Gerbera
- Beginne nicht mit einem großen Vorsatz sondern mit einer kleinen Tat -
(kein Kalenderspruch sondern eine afrikanische Volksweisheit
![Überglücklich :-D](./images/smilies/icon_e_biggrin.gif)
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