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Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 26. Feb 2014, 09:30
von fourseasons
... Es gab einmal eine Ansiedlung von Geschöpfen am Grunde eines großen kristallklaren Flusses. Die Strömung ging ruhig über alle hinweg – einerlei, ob jung oder alt, reich oder arm, gut oder böse: Die Strömung ging ihren eigenen Weg, denn sie kannte nur ihr eigenes, kristallklares Selbst.
Jedes Geschöpf klammerte sich in der ihm eigenen Weise fest an die Zweige und Steine im Flussbett, denn ihre Art zu leben bedeutete „sich festhalten“ ; von Geburt an hatte man ihnen beigebracht, der Strömung zu widerstehen.
Aber unter Ihnen gab es ein Geschöpf, das eines Tages sagte: „Ich habe es satt, mich immer festzuhalten! Ich kann es zwar mit meinen Augen nicht sehen, aber ich vertraue trotzdem darauf, dass die Strömung weiß, wohin es geht. Ich werde loslassen, damit mich das Wasser forttragen kann, wohin es will; denn wenn ich mich weiter festhalte, werde ich vor Langeweile sterben.“
Die anderen Geschöpfe lachten und sagten: „Du Narr! Lass nur los, und du wirst sehen, wie die Strömung, die du so sehr verehrst, dich packen und auf die Felsen schmettern wird, und du wirst schneller daran sterben als vor Langeweile!“
Aber dieses eine Geschöpf hörte nicht auf sie: Es holte einmal tief Luft und ließ los und wurde sofort herumgewirbelt und von der Strömung gegen den Felsen geschmettert. Aber noch rechtzeitig trug die Strömung das Geschöpf, das sich nicht mehr festhalten wollte, vom Grunde des Flusses frei, und es wurde nicht länger zerschunden oder verletzt.
Und all die Geschöpfe, die sich stromabwärts angesiedelt hatten und die es nicht kannten, riefen: „Sehet, ein Wunder! Ein Geschöpf wie wir, und doch fliegt es! Seht der Messias ist gekommen, uns alle zu erlösen!“
Und der, den die Strömung getragen hatte, sagte: „Ich bin nicht mehr der Messias als ihr auch. Der Fluß tut nichts lieber als uns zu befreien, wenn wir nur den Mut aufbringen loszulassen. Unsere wahre Aufgabe ist diese Reise, ist dieses Abenteuer.“
Aber sie riefen nur um so lauter: „Erlöser!“ und klammerten sich dabei an die Felsen, und ehe sie sich’s versahen, war er gegangen, und sie blieben allein zurück und spannen ihre Legenden von einem Erlöser.

Aus „Illusionen“ von Richard Bach

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 27. Feb 2014, 12:59
von La_crimosa
Schotterblume

Eine weiße Blume,
ganz klein und ganz zart,
wächst aus dem Schotter hervor,
aus dem Geröll
und streckt sich der Sonne entgegen.
Ich stehe davor, ganz ergriffen,
denk’ an mein Leben
und wünsche mir,
vor allen anderen Dingen,
dass mir das gleiche
wie dieser Blume möge gelingen.

(Dagmar Minor-Püllen)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 1. Mär 2014, 19:51
von krimi56
Diese kleine Geschichte passt so herrlich zu dem "kleinen Meer" an dem ich jetzt bin und auch zu meinen Gefühlen.

Es war einmal eine kleine Welle.

Tief in ihrem Innern war sie sehr unglücklich und klagte: “Ich fühle mich so schlecht. Die anderen Wellen sind so groß und so stark, während ich nur so klein und schwach bin. Das Leben ist ungerecht!”

Zufällig kam eine große Welle vorbei.

“Ich habe deine Worte gehört.” sagte sie. “Dir geht es so, weil du noch nicht deine wahre Natur erkennst. Dir geht es schlecht, weil du denkst, dass du nur eine kleine Welle bist, aber das ist nicht wahr.”

“Was sagst du da?” fragte die kleine Welle. “Natürlich bin ich eine Welle” Schau, hier ist meine Krone und das hier ist mein Wellenschlag. Ich bin klein, aber ich bin eine Welle!”

“Was du als “Welle” bezeichnest, ist nur deine Form. Du bist in Wahrheit Wasser. Wenn dir gelingt, zu verstehen, dass du nur eine zeitlang eine Welle bist, aber immer Wasser sein wirst, wirst du nicht mehr unglücklich sein.”

“Aber wenn ich Wasser bin, was bist dann du?”

“Auch ich bin Wasser. Ich habe für eine kurze Zeit die Form einer Welle, die größer ist als du. Aber meinem Wesen nach bin ich Wasser. Ich bin du und du bist ich. Wir sind beide Teile eines großen Ganzen.”


nach Xin Zhou Li

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 5. Mär 2014, 10:39
von Junie
Ich warte und warte und es kommt keine Veränderung. Von dir nicht, von mir nicht.
Der gleichbleibende Rhythmus stellt sich ein.
Der Hass wächst. Erst langsam, dann explosionsartig.
Völlig entartet ist nun die Aggression.
Dann Wut, dann Enthusiasmus, dann Leere.
Die Traurigkeit nimmt ihren Platz ein und macht es sich gemütlich.
Ich überlege, wer an ihre Stelle treten kann.
Und entscheide mich für MICH.

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 10. Mär 2014, 16:33
von La_crimosa
ich spüre es wachsen

aufbäumen
um nicht
ins Dunkel
zu fallen

mich wehren
um nicht
im Dunkel
unterzugehen

mich ergeben
und nicht länger
dem Dunkel
widerstehen

bedingungslos
lassen
dunkel
sein

nichts
mehr
wollen

damit
Neues
werden
kann

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 12. Mär 2014, 11:33
von katyfel
toll, lacrimosa, ist das von dir oder woher hast du es?


Dich loslassen immer wieder in die Weite die zwischen uns ist
Mich selbst verlieren und wieder finden im Dunkelsee der Fragen
Rätsel um Rätsel dir auf der Spur
Unsere Augen finden immer wieder den Blick zueinander
Mit den Sehnsuchtszeichen gestreut auf unseren Wegen
Unsere Hände greifen ins Leere des Geheimnisses
Und schöpfen doch aus dem Vollen unserer Liebe

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 12. Mär 2014, 18:37
von La_crimosa
Hallo Katyfel,
schön, dass es Dir gefällt! Es ist nicht von mir geschrieben. Ich habe es in meiner Gedichte-Sammlung gefunden - leider ohne Angabe des Autors/der Autorin (habe ich auch nicht im www gefunden...).

Dein Gedicht ist von Dir?! - Ich wünschte, ich hätte die Gabe, Gedanken, Gefühle, Erlebnisse in Worte zu fassen...

Liebe Grüße,
Susanne

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 12. Mär 2014, 20:15
von katyfel
Liebe Susanne,
nein, auch das ist nicht von mir, sondern von "Unbekannt".
Ich schreibe zwar, auch gerne und inzwischen relativ viel, würde mich aber glaube ich nicht trauen, das auch hier zu posten...

Liebe Grüße, Sinfonia

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 22. Mär 2014, 09:52
von La_crimosa
Vielleicht

Erinnern
das ist
vielleicht
die qualvollste Art
des Vergessens
und vielleicht
die freundlichste Art
der Linderung
der Qual.

(Erich Fried)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 23. Mär 2014, 19:44
von Zarra
Der Mann, der den Berg abtrug, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen.
(aus China)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 25. Mär 2014, 23:48
von krimi56
Das schielende Huhn

Es war einmal ein Huhn, das stark schielte.

Dieses schielende Huhn sah deshalb die ganze Welt etwas schief und glaubte, sie sei tatsächlich schief.

So sah es z.B. auch seine Mithühner und den Hahn schief. Es lief immer etwas schräg und stieß ziemlich oft gegen die Wände.

An einem windigen Tag ging das schielende Huhn mit seinen Mithühnern am Turm von Pisa vorbei.

“Schaut euch das an”, sagten die Hühner, “der Wind hat diesen Turm schiefgeblasen.”

Auch das schielende Huhn betrachtete den Turm und fand ihn aber völlig gerade. Es sagte nichts, dachte aber bei sich, dass die anderen Hühner womöglich schielten.

(Von L. Malerba: Die nachdenklichen Hühner)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 27. Mär 2014, 10:50
von La_crimosa
In manchen Stunden
meines Lebens
ahne ich
was Leben
eigentlich alles
sein könnte

Und dann
weine ich
um jede Sekunde
die ich nicht gelebt habe

(Andrea Schwarz)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 27. Mär 2014, 10:57
von La_crimosa
Bedrohliche Schatten
an meinem Weg

meine Angst
lässt mich stehenbleiben

statt zu gehen
immer weiter zu gehen

nur so
könnte ich irgendwann
das Reich der Nacht
hinter mir lassen

(Andrea Schwarz)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 31. Mär 2014, 12:50
von krimi56
Der fehlende Ton

Man stelle sich ein Lied vor, ein Lied das viele viele Töne hat.
Das Lied ist wunderschön, weil jeder dieser Töne da ist und seinen ganz eigenen Beitrag zur Melodie leistet. Es gibt hohe und schrille Töne und es gibt tiefe, ruhige und gedämpfte Töne.
Manche Töne sind ganz kurz, andere dagegen lang und es gibt auch noch welche die sind dazwischen – mittellang.

Aber zurück zu unserem Lied.
Plötzlich passiert etwas Unerwartetes: Jemand lässt einen einzigen Ton herausfallen und augenblicklich klingt die komplette Melodie anders.
Es fehlt ein Ton, dieser bestimmte Ton!
Und - die anderen Töne, die auf ein Zusammenspiel mit ihm, dem fehlenden Ton, abgestimmt sind, müssen sich an eine leere Stelle in der Notenzeile gewöhnen.
Immer wieder, lange Zeit wird das Lied dann ohne diesen bestimmten Ton gespielt. Es gibt auch keinen Ersatz für diesen Ton, denn man kann einen Ton nicht so einfach ersetzen.
An seiner Stelle steht einfach nichts.

Den anderen Tönen gefällt das nicht, sie finden es seltsam, dass dieser Platz von nun an ganz leer sein soll und so entscheiden sie sich, dem verlorenen Ton ein Denkmal zu setzen. Sie setzen ein Pausenzeichen an seine Stelle, um zu erinnern, dass an diesem Platz einmal ein besonderer Ton saß.

Nach einer langen Zeit wird auch dieses Lied zu einem gern gehörten Lied. Es ist zwar anders als das Lied vorher, ganz anders, aber als man sich nach einiger Zeit mit der ungewohnten Pause ein wenig vertraut gemacht hat klingt die Melodie des Liedes wieder schön, mit der Pause, wunderschön - aber eben ganz anders!

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 4. Apr 2014, 10:30
von krimi56
Eine Frage der Perspektive

Sherlock Holmes und Doktor Watson gingen zusammen zum Campen. Sie verbrachten einen wundervollen Tag in der freien Natur und wanderten durch die hügelreiche Landschaft.

Als es dämmerte errichteten sie ihr Zelt. Nachdem sie ein köstliches Mahl zubereitet und aufgegessen hatten, fielen sie beide müde in den Schlaf.

Sehr früh in der Nacht wachte Holmes auf, grunzte etwas und weckte seinen Assistenten mit einem leichten Stoß in die Rippen.

“Watson” sagte er. “Öffne schnell die Augen und schau hinauf zum Himmel. Was siehst du?”

Watson erwachte schlaftrunken.

“Ich sehe Sterne, Holmes.” antwortete er. “Unendlich viele Sterne.”

“Und was sagt dir das, Watson?” fragte Holmes.

Watson dachte für einen Augenblick nach.

“Tja Holmes, das sagt mir, dass dort draußen ungezählte Sterne und Galaxien sind und wahrscheinlich Tausende von Planeten. Ich nehme deshalb an, dass doch eine ganze Menge gegen die Theorie spricht, dass wir allein im Universum sind. Ich schau hinauf in den Himmel und fühle mich demütig angesichts dieser unendlichen Weiten.

Und was sagt es dir?”

“Watson, du bist ein Narr!” rief da Holmes. “Mir sagt es, dass jemand unser Zelt gestohlen hat!”

(gefunden in Joseph O’Connor: Extraordinary Solutions For
Everyday Problems, - "Heute ist mein Tag!: Außergewöhnliche Lösungen für alltägliche Probleme" - frei übersetzt und leicht überarbeitet)

Quelle: http://www.zeitzuleben.de/2769-eine-fra ... pektive-2/" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 4. Apr 2014, 14:49
von La_crimosa
Zuversicht
Manchmal sind es die Träume, dich dich überwintern lassen,
die dich in der Zeit abgestorbener Liebe und erfrorener
Hoffnung in zarten Bildern ahnen lassen, dass kahle Zweige
morgen wieder Knospen treiben.

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 6. Apr 2014, 09:05
von white hope
Ein bisschen mehr Friede und weniger Streit.
Ein bisschen mehr Güte und weniger Neid.
Ein bisschen mehr Liebe und weniger Hass.
Ein bisschen mehr Wahrheit - das wäre was.

Statt so viel Unrast ein bisschen mehr Ruh.
Statt immer nur Ich ein bisschen mehr Du.
Statt Angst und Hemmung ein bisschen mehr Mut.
Und Kraft zum Handeln - das wäre gut.

In Trübsal und Dunkel ein bisschen mehr Licht.
Kein quälend Verlangen, ein bisschen Verzicht.
Und viel mehr Blumen, solange es geht.
Nicht erst an Gräbern - da blühn sie zu spät.

Ziel sei der Friede des Herzens.
Besseres weiß ich nicht.

Peter Rosegger (1843-1918)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 8. Apr 2014, 17:56
von white hope
Der kleine Baumwollfaden

Es war einmal ein kleiner Baumwollfaden, der war mit sich und der Welt unzufrieden. Er hatte Angst, dass es mit ihm einfach zu nichts reicht, so wie er war:
"Für ein Schiffstau bin ich viel zu schwach", sagte er sich, "und für einen Pullover zu kurz; - um an andere anzuknüpfen - dazu habe ich zu viele Hemmungen. Für eine Stickerei eigne ich mich auch nicht, denn dazu bin ich zu blass und farblos. - Ja, wenn ich aus Lurex wäre, dann könnte ich eine Stola verzieren oder ein Kleid. Aber so? - Es reicht einfach zu nichts! Was kann ich schon? Niemand braucht mich. Niemand mag mich. Und ich mag mich selbst am allerwenigsten." So sprach der kleine Baumwollfaden und dann legte er traurige Musik auf und fühlte sich ganz niedergeschlagen in seinem Selbstmitleid.

Da klopfte ein Klümpchen Wachs an seine Türe und sagte: "Lass dich doch nicht so hängen, Baumwollfaden. Ich weiß etwas. Ich habe da eine Idee: wir beide tun uns zusammen! Für eine lange Osterkerze bist du zwar als Docht zu kurz, und ich habe dafür nicht genug Wachs. Aber für ein Teelicht reicht es allemal! Das wärmt und macht ein bisschen heller. - Es ist besser, ein kleines Licht anzuzünden als immer nur im Dunkeln zu sitzen, zu schimpfen und zu jammern."

Da war der Baumwollfaden ganz glücklich, tat sich mit dem Klümpchen Wachs zusammen und sagte: "Nun hat mein Dasein doch einen Sinn bekommen!"

Und wer weiss, vielleicht gibt es in der Welt noch mehr kurze Baumwollfäden und kleine Wachsklümpchen, die sich zusammentun, ein kleines Licht anzünden und leuchten.

Autor unbekannt

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 10. Apr 2014, 22:27
von krimi56
Ich glaube diese Geschichte wurde im letzten oder vorletzten Jahr schon einmal hier vorgestellt.
Sie ist aber so schön und daher immer wieder lesenswert!


DIE KLEINEN LEUTE VON SWABEDOO

Vor langer, langer Zeit lebten kleine Leute auf der Erde. Die meisten von
ihnen wohnten im Dorf Swabedoo, und sie nannten sich Swabedoodahs.
Sie waren sehr glücklich und liefen herum mit einem Lächeln bis hinter
die Ohren und grüßten jedermann.


... weiterlesen hier: http://www.robin-in-amerika.de/blog/bil ... hichte.pdf" onclick="window.open(this.href);return false;

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 24. Apr 2014, 14:02
von krimi56
Die Schnecke und der Kirschbaum

Der Meister wurde einmal gefragt, ob er es nicht manchmal Leid sei und sich entmutigt fühle, wenn all seine Mühe kaum Früchte trägt. Da erzählte er die folgende Geschichte:

Es war einmal eine Schnecke, die sich an einem nasskalten, grauen und stürmischen Frühjahrstag aufmachte, am Stamm eines Kirschbaumes hinaufzuklettern.

Die Spatzen, die überall im Garten saßen, lachten über die Schnecke und zwitscherten: “Du bist ja ein Dummkopf – schau doch, da sind überhaupt keine Kirschen am Baum! Warum machst du dir die Mühe, da hochzuklettern?”

Die Schnecke kroch unbeirrt weiter und sagte zu den Spatzen: “Das macht mir nichts – bis ich oben angekommen bin, sind Kirschen dran!”

(aus Mello, Anthony de: Gib deiner Seele Zeit,
Herder, 1999,
)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 24. Apr 2014, 23:35
von white hope
Mein Leben war ein Wandteppich von großer Farbenpracht,
der aus kurzen Augenblicken eine Vision der Dauer macht,
ein reichgewirktes Zauberwerk aus blau und goldenen Flecken,
ein Wandteppich für Aug´ und Hand, unmöglich zu verstecken

Carole King

___________________________________________________________________________________________

Unser Leben ist eine Patchwork-Decke, die eine unsichtbare Hand aus
verschiedensten Stoffresten zusammengenäht hat. Die zerrissenen
blutroten Stückchen Streit, das beige der Pastete, die samstags in
Großmutters Küche gebacken wurde und einen herrlichen Duft verbreitete,
die leuchtenden Farben unserer glücklichen Augenblicke, Picknicks,
Sonnenuntergänge, Lachen – alle diese Flecken sind von Bedeutung für den
Teppich unseres Lebens, auch das kalte Weiß des Zweifels und der Leere.

Alle Farben des Lebens sind durch den grünen Faden des Wachstums
miteinander vernäht. Wir sind eine Mischung aus Gefühlen und Erfahrungen.
Nicht selten sind wir versucht, ein Stück schmerzlicher Erinnerung abzuschneiden.
Aber ohne es würde unter Teppich seine Schönheit einbüßen, denn der Kontrast
würde verschwinden. Nehmen wir nur ein einziges Stück heraus,
ist der Rest unvollständig und schwach.

Wird es mir heute gelingen, den Schmerz als einen Teil meiner Schönheit zu betrachten?

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 28. Apr 2014, 16:58
von krimi56
we must be
willing to let go
of the life we
have planned,
so as to have
the life that is
waiting for us.

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 7. Mai 2014, 21:10
von white hope
Das rote Strümpfchen

Als ich eines Tages wie immer traurig durch den Park schlenderte und mich auf einer Parkbank niederließ, um über alles nachzudenken, was in meinem Leben schief läuft, setzte sich ein fröhliches kleines Mädchen zu mir.

Sie spürte meine Stimmung und fragte:
„Warum bist du so traurig?“
„Ach“, sagte ich, „ich habe keine Freude im Leben. Alle sind gegen mich. Alles läuft schief. Ich habe kein Glück und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“
„Hmmm“, meinte das Mädchen. „Wo hast du denn dein rotes Strümpfchen? Zeig es mir mal. Ich möchte da mal hineinschauen.“
„Was für ein rotes Strümpfchen?“, fragte ich sie verwundert. „Ich habe nur ein schwarzes Strümpfchen.“

Wortlos reichte ich es ihr.
Vorsichtig öffnet sie mit ihren zarten kleinen Fingern den Verschluss und sah in mein schwarzes Strümpfchen hinein. Ich bemerkte, wie sie erschrak.
„Es ist ja voller Alpträume, voller Unglück und voller schlimmer Erlebnisse!“
„Was soll ich machen? Es ist eben so. Daran kann ich doch nichts ändern.“

„Hier, nimm“, meinte das Mädchen und reichte mir ein rotes Strümpfchen. „Sieh hinein!“
Mit etwas zitternden Händen öffnete ich das rote Strümpfchen und konnte sehen, dass es voll war mit Erinnerungen an schöne Momente des Lebens. Und das, obwohl das Mädchen noch jung an Menschenjahren war!
„Wo ist dein schwarzes Strümpfchen?“, fragte ich neugierig.
„Das werfe ich jede Woche in den Müll und kümmere mich nicht weiter darum“, sagte sie. „Für mich besteht der Sinn des Lebens darin, mein rotes Strümpfchen im Laufe des Lebens voll zu bekommen. Da stopfe ich so viel wie möglich hinein. Und immer wenn ich Lust dazu habe oder ich beginne, traurig zu werden, dann öffne ich mein rotes Strümpfchen und schaue hinein. Dann geht es mir sofort besser. Wenn ich einmal alt bin und mein Ende droht, dann habe ich immer noch mein rotes Strümpfchen. Es wird voll sein bis obenhin und ich kann sagen, ja, ich hatte etwas vom Leben. Mein Leben hatte einen Sinn!“

Noch während ich verwundert über ihre Worte nachdachte, gab sie mir einen Kuss auf die Wange und war verschwunden. Neben mir auf der Bank lag ein rotes Strümpfchen mit der Aufschrift: Für dich! Ich öffnete es zaghaft und warf einen Blick hinein. Es war fast leer, bis auf einen kleinen zärtlichen Kuss, den ich von einem kleinen Mädchen auf einer Parkbank erhalten hatte. Bei dem Gedanken daran musste ich schmunzeln und mir wurde warm ums Herz. Glücklich machte ich mich auf den Heimweg, nicht vergessend, mich am nächsten Papierkorb meines schwarzen Strümpfchens zu entledigen.

nach Anna Egger

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 8. Mai 2014, 01:05
von La_crimosa
"Wo alle Worte zu wenig wären, dort ist jedes Wort zuviel.“

(Viktor E. Frankl)

Re: Worte des Tages 2014 Fortführung von Gost's Thread 20

Verfasst: 13. Mai 2014, 10:22
von krimi56
Ein großer Samurai hatte über die Jahre hinweg in unzähligen Kriegen schon viele Kämpfe für seinen Herren gewonnen. Nun aber verlor er seinen ersten Kampf.
Gedemütigt, voller Zorn gegen sich selbst und den Rest der Welt, wollte er seinem nun nichtswürdigen Leben ein Ende bereiten. Er ritt die staubige Landstraße entlang, darüber nachsinnend, wie er sich nun am grausamsten und auffälligsten ins Jenseits befördern könnte.

Plötzlich lag vor ihm auf der Straße ein kleiner Spatz auf dem Rücken und streckte seine beiden Füßchen zum Himmel.
Der Samurai, in seinem Denken gestört, hielt an und schrie den Spatz an: "Geh mir aus dem Weg, du nichtswürdiges Federvieh!" Der Spatz aber entgegnete ganz keck: "Nein, das werde ich nicht tun. Ich habe eine große Aufgabe zu verrichten."

Der Samurai, ganz überrascht und erstaunt über die selbstbewusste Antwort des Spatzen, stieg von seinem Pferd ab, beugte sich zu dem Spatzen hinunter und sprach: "Sage mir, was ist denn so wichtig, dass du mir den Weg nicht freimachen willst?" "Oh", sagte der Spatz, "man hat mir gesagt, dass heute der Himmel auf die Erde fallen wird, und da liege ich nun, um ihn mit meinen Füßen aufzufangen."
Als dies der Samurai hörte, da fing er an zu lachen und konnte beinahe nicht mehr aufhören. Und er rief prustend: "Was, du kleines Federknäuelchen willst mit Deinen dürren Beinchen den Himmel auffangen?" Der kleine Spatz erwiderte ganz ruhig und klar: "Tja, man tut was man kann!"


Wenn der Spatz den Mut hat, dann lasst uns auch den Mut haben, unseren Himmel der immer mal wieder einzustürzen droht, aufzufangen.

krimi