Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Rudi-Reiter
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Rudi-Reiter »

@ Otterchen

Danke Dir!!!

Was Du und Barbara Rogers geschrieben habt, hilft mir sehr.
Ich bin so erleichtert.

Den Text von Frau Rogers habe ich mir ausgedruckt.

Ich werde ihn meinem Thera geben und vermutlich damit unseren Konflikt
verstärken.

Er meinte ich sollte Trauerarbeit machen für die verlorenen guten Seiten
meiner Erzeuger.

Ich kann das nicht und will das auch nicht können!

Es ist als würde ich selber auf meiner Seele rumtrampeln, mich selbst
wieder abwerten, nach dem Motto, so schlimm war es doch gar nicht, sei
nicht so empfindlich, oder so.

In mir finde ich nur immer Ablehnung für meine Erzeuger und Widerstand.
Ich kann nicht glauben, dass mich das wirklich weiterbringt.

Bei der Beerdigung meines Erzeugers spürte ich Erleichterung, spielte
dennoch „für die Leute“ den trauernden Sohn.

Ich will nicht trauern, nicht wirklich und auch nicht, um wieder eine heile
Welt vorzugaukeln.

Ich will nur noch Ruhe haben, in mir sind sie eh noch immer am Wirken,
z.B. durch falsche Glaubenssätze, die ich nur mühsam loswerde.


Ihr habt mir mit Euren Worten gezeigt, dass und wie es geht und mir Mut
gemacht..........DANKE.....



Liebe Grüße
vom erleichterten Rudi



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otterchen
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von otterchen »

Hallo Rudi,

so wie Dir ging es mir auch lange,
und ich wollte diese Selbstquälerei loswerden,
wusste jedoch nicht wie.

Bis ich irgendwann dachte "warum kann ich die Eltern nicht wie eine Naturkatastrophe betrachten?"

Klingt erstmal seltsam, aber...

Beim Thema Eltern denken wir oft, wir hätten etwas anderes verdient - sie hätten anders sein sollen, unsere Kindheit hätte anders verlaufen sollen usw.
Wir hadern permanent mit dem Blick zurück in unsere Vergangenheit.

Bei einer Naturkatastrophe denke ich das nicht. Sowas passiert. Es ist nicht gerecht, aber so ist das Leben. Ich gebe Naturkatastrophen keine Schuld, ich hadere nicht, ich kann leichter akzeptieren.

Und so wurden meine Erzeuger für mich zu meiner persönlichen Naturkatastrophe.
Etwas, das einfach passiert ist. Da hilft nicht, Jahre später noch irgendwo im Inneren nach Ausgleich und Gerechtigkeit zu dürsten.
Sie waren wie eine Flut, ein Orkan, ein Erdbeben - was auch immer.

Sowas passiert. Das Leben ist nicht gerecht. Aber ich kann hier und jetzt das Beste aus dem machen, was aktuell da ist...
die Verletzungen der Naturkatastrophe können heilen, und ich kann aus den Erfahrungen etwas Neues, etwas Gutes aufbauen.
Und vielleicht anderen Opfern von derartigen Naturkatastrophen ein wenig Bewältigungshilfe geben

Vielleicht kann niemand hier etwas mit diesem Gedanken anfangen.
Aber wenn auch nur einer mit diesem Gedanken etwas anfangen kann, wenn es auch nur für einen Menschen den Umgang mit der elterlichen Vergangenheit erleichtert, dann habe ich diese paar Minuten, in denen ich dies niederschreibe, gerne investiert!

Ach, eines noch:
einer Naturkatastrophe kann ich irgendwie "verzeihen". Es macht mir das Leben leichter.
Dass ich Orkane, Fluten und Erdbebengebiete aber nach wie vor meide, ist wohl verständlich.
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
Rudi-Reiter
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Rudi-Reiter »

Hallo Otterchen

Und ob ich mit diesen genialen Gedanken etwas anfangen kann!

Ja, ich wurde das Opfer zweier Naturkatastrophen. Doch ich habe überlebt
und muss endlich aus der Opferhaltung raus und selbst über mein Leben
bestimmen.

Auch die quälende Frage wer an was Schuld hat löst sich einfach auf.
Zumeist beschuldigte ich mich selbst und hatte gleichzeitig eine
unterschwellige Wut auf meine Erzeuger.

Für eine Naturkatastrophe kann ich nichts, sie passieren einfach ohne
mein Zutun.

Das hat etwas Tröstendes Beruhigendes.

Jetzt ist es vorbei, ich werde die Verwüstungen in mir aufräumen so gut
es geht und meinen Weg weitergehen.

Wissen tue ich es jetzt, ich hoffe, dass ich es auch richtig umsetzen und
anwenden kann.


Nochmals Danke, mir hast Du sehr geholfen!



Liebe Grüße
Rudi




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DarkRaven
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von DarkRaven »

Hey Otterchen,

dein bildhafter Vergleich mit der Naturkatastrophe finde ich sehr treffen.
Meine Familie die Naturkatastrophe
Fast muss ich dabei lachen, wenn nicht soviel Traurigkeit dahinter stecken würde.

Mir hilft dein Vergleich im übrigen auch weiter und ich bin dir sehr dankbar dafür.
Es wird mir den Einstieg / Zugang / Auseinandersetzung mit/zu diesem Thema erleichtern.

Lg, DarkRaven
Ulysses
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Ulysses »

Hallo Ihr,

das Naturkatastrophen-Bild finde ich auch gut.

Ich habe ehrlich gesagt nur kleine Teile des Threads gelesen, weil ich mehr von diesem Thema gerade nicht schaffe. Aber ich möchte doch gerne kurz meine Rückmeldung dazu geben, auch auf die Gefahr hin, dass manches dazu schon geschrieben ist.

Ich habe lange Zeit ein extrem enges Verhältnis zu meine Eltern gehabt, viel zu lange, viel zu abhängig, lange den emotionalen Missbrauch nicht erkannt, lange in extremer Unselbständigkeit festgehalten, manipuliert, usw.

Erst im Laufe der Therapie habe ich dort für mich "Probleme" erkannt. (Die lagen vorher meiner Meinung nach nur an mir, an meiner eigenen Schuld)

Meine Veränderungen haben dann das System so erschüttert, dass es einige "Erdrutsche" als Reaktion gab und ich von mir aus den Kontakt abgebrochen hatte, zum Selbstschutz.

Nach längerer Therapie habe ich wieder Kontakt aufgenommen, wollte mit meinem neuen Bewusstsein Dinge von früher klären. Aber da ging gar nix, die Dinge, die ich klären wollte, seien angeblich nie passiert, ich hätte mir alles eingebildet. (vor allem ein Elternteil ist dieser Meinung, von der anderen Seite gibt es Gespräche)

Dann ist was komisches passiert: Es wurde mir irgendwie egal, ob sie mir glauben oder nicht, ob sie in ihrer Welt weiterleben oder nicht. Ich hatte inzwischen Abstand und war mir meiner Sichtweise klar. Deshalb durften ab diesem Zeitpunkt beide "Wahrheiten" für mich bestehen. Deren Wahrheit, weil sie etwas anderes aus eigener Angst nicht ertragen würden. Und meine Wahrheit.

Ab da hat sich etwas grundsätzlich im Kontakt verändert. Die große "Aussprache" mit Entschuldigung usw., die ich mir so lange kindlich gewünscht hatte, die gab es nicht. Aber sie ist mir heute nicht mehr wichtig.

Ich weiß nicht, ob es etwas mit verzeihen zu tun hat. Jedenfalls hat es für mich etwas mit "mir selber trauen" und meine Standpunkt behalten zu tun. Manchmal klappt es gut. Und wenn ich Phasen habe, in denen ich zu instabil bin, dann gehe ich wieder auf Abstand, zu meinem eigenen Schutz. Mir geht es gut damit. Mittlerweile.

Wenn so etwas für mich nicht erreichbar gewesen wäre, hätte ich vermutlich auch den Kontaktabbruch beibehalten.

Liebe Grüße,

Ulysses
triste
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Registriert: 22. Jun 2003, 16:38

Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von triste »

Liebe Kroki,

zunächst einmal beglückwünsche ich Dich dazu, dass Du eine Entscheidung FÜR DICH getroffen hast. Nämlich - gegen den Widerstand seitens der Familie - Dich zu schützen!
Auch wenn Dir im Bekanntenkreis Undankbarkeit etc. vorgeworfen wird: zieh' Dir das nicht an...niemand ausser Dir selbst kann beurteilen, was und warum Du es tust und wie schwerwiegend die Belastung durch Deine Eltern für Dich ist und war.

Ich habe einmal 2,5 Jahre keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter gehabt, damals musste ich diesen Schritt gehen, weil ich es schlichtweg nicht mehr ausgehalten habe. Meine Eltern wohnten zu dem Zeitpunkt im Ausland und so war es relativ einfach für mich, die Distanz aufrecht zu halten. Auch ich musste mich damals von der Therapeutin in der Reha dafür kritisieren lassen ("Das ist doch die Frau, die Sie geboren hat!"....) und hatte das Gefühl, dass meine 'gesunden' Freunde mein Verhalten bizarr fanden und fühlte mich irgendwie schlecht und schuldig mit dem Abbruch...

Mittlerweile, nachdem mein Vater vermittelt hat, haben wir wieder Kontakt und sie sind sogar in Steinwurf-Nähe zu mir gezogen. Durch ihren Umzug nach Deutschland und ihre altersbedingt zunehmende Hilflosigkeit war ich in der Pflicht, ihnen bei allem zu helfen, was uns wieder näher zueinander gebracht hat. Parallel dazu habe ich eine Analyse gemacht und irgendwie habe ICH mich verändert. Ich sehe heute sehr gut, was mich vor allem an meiner Mutter stört und bin auch ab und zu mal noch über eine Abwertung ihrerseits verletzt, aber es ist nicht mehr so existenziell wie früher, als mich das immer total umgehauen hat. Ich sehe sie, wie sie sind (kotze auch ab und zu innerlich über sie), sehe aber auch ihr emotionales Unvermögen und ihre eigenen Verwundungen und vorallem: dass sie unfähig sind, sich noch zu ändern!
Ich habe übrigens auch ein paar Mal versucht, leise Kritik zu üben mittels Erinnerungen an Vorfälle aus meiner Kindheit, aber alles wird empört zurückgewiesen. Seltsamerweise kann ich das heute so akzeptieren. Ja, ok, das sind MEINE Verletzungen und meine Mutter hatte IHRE im Krieg, die waren auch wirklich heftig...Ich möchte nicht behaupten, dass nicht noch Vieles in mir kaputt ist, weil meine Mutter mich als Kind so behandelt hat, wie sie es nunmal hat.
Aber irgendwie kann ich das jetzt in einem Kontext sehen, es gab Gründe dafür, sie tat es nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus eigener emotionaler Gestörtheit.
Und: ich setze heute Grenzen, wenn ich sie brauche, auch auf die Gefahr hin, dass sie mal wieder beleidigt ist und mir Vorwürfe macht, mich versucht, emotional zu erpressen, etc. pp.

Lange Rede....ich wollte Dir eigentlich nur sagen, dass ein Kontaktabbruch immer richtig ist: weil er aus einer Situation des Nicht-mehr-Aushaltens kommt (sowas tut man schließlich nicht leichtfertig).

Und dass man als mittlerweile erwachsenes Kind (so zumindest meine Erfahrung), nur versuchen kann, sich selbst gegen die Verletzungen abzugrenzen, das (Fehl-)Verhalten der Eltern genau zu analysieren und mittels Therapie emotional zu lernen, dieses nicht länger auf sich zu beziehen, also die familiäre Bedingtheit zu kappen.
Konnte ich mich verständlich machen?

Bleib bei Dir und versuch mal die Ansprüche der anderen, dass Du Deine familiäre Rolle weiterspielen sollst, abzuwehren. Und warte nicht auf Einsichten und Entschuldigungen, die werden von Deinem Vater vermutlich nie mehr kommen.
Wenn Du den Kontakt jetzt nicht willst, dann ist das richtig so - und wenn das jemand nicht versteht, ist das nicht Dein Problem!
Wir Depris müssen einfach lernen, nicht mehr so krankhaft auf unsere Aussenwirkung zu achten. Sollen doch die anderen tun, was sie für richtig halten und wir tun es - endlich - für uns!

Alles Liebe!
Virginia
otterchen
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von otterchen »

Hallo nochmal,

ich glaube, die Menschen um uns herum haben oft so ein Unverständnis, weil sie sich nicht vorstellen können, dass ein Kontaktabbruch aus innerer Not heraus entsteht,
dass wir etwas meiden müssen, was uns runterzieht und
dass wir es einfach nicht mehr länger aushalten.

Vielleicht denken diese Leute, dass das eine willentliche Bestrafung sein soll, sowas wie ein bewusster Liebesentzug als Strafe für irgendwas.
Das ist es ja NICHT.

Es ist das Beenden einer belastenden Situation, die uns davon abhält, gesund zu werden. Die uns immer davon ablenkt, bei uns selbst zu bleiben.

Letztendlich bleibt die Frage:
sind die Leute, die das nicht verstehen, wirklich KOMPETENT, diese Situation zu beurteilen?
Nein, sind sie nicht.
Und sorry - auch unter Therapeuten gibt es bessere und schlechtere, gibt es welche, die eine studierte Richtung einhalten, ohne sich weiterzubilden, ohne andere Ansätze zu verfolgen. Sie haben vielleicht ein ideales Ziel vor Augen, aber nicht den Patienten.

Abstand zwischen mich und eine belastende Situation zu bringen - was soll daran verkehrt sein?


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FaceOff
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von FaceOff »

Guten Morgen an alle hier

Ich wollte nur mal kurz anmerken, wie sehr mich dieser Thread begeistert und wie sehr ich mich in fast allen Euren Posts wiederfinden kann. Und das tut so gut!!

Ich selbst habe erst vor ca. 4 Wochen den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen (Notfälle und Festtage sind ausgenommen) und es fühlt sich richtig und stimmig an, tatsächlich wie eine Befreiung. Ich hatte immer das Gefühl, ihnen Rechenschaft ablegen zu müssen für alles, was ich tue und ihre Bedürfnisse (v.a. nach Erfolg und Leistung, aber auch emotional bei einer Scheiß-Ehe meiner Eltern) befriedigen zu müssen. Das hat in mir einen extremen Druck erzeugt, der erst jetzt (nach 35!! Jahren, durch den Abbruch) auf einmal weniger wird....

Mit negativen Reaktionen aus dem Umfeld bin ich nicht konfrontiert und auch meine Thera hielt den Schritt für unverzichtbar für meine Heilung. Wenn, dann ist es nur wieder mein eigener innerer Kritiker, der sagt: kannst Du doch nicht machen, etc. Doch der wird zunehmend leiser, weil jetzt erstmal mein Vertreter der Selbstfürsorge das Wort hat.....

Nochmal: ich hab in diesem Thread soooo viel an Bestätigung und mutmachendem für mich gefunden, so viele Parallelen zu meiner eigenen Situation, aber auch einen Ausblick auf das, was sich da auch noch positiv entwickeln könnte irgendwann, dass ich das jetzt einfach mal sagen muss!!! Danke für den Thread!

Liebe Grüße von Carla
*****************************************************

Die wunderbaren Leute sind dadurch wunderbar, dass sie nur sie selbst sind.
Kroki
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Kroki »

Hallo an alle hier,

nun schreibe ich hier endlich wieder etwas. Ich habe alle Eure Antworten gelesen, hatte aber zwischendurch keine rechte Muße zum Schreiben.



Hallo Gröni, hallo annette fee,

das mit den Geschenken und anderen materiellen Zuwendungen ist so eine Sache…

Mir ist erst vor kurzem klar geworden, dass meine Eltern, die eine gemeinsame Kasse haben, sich wohl schon seit vielen Jahren uneins darüber sind, wie großzügig sie mir gegenüber sein wollen.

Mein Vater hat mir schon vor Jahren vorgeworfen, ich würde zu viel Geld kosten. Meine Mutter hat mir hingegen zu relativ kleinen Anlässen freigiebige Geschenke gemacht, hinter denen wohl schon damals die Absicht gesteckt hat, mich enger an sich zu binden.

Das hat zu der absurden Situation geführt, dass ich irgendwann begonnen habe, diese Geschenke abzulehnen - mal vergeblich, mal erfolgreich, während mein Vater mir dennoch Käuflichkeit unterstellt.

Ich will von diesen Menschen nichts mehr…

Herzliche Grüße

Kroki
Kroki
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Kroki »

Hallo Otterchen,

ja, die Reaktion der Umwelt macht mir zu schaffen. Da ich weder sexuell missbraucht noch körperlich schwer misshandelt wurde, habe ich in den Augen meiner Mitmenschen kein Recht dazu, den Kontakt zu meinen Eltern abzubrechen.

„Es ist schon seltsam, dass man in unserer Welt Kindern Dinge antun darf, die man mit Erwachsenen nicht ungestraft oder zumindest unsaktioniert machen könnte“ -
Darüber wundere ich mich schon seit langem. Im Rahmen von Zufallsbegegnungen, z. B. beim Einkaufen, fällt mir immer mal wieder auf, wie brutal manchen Eltern mit ihren Kindern umgehen.

Das biblische Gebot besagt: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ – Die Eltern erhalten aber umgekehrt nicht das Gebot, die Kinder zu ehren. Kinder scheinen eine Art Sache zu sein, mit der Eltern auch heute noch beliebig verfahren können.

Maggy hat vor Jahren in einem Posting, das mich sehr berührt hat, den Umgang mit ihren Kindern beschrieben:
http://www.diskussionsforum-depression. ... 1225974571
So würde ich mir das wünschen…

Ich glaube, dass an dem Aufsatz von Barbara Rogers viel Wahres dran ist. Nach meinem Empfinden ist die Einsicht auf Seiten der Eltern entscheidend für die Vergebung; sonst würde ich mein Leiden verleugnen.

An dem Bild von der Naturkatastrophe finde ich folgenden Aspekt hilfreich: Ich bin nicht persönlich gemeint. Das alles war nicht gerecht, aber niemand hat es auf mich persönlich abgesehen. – Dadurch entsteht eine gewisse Distanz zu dem Geschehen.

In der Auseinandersetzung mit meiner Schwester, die mit Ihrer Reaktion eine Art Richter- oder Rächer-Position eingenommen hat, obwohl ich mich ihr gegenüber nach meinem Empfinden in keinster Weise ausfällig verhalten habe, ist mir Folgendes klar geworden:

Das, was ich als passiven Rückzug zum Selbstschutz sehe, wird von den anderen Familienmitgliedern als aggressiver Akt der Bestrafung interpretiert.


Vielen Dank für Deine Gedanken zum Thema!

Herzliche Grüße

Kroki
Kroki
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Kroki »

Hallo Rudi,

meine Eltern leben ja beide noch. Aber mein Verhältnis zu meinem Vater ist seit vielen Jahren derart zerrüttet, dass ich mir gut vorstellen kann, dass ich ebenfalls erleichtert sein werde, wenn er irgendwann stirbt. Dieser Mensch hat mich mein ganzes Leben lang immer wieder tyrannisiert...

„Jetzt ist es vorbei, ich werde die Verwüstungen in mir aufräumen so gut
es geht und meinen Weg weitergehen. “ -

Diesen Satz würde ich auch für mich so unterschreiben.

Und damit es tatsächlich vorbei ist und nicht immer weitergeht, brauche ich den Kontaktabbruch, die Distanz.

Liebe Grüße

Kroki
Kroki
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Kroki »

Hallo Ulysses,

das zu lange Ausharren in zu engem Kontakt und Abhängigkeit vor allem zu meiner Mutter war meines Erachtens einer meiner größten Fehler auf diesem Gebiet. Ich musste mehr als dreißig Jahre alt werden, bis ich das Problem überhaupt erkannte.

Auf das Leugnen verletzender Verhaltensweisen, die lange zurückliegen, bin ich bei meiner Mutter auch schon gestoßen. Angeblich hat sie das alles nie getan. Nur seltsam, dass ich mich noch so gut daran erinnere…

Ich kann nachempfinden, dass das Dir selbst und Deiner Wahrheit Trauen eine notwendige Voraussetzung ist, wieder Kontakt zu haben. Mein Bedürfnis nach Distanz beruht auch darauf, dass ich weiß, dass ich im Kontakt (noch?) nicht standhaft genug bin, um meine Integrität zu wahren.

Auch Dir ganz herzlichen Dank für Deinen Beitrag zu meinem bzw. unserem Thema.

Herzliche Grüße

Kroki
Kroki
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Kroki »

Liebe Virginia,

ich freue mich sehr, Dir nach langer Zeit wieder hier in diesem Forum zu begegnen! Ich fühle mich verstanden und gestärkt – Sehr herzlichen Dank dafür!

Mein Kontaktabbruch geschieht aus einem Schutzbedürfnis heraus, aus dem Unvermögen, mich gegen die heute weiterhin stattfindenden Übergriffe abzugrenzen. Ich halte es wirklich nicht mehr aus, wie verschiedene Familienangehörige ständig auf mir herumtrampeln bzw. an mir herumzerren!
Mich wirksam abgrenzen zu können, wäre die Voraussetzung dafür, dass ich bei einer Wiederaufnahme des Kontakts nicht erneut verletzt werde. Bevor ich das nicht kann, lasse ich es besser…

Natürlich bringt es ein ohnehin dysfunktionales Familiensystem gehörig durcheinander, wenn sich ein Mitglied weigert, die ihm zugedachte Rolle weiterzuspielen. Vermutlich ist meine Schwester auch deshalb so sauer auf mich, weil sie ja letztendlich dieselben unfähigen Eltern hat.

Bei meinem Vater fällt es mir tatsächlich schwer, ihm keine Boshaftigkeit zu unterstellen. Trotzdem ist mir bewusst, dass meine (in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts geborenen) Eltern von autoritären Vätern erzogen wurden und eine belastete Kriegs- und Nachkriegskindheit hinter sich haben. Da gibt es viele eigene Verletzungen, die sich bei meinem Vater in emotionaler Unfähigkeit und bei meiner Mutter in emotionaler Bedürftigkeit niedergeschlagen haben.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich jetzt alle Probleme aus dieser Kriegskindheit lösen muss, mir der sich meine Eltern selbst niemals wirklich auseinandergesetzt haben…

Deine Einschätzung bezüglich Einsichten und Entschuldigungen seitens meines Vaters teile ich. Er ist so stur wie ein Esel. – Ich erhoffe mir da nichts mehr.

Krankhaft auf meine Außenwirkung zu achten… *seufz* Das ist gerade auch bei der Arbeit mal wieder ein großes Thema für mich. Aber das ist eine andere Baustelle…

Dir ebenfalls alles Liebe

Kroki
Nancy121182
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Nancy121182 »

Hallo Kroki,


ich kann es nachvollziehen,des Du den Kontakt abgebrochen hast. Ich habe mich auch vor 5 Wochen von meiner Mutter gelöst und sehe auch keinerlei Bedürfnisse den Kontakt noch einmal aufzunehmen. Selbst meine Kinder wollen mit Ihrer Oma nichts mehr zu tun haben,weil sie selbst mitbekommen haben wie meine Mutter gerade in meiner schwierigen Phase der Krankheit mit mir umgegangen ist. In der Familie wurde immer alles totgeschwiegen,auch hat meine Mutter keinerlei einsicht in bezug auf sich,was man von der Art und dem verhalten deines Vaters wiederspiegeln könnte.

Ich bereue diese Entscheidung in keinster weise,weil ich merke des es mir ohne meine Mutter besser geht!!!

Ich hoffe du wirst es auch nie bereuen.
Viel Glück Dir


liebe Grüsse und nen schönen Montag

Nancy
Wer dein Schweigen nicht versteht,versteht deine Worte auch nicht!
Ulysses
Beiträge: 594
Registriert: 19. Jan 2013, 17:34

Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Ulysses »

Hallo Kroki,

Ich kann nachempfinden, dass das Dir selbst und Deiner Wahrheit Trauen eine notwendige Voraussetzung ist, wieder Kontakt zu haben. Mein Bedürfnis nach Distanz beruht auch darauf, dass ich weiß, dass ich im Kontakt (noch?) nicht standhaft genug bin, um meine Integrität zu wahren.

Ja genau, dieses immer wieder "umfallen" im Kontakt und das verlieren des eigenen Standpunktes hat mich zum Kontaktabbruch getrieben. Weil es nichts gebracht hat an Weiterentwicklung und mir die immer wieder notwendige Stabilisierung nach den Kontakten auf die Dauer zu anstrengend wurde.

Vielleicht als Trost und Motivation noch zu diesem Thema: Es war nicht mein Ziel, mich durch Kontaktabbruch zu distanzieren, um wieder stabil genug für den erneuten Kontakt zu werden. Das hat sich erst im Laufe der Zeit als "Nebenprodukt" ergeben. Mir hat es gut getan, wirlich mich und meine Wahrheit vorübergehend komplett in den Fokus meiner Welt zu stellen. Und ich hatte Therapeuten, die mir dabei geholfen haben, ohne auf einer "Wiederannäherung oder Versöhnung" zu bestehen. Und genau das hat auf die Dauer geholfen.

Es hätte genauso gut auch sein können, dass keine Annäherung mehr möglich wird. Dann würde mein Weg zum Teil anders aussehen. Aber so oder so, es ist mittlerweile mein Weg, und nicht der von anderen.

Herzliche Grüße und alles Gute beim Finden Deines eigenen Weges,

Ulysses

P.S.: Ich habe auch oft den Vorwurf gehört, Abgrenzungsversuche seien aggressive Akte, geschähen aus Selbstsucht. Ich will Dir Mut machen, trotzdem bei Dir und Deinen Zielen zu bleiben. Meist habe ich diese Worte von den Menschen gehört, die vorher lange mit mir in einer emotionalen Abhängigkeit verknüpft waren. Dass die es als gruselig empfinden, wenn ich innerlich gehe, ist mir heute nachvollziehbar.

Und ja, ein ganzes Familiensystem kann kippen, wenn ein Mitglied aus dem System aussteigt. Ich habe nach meinen ersten Unabhängigkeits-Aktionen mit Entsetzen gesehen, dass einer meiner Elternteile dann für mich stellvertretend begonnen hat, den eigenen Zusammenbruch zu leben und die schwächste Position einzunehmen. Aber auch davon konnte ich mich mit Therapie abgrenzen, und im Laufe der Zeit hat sich das System auf anderem Weg wieder stabilisiert. So wie ich es als Vermittlerin niemals geschafft hätte, selbst wenn ich mich dafür weiter komplett aufgegeben hätte.
otterchen
Beiträge: 5118
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von otterchen »

Sagt mal bitte...

hat diese Kindheit bei dem einen oder anderen von Euch auch den Nebeneffekt gehabt, dass man sich selbst nicht mehr traut?

Dass man unterschwellig denkt ("dachte" <- nach erfolgreicher Therapie), man hätte diese Art von Erziehung vielleicht DOCH verdient?
Man sei vielleicht DOCH so ein Kind gewesen, das nur so erzogen werden KONNTE?
Dass man selbst der Auslöser dafür war, dass die Eltern so und nicht anders reagiert haben?
Dass man selbst vielleicht doch ein so "unmögliches" Kind war, was die Eltern nur strafen konnten?

Ich jedenfalls habe das lange irgendwo tief in mir befürchtet.
Klar, auf der einen Seite in mir habe ich immer klar gesehen, wie ich anders hätte behandelt werden wollen. Ein Teil von mir hat immer gedacht "ich habe etwas Besseres verdient" und "ich bin kein schlechter Mensch" (nicht so schlecht, wie ich behandelt wurde).

Ein anderer Teil wurde aber so tief verunsichert, dass da ein kleines, zaghaftes Stimmchen in mir war (und manchmal auch heute noch zu hören ist), das fragt, ob ich nicht vielleicht DOCH das vielgeschimpfte, undankbare Kind war...
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
Ulysses
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Ulysses »

Huhu otterchen,

hat diese Kindheit bei dem einen oder anderen von Euch auch den Nebeneffekt gehabt, dass man sich selbst nicht mehr traut?

Ja klar. Und sicher nicht nur bei Dir und mir.

"Diese" Kindheit steht zwar irgendwie für viele unterschiedliche Geschichten hier, und trotzdem geht es immer wieder um's "nicht gesehen werden, nicht wahrgenommen werden" usw.

Und natürlich habe ich mir einen großen Anteil daran selber zugeschrieben. Und tue es zum Teil heute noch, zumindest wenn es um den Vorwurf der extremen "Empfindlichkeit" geht und dass andere vielleicht viele Dinge nicht so empfunden hätten wie ich.

Gegen dieses Argument habe ich auch keine wirklichen Beweise, ich weiß nur mittlerweile: Mein Gefühl für mich stimmt sehr gut. Und wenn ich extrem "empfindsam" bin, dann muss ich das eben bei meinem Lebensplan berücksichtigen, und nicht "gegen" mich verwenden. Das versuche ich auch der von Dir angesprochenen oft wiederkehrenden leisen Stimme immer wieder zu sagen...

Lieben Gruß

Ulysses
otterchen
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von otterchen »

"Diese" Kindheit steht zwar irgendwie für viele unterschiedliche Geschichten hier, und trotzdem geht es immer wieder um's "nicht gesehen werden, nicht wahrgenommen werden" usw.

Ja!
Bei mir war es früher z.B. so, dass ich als Kind bei vielem dachte "das geht sooo an mir vorbei", also bezogen darauf, dass mir z.B. Dinge unterstellt wurden, die mir total fern lagen,
dass mir Dinge verboten wurden, die ich sowieso nicht tun wollte,
oder mir Dinge befohlen wurden, die ich sowieso getan hätte.
Also insgesamt "voll an mir vorbei". Ich würde heute sagen "die kannten ihr eigenes Kind nicht".
Sie haben MICH nicht gesehen.


Und ja: wieder komme ich zurück auf den Ausspruch (frei zitiert):
wir behandeln uns als Erwachsene so,
wie wir als Kind behandelt wurden.


Und noch ein "ja" hinterher:
so unterschiedlich unsere Kindheitsgeschichten auch sind: eines haben sie wohl gemeinsam:
sie haben uns nicht das gegeben, was wir brauchten.
Sie haben uns etwas Essentielles vorenthalten
und uns dafür etwas mitgegeben, an dem wir noch heute schwer zu tragen haben

... was immer das auch im Einzelnen ist/war.

Doch Dank des Vergleiches mit der Naturkatastrophe hadere ich nicht mehr damit.
ICH war nicht gemeint - sowas passiert halt auf der Welt, genauso wie Erdbeben, Überschwemmungen, Stürme usw.
So ist die Welt. Manche Menschen werden in Armut geboren, manche in Reichtum,
manche in sichere Länder, manche in Kriegsgebiete,
manche gesund, manche mit Handicaps,
manche weiß, manche schwarz
usw. usw.

Manche werden Opfer von Unglücken - und wir gehören wohl zu denen, die durch ihr Elternhaus vorbelastet wurden.
Insofern: lassen wir es hinter uns. Schaden begrenzen, das Beste daraus machen - und es, wenns geht, sogar noch in etwas Gutes verwandeln.







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Ulysses
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Ulysses »

wir behandeln uns als Erwachsene so,
wie wir als Kind behandelt wurden.

Gut, dass Du den Spruch nochmal wiederholt hast! Ich hab den an anderer Stelle schon von Dir gelesen und wollte ihn mir merken. Vielleicht klappts jetzt.

Du hast das schön zusammengefasst. Ich glaube auch mittlerweile nicht mehr, dass meine Eltern es "böse" mit mir gemeint haben. Im Gegenteil, ich glaube ihnen, dass sie mich lieben. Aber sie können das natürlich auch nur so, wie es ihre eigene Geschichte zulässt. Das habe ich sehr viel später erst begreifen können, logisch.

Und so ging eben vieles ihrer ehrlichen Liebe - so wie Du schreibst - total und komplett an mir und meiner Persönlichkeit vorbei.

Aber dass ich mich heute noch ähnlich behandle, wie ich selber früher behandelt worden bin, das war mir nicht so klar. Und passt als Puzzle-Teil einfach wieder dazu.

Denn ich habe doch heute eigentlich die Wahl, wie ich mich behandle. Und wenn es sich anders anfühlt, dann hänge ich gerade kurzfristig in einer alten Opfer-Schleife...

Herzliche Grüße

Ulysses
Kroki
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Kroki »

Hallo Carla,

danke für Dein positives Feedback!

Auch bei Dir sehe ich einige Parallelen zu mir:

Die Ehe meiner Eltern ist ebenfalls katastrophal – und das seit Jahrzehnten. Interessanterweise wurde das Verhältnis meiner Eltern zueinander deutlich besser, als ich dort nicht mehr ständig präsent war…

Schön, dass Du in Deinem Umfeld und seitens Deiner Therapeutin Unterstützung hast.

Herzliche Grüße

Kroki
Kroki
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Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Kroki »

„Sagt mal bitte...

hat diese Kindheit bei dem einen oder anderen von Euch auch den Nebeneffekt gehabt, dass man sich selbst nicht mehr traut?

Dass man unterschwellig denkt ("dachte" nach erfolgreicher Therapie), man hätte diese Art von Erziehung vielleicht DOCH verdient?
Man sei vielleicht DOCH so ein Kind gewesen, das nur so erzogen werden KONNTE?
Dass man selbst der Auslöser dafür war, dass die Eltern so und nicht anders reagiert haben?
Dass man selbst vielleicht doch ein so "unmögliches" Kind war, was die Eltern nur strafen konnten?“

Hallo Otterchen,

wenn ich mir nicht auch heute noch unsicher wäre, ob ich mit dem Kontaktabbruch tatsächlich richtig liege oder ob ich da nicht doch jemandem furchtbar Unrecht tue, dann hätte ich diesen Thread nicht eröffnet.

Ich sehe das so:
Kleine Kinder haben kein anderes Bezugssystem als die eigene Familie und halten demzufolge alles, was sich dort abspielt, für normal. Ich erinnere mich da z.B. an Sätze wie „Mit Dir blamiert man sich doch überall! – Das nächste Mal nehme ich Dich nicht mehr mit!“ – ohne dass ich mich noch erinnern könnte, welches Verhalten meinerseits der Auslöser für diese elterliche Reaktion war. Da muss ich wohl ein ziemlich „böses“ Kind gewesen sein…

Meine Schwester ist deutlich älter als ich. Als Kind hat mir meine Mutter immer vorgeworfen, meine Schwester sei früher viel braver gewesen als ich heute. – Da ich die Kindheit meiner Schwester nicht miterlebt habe, kann ich das schlecht widerlegen. Ich weiß aber, dass meine Schwester als Teenie mütterlicherseits unerwünschte Dinge getrieben hat, die mir im selben Alter nicht im Traum in den Sinn gekommen wären…

Ich denke ein Großteil der überschießenden elterlichen Reaktionen ist schlicht in Überforderung begründet.

Herzliche Grüße

Kroki
Kroki
Beiträge: 814
Registriert: 15. Mär 2004, 17:50

Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von Kroki »

Hallo Ulysses,

danke für Deine bestärkende Antwort und für Deine guten Wünsche!

Ob ich einfach nur ein „Weichei“ bin, zu sensibel und zu empfindlich für ein „ganz normales“ durchschnittliches Familienleben, das habe ich mich schon oft gefragt. Schließlich hatte meine Schwester doch dieselben Eltern wie ich. - Resilienz scheint jedenfalls keine besondere Stärke von mir zu sein.

Andererseits hatte ich auch wirklich keine guten Startbedingungen auf diesem Planeten: Sechs Wochen zu früh geboren, künstlich beatmet und ernährt, verbrachte ich die ersten Tage und Wochen meines Lebens in einer anderen Klinik als meine Mutter, die man nicht mitverlegt hatte. Einen Teil meiner Hypersensiblität führe ich heute auf die Frühgeburt und die damit verbundenen Umstände zurück.

Heute kann ich nur versuchen, mich und mein Leben möglichst gut an meine geringe Belastbarkeit anzupassen, auch wenn das Ergebnis in meinem sozialen Umfeld nicht auf Zustimmung stößt.

Herzliche Grüße

Kroki
triste
Beiträge: 1061
Registriert: 22. Jun 2003, 16:38

Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von triste »

Liebe Kroki,

oh das freut mich, dass mein Posting Dir gut tat!

Ich finde einen Satz von Dir besonders von Bedeutung:

"Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich jetzt alle Probleme aus dieser Kriegskindheit lösen muss, mir der sich meine Eltern selbst niemals wirklich auseinandergesetzt haben…"

Das würde ich zu 100% unterschreiben...
vor kurzem lief doch der 3-Teiler "Unsere Mütter, unsere Väter" im TV, da ging es um 5 Freunde, alle um die 20, und was der 2.Weltkrieg aus ihnen gemacht hat. Vor ein paar Tagen fragte ich meine Mutter, ob sie diese Sendungen gesehen hätten und zu meinem Erstaunen sagte sie: och nö - wir haben an diese Zeit ja so viele schlechte Erinnerungen, das brauche ich mir nicht auch noch im Film anzusehen.
Das hat mich verwundert, weil meine Eltern sehr viel Fernsehen schauen und gerade bei Produktionen, die im Vorfeld durch Werbung gepusht werden, sind sie eigentlich immer dabei und diskutieren dann auch ausgiebig darüber.
Mit schien das ein wichtiges Indiz dafür, dass sie diesen Film bewusst gemieden hat, eben um Erinnerungen und Gefühle an diese Zeit klein halten zu können, sie reagierte sehr ausweichend...
bei allem Verständnis für die sicher schlimmen Erlebnisse unserer Eltern dürfen wir unsere eigenen Verletzungen natürlich nicht aus den Augen verlieren, die sind auch geschehen und belasten uns bis heute. Das Wichtige ist, glaube ich, alles zu berücksichtigen: Die Psyche der Eltern, ihre Biografie, ihre Überforderung mit uns Kleinkindern...aber auch unsere damalige Schutzlosigkeit, unser Liebesbedürfnis, unsere Vulnerabilität...

Heute - ein Beispiel aus meinem Leben: Ich kam von der Arbeit und rief kurz bei meinen Eltern an um zu erfahren, ob ein Paket, auf das ich warte, bei ihnen abgegeben wurde. Meine Mutter war dran und fragte, was ich denn bestellt hätte...an sich eine harmlose Frage, weiß man nicht, dass sie mir beide ständig Vorhaltungen machen, ich würde zu viel Geld für (in ihren Augen) überflüssige Dinge ausgeben und mich damit ständig nerven. Also antwortete ich: "Das geht Dich gar nichts an".
(= meine Reaktion der Abgrenzung auf diese von mir empfundene Kontrolle seitens meiner Mutter).
Sie reagierte natürlich beleidigt und es kann sehr gut sein, dass sie nun wieder nicht mehr mit mir redet und mein Vater dann anruft und sagt: "Mensch, was hast Du denn wieder mit der Mami gemacht..."

Ein Muster, das sich so schon etliche Male wiederholt hat - und weißt Du was: es ist echt verrückt, aber ich habe EIN SCHLECHTES GEWISSEN. Ist das nicht irre? Diese Verhaltensmuster sind so tief eingegraben, dass ich manchmal denke, ich schaffe es nie mehr, sie loszuwerden.

Und zum Thema, dass wir ja "nur" unter vielleicht atmosphärischen Störungen in der frühen Kindheit leiden (und nicht an Kindesmissbrauch o.ä.):
Ich kannte mal eine Frau, die war ein paar Jahre älter als ich und war ihr ganzes Leben von ihrem Vater verprügelt worden. Und bei unserem letzten Treffen erzählte sie mir, dass sie den Kontakt abgebrochen hat, ihr Vater ihr aber in ihrem Treppenhaus aufgelauert und sie erneut geschlagen hat. Zu dem Zeitpunkt war sie ca. 50 Jahre alt und ihr Vater ungefähr 70, 75 und relativ gebrechlich.
Sie sagte mir, dass sie einfach nicht aus der Rolle heraus kann: sobald ihr Vater sie schlägt, ist sie wieder das kleine Mädchen, das sich nicht wehren kann. Das Ergebnis: Blutergüsse und ein blaues Auge.
Ich fand das wahnsinnig traurig , aber im Grunde läuft es bei uns doch ähnlich ab: wir können auch nicht oder nur sehr schwer aus unserer alten Rolle des Kindes heraus.

Was ich damit sagen will: Wir haben alle unsere Verletzungen, sie wiegen alle schwer, und man kann nur versuchen, sich damit ehrlich auseinanderzusetzen.
Ich habe den Eindruck, dass Du den richtigen Abzweig genommen hast, als Du angefangen hast, Dich zu schützen!

Alles Gute auf diesem Weg weiterhin!
Liebe Grüße
von Virginia
triste
Beiträge: 1061
Registriert: 22. Jun 2003, 16:38

Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von triste »

@Otterchen:

"hat diese Kindheit bei dem einen oder anderen von Euch auch den Nebeneffekt gehabt, dass man sich selbst nicht mehr traut?"

Ja. Diese Unsicherheit betseht bei mir bis heute und gerade in Konflikten, oder wenn ich emotional reagiert habe, oder wenn es um die Sicht auf mich selbst geht...dann spule ich automatisch das ab, was mir als Kind gespiegelt wurde (bzw. mir bis heute immer wieder gesagt wird) :
"Du warst als Kind ein Biest!"
"Wie läufst DU denn wieder `rum?"
"Waaas - SO willst Du rausgehen?"
"Du bist eine Egozentrikerin"
...und und und.

Wenn man immer wieder solche Sachen hört, ist es ein heftiger Kraftakt, sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen...auch als Erwachsene!

LG -
Virginia
otterchen
Beiträge: 5118
Registriert: 3. Jan 2007, 10:43

Re: Erfahrungen mit Abbruch des Kontakts zu den Eltern

Beitrag von otterchen »

Moin

Was mir dabei noch einfällt:
vor einigen Jahren gab eine Freundin irgendwas über ihre Jugend zum Besten,
und in diesem Zusammenhang erwähnte sie "ach, damals war ich noch ein dummes Kind".

Das klang aber gerade NICHT abwertend, sondern verstehend, relativierend: Kinder machen "sowas" halt. Sie sind noch nicht "fertig", sie können vieles noch nicht.

Dabei habe ich festgestellt, dass ich mich nie so gesehen habe: nie als unfertiges Kind. Ich war irgendwie immer schon "erwachsen" bzw. bekam diese Rolle, dieses Selbstbild wohl aufgedrückt, weil da halt keine Nachsicht war, keine gute Anleitung, keine Begleitung in meinem Lernprozess, ein erwachsener Mensch zu werden.
Ich wurde immer voll zur Verantwortung gezogen, mir wurde nie etwas erklärt, ich musste immer schon alles wissen und verstehen usw.
Das kleine Kind in mir, das eine liebevolle Anleitung gebraucht hätte, wurde nicht wahrgenommen.

Um den Kreis wieder zu schließen:
da gibt es also Menschen, die einen nachhaltig beeinflussen,
und zwar überwiegend negativ,
die einen in einer lebenswichtig-prägenden Phase so aufgestellt haben, dass man noch viele Jahre danach mit sich und der Welt im Unreinen ist,
dass man sich minderwertig fühlt, fehl am Platz, nicht dazugehörend, unsicher... und was noch alles.

Und da soll man diesen Kontakt weiterhin pflegen?

Das ist natürlich bitter - vor allem für die, von denen man sich abwendet. Wenn ich mir vorstelle, mit mir würde jemand nichts zu tun haben wollen, weil ich ihn runterziehe... bitter, diese Pille zu schlucken! Bitter, das stehenlassen zu können. Und da wird die Hilflosigkeit dieser "aussortierten" Personen bestimmt auch mal in Ärger und Wut umschlagen - vor allem wohl, weil das einfacher ist, als sich selbst in Frage zu stellen.

Betrachten wir den Kontaktabbruch doch als Auszeit - wann (und ob) sie endet, bestimmen wir!
Das wird dann sein, wenn genügend Distanz da ist, wenn wir uns abgrenzen können, wenn wir gewachsen sind. Manchmal klappt das schon nach relativ kurzer Zeit, und eine Annäherung ist wieder möglich.
Manchmal dauert es endlos...
und wir werden es merken, wenn wir innerlich bereit sind.

Uns selbst zu trauen, und selbst unsere Hilflosigkeit verzeihen zu können, unser zu langes Ausharren in diesen Situationen, unser vergebliches Bemühen, an diesen Umständen nichts ändern zu können, nachzusehen -
das muss erst wachsen.

Frei nach Good Will Hunting:
ES IST NICHT DEINE SCHULD.


mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
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