Seite 2 von 2

Re: keine Ziele

Verfasst: 2. Aug 2008, 11:42
von otterchen
Guten Morgen Joy und die anderen hier

das "Nichts" mal genauer betrachten
da hat jemand ein tolles Leben und ich nicht. Hm.

Zunächst einmal ertappe ich mich selbst dabei, dass ich oft denke "ich habe nichts". Doch wenn ich genauer hinsehe, ist da durchaus etwas. Ich schiebe das immer weg, weil es mir "zu wenig" ist. Ich bin mit dem "Wenigen", das ich habe, nicht zufrieden.

Ich habe keine Freunde... aber ich habe doch viele nette Kontakte. Ich muss mir das nur bewusst vor Augen halten.
Und ich schreibe mir mittlerweile jeden Abend auf, was mir der Tag Positives gebracht hat. Naja, es war nicht der Tag ICH selbst habe ja dazu beigetragen.

genauer hinsehen
Ich habe kein Haus, nur eine Wohnung. Äh - na und? Eigentlich will ich doch gar kein Haus! Ich will flexibel sein und umziehen können, ich will mir keine Sorgen wegen einer Hypothek machen müssen oder Sorgen, was passiert, wenn sich die Arbeitssituation ändert und auf einmal nichts mehr bezahlt werden kann. Wofür überhaupt Haus? Damit das hinterher der Staat erbt? Nee, wirklich nicht!

erst... -> dann... ???
Joy, ich habe oft die gleiche Sicht der Dinge wie Du. Und mich gefragt, was das bringt. Ich werde erst glücklich, wenn ich dies-und-das habe? Ich werde erst Spaß haben, wenn ich schlank bin? Ich werde erst mein Leben genießen, wenn ich einen Mann habe?

Was mache ich denn währenddessen? Auf der Couch hocken und warten?

Das kommt mir vor wie "und täglich grüßt das Murmeltier". Wobei es der Hauptdarsteller gut gemeistert hat! Denn er hat es verstanden, die Wartezeit zu nutzen. Während wir darauf warten, dass sich die Welt ändert, können wir selbst voran kommen!

Warten auf Godot? Sorry, nicht mehr mit mir.

bei sich bleiben
"Raus aus der Depression" heißt für mich mittlerweile, das geradlinig zu tun, zu denken, zu fühlen, was einem entspricht.
Ich will fröhlich sein in der Firma und die Kollegen sind zickig? Das ist DEREN Laune. Warum sollte mich die beeinflussen?
Ich merke immer häufiger, wie oft ich mich von Reaktionen anderer beeinflussen lasse. Aber immer häufiger kann ich dann auch zu mir selbst zurückkehren.
Übrigens: warum muss immer nur ich angesteckt werden von den negativen Dingen, Launen etc.? Warum stecke nicht ICH die Menschen in meiner Umgebung mit meinen positiven Seiten an?

Ziel
Ich will ein tolles Leben haben, habe aber kein Ziel? Hm. Das Ziel muss kein Endpunkt sein. Das Ziel kann auch sein, seinen Weg auf eine bestimmte Art und Weise zu gehen. Zum Beispiel, indem man das Bestmögliche macht, damit es einem gut geht.
Mein Ziel ist es, dass es mir gut geht.

wenn nicht so, dann anders
Ja, ich möchte auch so vieles machen, was mit einem netten Freundeskreis viel schöner bzw. überhaupt erst möglich ist, z.B. Karten spielen. Aber soll ich mich deswegen verkriechen und gar nichts mehr tun? Wenn das nicht geht, versuche ich halt etwas anderes.

Dankbarkeit
Ein Schlüssel, der mir geholfen hat, ist die Dankbarkeit. Ich und dankbar - früher undenkbar. Wofür soll ich dankbar sein?
Aber wenn man mal genau nachdenkt, kommt da sogar eine Menge zusammen!
Dankbar dafür, dass man noch alle Gliedmaßen hat, Haare auf dem Kopf, sehen und hören kann, dass es Strom und das Internet gibt, dass wir Arbeit haben, dass wir hier in Deutschland leben und und und.
Den Zugang habe ich gefunden über einen Fernsehbericht, in welchem Leute gezeigt wurden mit diversen "peinlichen" Krankheiten. Ich hab nichts davon und habe mich wirklich gefreut.
Und dann habe ich mich gefragt, was ich denn als selbstverständlich hinnehme, was aber nicht fehlen dürfte.

das von den anderen ist besser
Warum schiele ich immer auf das, was ich nicht habe, was ich nicht darstelle?

Willst Du auch Kind und Hund? Willst DU wirklich? Wenn ja - und wenn das nicht geht - hol das doch in Dein Leben. Beaufsichtige Kinder, werde Babysitter. Viele Eltern werden sich freuen.
Biete Deine Hilfe im Tierheim an.

Irgendwas in Dir sagt noch "nein"? Weißt Du, warum?

Möglichkeiten
Willst Du wirklich einen strammen Arbeitstag wie Dein Freund? Arbeit hast Du ja schonmal. Pflichten kannst Du Dir doch selbst suchen. Warum aber erfüllt Dein Freund seine Pflichten mit Freude? Es ist bestimmt seine Einstellung dazu, die sich (noch) von Deiner unterscheidet, hm?
Naja, Hobbys scheinst Du keine zu haben.
Was wäre aber mit dem Hobby "Joy"?
Du gönnst der Joy dann eine Selbsthilfegruppe, gönnst ihr alle ein bis zwei Monate eine Massage, gönnst ihr Solarienbesuche, gönnst ihr den Frisör oder einen Besuch bei der Kosmetikerin oder bei der Maniküre. Du buchst einen Kurs bei der VHS mit Yoga oder Meditation, oder Du versuchst es mal mit Malen.

Du schreibst doch, was Du alles hast:
eine Mietwohnung, einen Freund, Arbeit, Haushalt
Ist das denn NICHTS? Ist das nichts wert, weil da noch einige Dinge fehlen? Dann stell Dir bitte vor, was wäre, wenn Du auch das nicht mehr hättest.

Du schreibst weiter, Du hast keine Freunde, keine Hobbys, keine Karriere, keinen Spass.

Das mit den Freunden stellen wir mal hinten an: das ergibt sich mit der Zeit.
Hobbys: das hat etwas mit Interesse zu tun. Woher sollst Du wissen, dass Dich etwas interessiert, wenn Du es nie probiert hast?
Warum machst Du denn mit Deinem Freund nichts? Mach Kino zu Deinem Hobby. Holt Euch ein Gutscheinbuch und probiert die Restaurants in der Nähe aus. Da gibt's doch soviel, was man zu zweit machen kann.

Doch ach, wenn die Lustlosigkeit und die Antriebslosigkeit nicht wären, hm?
Hunger kommt beim Essen, Lust kommt beim Tun.
Lustlosigkeit und Antriebslosigkeit sind nicht unbedingt depressiv; sie können auch im normalen, gesunden Leben auftreten. Also nicht dagegen stemmen, beides unbedingt weghaben wollen (erst Lust -> dann Handeln sollte nicht zum Prinzip erhoben werden). Gesunde handeln auch lust- und antriebslos.
Wenn wir innerhalb unserer Grenzen bleiben, ist das sogar förderlich.


Puh, ist viel geworden. Bitte entschuldigt, ich weiß, sowas ist immer schwer zu lesen.
Ich höre jetzt meine Musik, hat sie mir doch gestern Abend ein inneres Lächeln gebracht.

Re: keine Ziele

Verfasst: 2. Aug 2008, 12:00
von chrigu
Hallo Otterchen,

danke für Dein langes Post. Das hat auch mir eine Menge gegeben und mich bestätigt darin, dass es ganz wichtig ist, die echten eigenen Wünsche und Ziele zu finden.
Wenn die sich von den Wünschen und Zielen unterscheiden, die wir von außen aufgedrückt bekommen (haben), dann ist das zwar nicht immer einfach, aber definitiv unser eigener Weg.

Sinnvoll finde ich auch - wie schon weiter oben geschrieben - sich zu fragen, ob unsere Ziele auch wirklich die echten Ziele sind. Wer gerne Haus, Partner und Kinder haben möchte, sehnt sich vielleicht nach der Geborgenheit, die er als Kind hatte oder nicht hatte.
Seit ich versuche, meine vermeintlichen Ziele, Wünsche, Sehnsüchte ein bisschen zu hinterleuchten, sehe ich oft ganz andere Ziele dahinter schlummern. Und die zu verwirklichen ist irgendwie einfacher als den anderen vordergründigen Zielen hinterherzulaufen.

Viel Grüße
Chrigu

@Ben: Prima Posts! Da werde ich glatt mal nach dem Wilhelm Schmid in der Bibliothek suchen.

Re: keine Ziele

Verfasst: 2. Aug 2008, 12:14
von otterchen
*bussi* @ Chrigu,

stimmt, das Haus steht für Sicherheit und Stabilität
die Familie steht für Zusammenhalt, Nähe, Geborgenheit
die Karriere steht für den Selbstwert
etc.

Wenn man einmal beleuchtet, was eigentlich dahinter steht, kann sich ein Knoten lösen.
Wenn ich Partner und Kinder habe, heißt das nicht, dass mich das ausfüllt. Ein Haus kann zur Belastung werden, der Beruf kann mich auffressen.

Ich glaube, es sind oft dieselben Dinge, die wir anstreben: Sicherheit, Geborgenheit, Selbstwert, Nähe, Bindung etc.
Dafür braucht man aber nicht Haus, Auto, Pferd und Karriere.