Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelskreis

Sinnpflanze
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Sinnpflanze »

Hallo BunteTupfen,

einen herzlichen Ostergruß auch von mir.

Ich verbringe das Fest dieses Mal - zu etwa einem Drittel gezwungenermaßen, zu etwa zweien aber aus eigenem Entschluss - allein. Gerade komme ich von einer ausgedehnten Wanderung ins Grüne, und möchte ein paar daraus resultierende Beobachtungen und Gedanken mitteilen.

Viele zieht es nach draußen, Jogger, Radfahrer, Hundebesitzer, Paare, Familien. Dem wollte ich mich bewusst stellen, anstatt einen - künstlichen? - Graben zwischen mir und denen, die Ostern in Gemeinschaft verbringen, zu errichten.

Ich setzte mich auf eine Bank, nippte an meiner Apfelschorle, bräunte mich - und guckte.

Was sah ich?

Jede Menge Aufgekratztheit. Menschen in großen Gruppen mit Grillzubehör, die sich hektisch schattige Plätzchen sicherten. Plärrende Kinder im nicht immer bequemen Sonntagsstaat. Ein Vater maßregelt, offensichtlich schwerst genervt, seinen kleinen Sohn, der statt der erwünschten roten Ostereier blaue bekommen hat und darum fürchterlich herumschreit. Eine Mutter streitet mit ihren Kindern um Eis – welche Sorte, wie teuer, und überhaupt. Eine Frau, hektisch und müde zugleich, sagt zu ihrem Mann, der versonnen in der Nase bohrt: "Lass man. Ich komme auch ohne Dich klar." Gestresstes Personal im See-Café. So einige blasse Paare, die es - offensichtlich nach Monaten auf der Couch - an die Sonne zieht, und die, wie zwei Ertrinkende aneinandergeklammert, schweigend um den See schlurfen. Streitende Paare. Herumbrüllende, offensichtlich von Sonne und Alkohol angestachelte Jugendliche.

Über allem eine Glocke von Grilldünsten.

Ich dachte plötzlich: Gott-sei-Dank, dass ich allein bin. Dass ich gehen kann, wenn mir das hier zu viel wird. Dass ich frei bin. Dass ich mich jetzt niemandem erklären muss.

Unter all den vielen Menschen gab es genau ein Paar, dessen Nähe mir für eine kleine Weile wohltat: Leute um die 70, auf einer Bank in meiner Nähe. Ein bisschen schwatzen, ein bisschen schweigen - die wirkten wirklich heiter und entspannt. Allein auf weiter Flur. Tauschten irgendwann einen wortlos-amüsierten Blick, der besagte: "Jetzt ist auch mal gut". Ein komplizenhaftes Nicken in meine Richtung, nachdem ich ihnen zugelächelt hatte. Dann zogen sie gemessenen Schrittes von dannen.

Und bald dann auch ich, Richtung Felder, wo ich in Ruhe über Depression und Isolation nachdenken konnte.

Was sich meiner Beobachtung nach „beißt“: Depression ist ein Massenphänomen, das wie ein Damoklesschwert über unserer Gesellschaft hängt. Aber gleichzeitig: Kann kaum jemand, betrifft es ihm nahestehende Personen, damit umgehen. Jedenfalls nicht so, dass es dem Depressiven gut tut.

Sobald man sich damit outet, ist man – bei vielen - in gewisser Hinsicht geliefert: Hat man Pech, hagelt es Ratschläge und Vorwürfe. Alles im Grunde Abgrenzungs- und Selbstvergewisserungsversuche gegenüber den armen Gestalten „da unten“, die es nicht geschafft haben, nicht ins Loch zu fallen. Um das man seit Jahren selbst mehr oder minder erfolgreich herumlarviert. In der großen Angst, selbst einmal als das „arme Hascherl“, das sich zu ihren Füßen im Staub windet, zu enden.

Depression ist eben keine exklusive Erkrankung weniger Auserwählter, die „einfach zu gut sind für diese Welt.“ Für diese Erkenntnis, die von romantischen Vorstellungen über Läuterung durch Leid zeugt, reichen ein paar Tage auf einer entsprechenden psychiatrischen Station. Sie verkennt, dass es heutzutage jeden, wirklich jeden treffen kann. Dass Depressionen anstecken können. Dass sie einem – im Gegensatz zu exotischeren, letztlich aber für das Gegenüber nicht bedrohlichen Leiden – wirklich nahegehen. Dass sie wie keine andere Krankheit anderer dazu auffordern, das eigene Leben in den Blick zu nehmen. Darum häufig der Mangel an Empathie, darum häufig diese schmerzhaft erfahrene Mitleidslosigkeit.

Kann ich andere, so bitter es manchmal ist, dafür verurteilen? Geht es mir nicht selbst oft so, dass ich feststelle: Depression allein ist ein dürftiger gemeinsamer Nenner. Was verbindet uns schon, bis auf die Diagnose, miteinander? Ich lass mich nicht herunterziehen. Nix wie weg hier...!

So paradox es anmutet: Gerade weil so viele von Depression bedroht sind, führt diese zu gesellschaftlicher Isolation. So, wie Grippekranken nicht die Hand gegeben wird. Und, wie gesagt: Nicht nur zu unfreiwilliger. Sondern auch zu einer, die bewusst – und aus Gründen der Würde und des Selbstschutzes – von den Betroffenen gewählt ist.

Sogar enge Freunde müssen dann eine Weile außen vor bleiben – gilt es doch, sich in gewissen Zeiten nicht gegenseitig zu überfordern. Und einmal mehr die Erfahrung zu machen: DAS habe ich allein geschafft.

Ich brauchte schon immer längere Phasen des Alleinseins, um mich von den Zumutungen dieser Welt zu regenerieren. Allerdings verharre ich nicht darin: Irgendwann kommt dann wieder diese Neugierde, diese Lust auf den Realitätsabgleich: Ticken die da draußen wirklich so, wie ich das in meinem stillen Kämmerlein imaginiere? Oder ist es vielleicht ganz anders?

Nähebedürfnisse - sicher, stundenweise. Aber würde mich alles darüber hinaus nicht überfordern?

Lieben Gruß,
Sinnpflanze
Wiedererholtes Herz ist das bewohnteste.
Rainer Maria Rilke
BunteTupfen
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von BunteTupfen »

Liebe Gertrud Star, liebe Sinnpflanze,
danke für Eure Beiträge, auf die ich versuche in den nächsten Tagen zu antworten.


Liebe Camille,
an anderer Stelle hattest Du geschrieben:
Camille hat geschrieben:Kontakte, die eine gewisse "Nähe" oder Zugewandtheit erfordern würden, überfordern mich mehr und mehr. Mir fehlen Worte, um es zu beschreiben. Ich fühle mich fremd und einsam - und meinem Gegenüber nicht zumutbar. Gleichzeitig überaus verletzlich.
Und weiter schreibst Du:
Camille hat geschrieben:(...) gerade in letzter Zeit, war ich wieder so sehr in mir vergraben. Alles um mich herum war so weit weg - als ginge es mich gar nichts an. Mir ist das bewusst - wie einsam sich andere da auch neben mir fühlen müssen. Ich spüre nicht, was sie fühlen. (...) Oft frage ich mich dann auch in wieweit bin ich für andere zumutbar.
Wenn ich diese Zeilen lese, geht es mir wie @T Ally im Thread "Nicht zugehörig" schrieb. Du zeigst Dich in diesem Forum so empathisch und warmherzig, gehst so sehr auf die Themen einzelner ein, dass obige Zeilen mit der Vorstellung, die ich von Dir bekomme, gar nicht recht zusammen passen wollen. Auch wenn ich aus verschiedenen Deiner Texte weiß, dass Du unter einer "inneren Einsamkeit", einem "in Dich zurückgezogen sein" leidest, habe ich durch Deine Beiträge hier ebenfalls eher die Vorstellung von einer Frau, die "verbindend und anderen zugewandt" im Mittelpunkt steht, die gern gesehen und geschätzt ist, eben weil sie so sehr auf andere eingehen kann. Weil sie eine Sensibilität aufweist, die anderen so nicht gegeben ist.
Camille hat geschrieben:(...) Einsamkeit in dem Gefühl nicht gesehen zu werden.
Das ist noch so ein Aspekt - meiner Einsamkeit. Aus Gründen nicht ständig "zu belasten", übergehe ich auch sehr oft - sogar eher meistens - im Kontakt mit anderen Menschen mein innere "Stimmung" und meine Leere und Interessenlosigkeit. Es ist nicht nur eine "Maske" zum Selbstschutz - sondern auch um mein Gegenüber nicht zu überfordern und zu kränken. Und gleichzeitig ist dieses Verhalten wiederum Ursache, dass ehrliches und offenes Miteinander nicht möglich ist - durch meine "Täuschung".

Ich bin dankbar, dass ich über meine Arbeit und über die "Hobbies" meiner Kinder ständig in KOntakt mit Menschen bleibe. Gespräche über "Organisatorisches" oder "gemeinsame Erlebnisse" ermöglichen mir nicht ganz alleine zu sein. (...)

Innere Nähe - vielleicht gelingt das tatsächlich nur unter auch selbst Betroffenen - kann sein.
Hast Du nicht das Gefühl, innere Nähe zu Deinem Mann und zu Deinen beiden Töchtern zu haben?
Ich meine aus unterschiedlichen Beiträgen herausgelesen zu haben, dass Du ein starkes Befürfnis hast, über das, was Dich innerlich so sehr bewegt und schmerzt, Dich mit jemandem intensiv austauschen zu können. Dabei gesehen, und verstanden zu werden. Und Du hast Angst, Deinen Mann und Dein Umfeld mit dieser Thematik zu belasten, zu überfordern?

Du schreibst, Du hättest keine Interessen, keine Hobbies.
Du versuchst Struktur durch Deine Arbeit und durch Schlaf zu finden.
Verstehe ich richtig, dass Du abgesehen von Deiner Arbeit, Deinen Pflichten, meist, oder sogar ausschließlich innere Leere, Schmerz und Ruhebedürfnis verspürst? Du hast keine Ressourcen für, bzw. wirkliche Freude an "Dingen oder Themen, die Dir inneren Frieden und wahre Zufriedenheit bereiten könnten"? Bitte antworte nur, wenn Du möchtest.
Katerle
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Katerle »

Camille hat geschrieben:Hallo zusammen

@Aurelia - ich möchte weder Allegretto noch Gertrud vorgreifen. Ich meine mit allein sein, dass ich für mich alleine bin, also keine anderen Menschen um mich habe. Einsamkeit ist dagegen ein inneres Gefühl. Ich kann unter Menschen sein und mich trotzdem einsam fühlen, weil ich mich fremd fühle oder die anderen nicht verstehe. Ich weiß nicht, ob ich es verständlich erkären konnte. Weißt du jetzt, was wir damit meinen - wenn wir sagen, alleine sein (also kein Kontakt zu anderen Menschen haben) sei leichter zu überwinden - als Einsamkeit (also Kontakt zu einem Menschen zu haben, dem ich mich nahe fühle, den ich verstehe, der mich mag usw.)

@Bunte Tupfen - es freut mich, dass dein Thread immer wieder von Neuem unterschiedliche Forianer anspricht und dazu veranlasst zu schreiben. Es ist ein ganz wichtiges Thema - das ganz viele angeht und betrifft. Für mich sehr hilfreich - über das Lesen und Schreiben hier verstehe ich mich schritt für Schritt besser. Ich hoffe, es findet sich auch für dich noch viel Hilfreiches.

Ich lese, dass sich viele Schreiber einsam fühlen unter Menschen, weil es keine gemeinsamen Gesprächsthemen - z.B. Urlaub, Hobbies, Freizeit. Oder um Themen über die man ungern redet, wie z.B. Arbeit EM Rente. Und ja da erkenne ich mich wieder - zumindest in vielen Teilbereichen. Auch ich habe keine "Hobbies", keine Interessen. Und das trennt. Ich glaube nicht, dass es ist von "Nichterkrankten" bewusst ausgrenzend oder entwertend gemeint ist, wenn sie solche Themen ansprechen wie z.B. Urlaub. Ich glaube, dass es Themen sind über die gerne geredet wird, weil sie auch beim Erzähler schöne Erinnerungen wachrufen und - in der Regel beim Gegenüber auch. Ich denke sogar, dass z.B. meine ausbleibende positive Resonanz auch meinen Gesprächspartner zumindest kurz stutzig macht - vielleicht erlebt er mich sogar als ablehnend, wenn ich nicht mit der üblichen Begeisterung auf sein Thema eingehe.


@Bunte Tupfen - ohne, dass ich das damals hätte so formulieren können, war das auch schon in einer meiner Nachrichten an dich, der Grund gewesen, dir z.B. den BUND als Anlaufstelle zu empfehlen. Aus der Annahme, dass es über ein "gemeinsames Interesse" oder eine Tätigkeit leichter ist erste Gespräche aufzubauen - sich kennen zu lernen. Ich selbst erlebe es zumindest so - vielleicht könnte das dem ein oder anderen auch helfen.


Es ist so vielschichtig dieses Thema - gerade in letzter Zeit, war ich wieder so sehr in mir vergraben. Alles um mich herum war so weit weg - als ginge es mich gar nichts an. Mir ist das bewusst - wie einsam sich andere da auch neben mir fühlen müssen. Ich spüre nicht, was sie fühlen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht - was sie von mir bräuchten oder erwarten. Das sehe ich - und ja das tut mir sehr leid. Oft frage ich mich dann auch in wieweit bin ich für andere zumutbar. Vor allem in Phasen in denen in mir soviel Schmerz und Schwere ist - wie hat es mein Mann kürzlich formuliert - ich bekomme es nicht mehr ganz zusammen. Es ging so in die Richtung: "Manchmal möchte ich einfach entspannen und genießen - ich möchte nichts SChweres oder Depressives um mich haben". Und das tut mir unendlich weh - obwohl ich weiß, dass er genau solche Momente auch braucht. Und ich auch versuche, sie ihm zu zugestehen.


Das sind gerade so meine Gedanken -

Vielleicht kann der ein oder andere etwas damit anfangen.


Freue mich auf alle Fälle auf weitere Beiträge


Liebe Grüße

Camille
Finde Camille, du hast dich verständlich ausgedrückt. Also ich hatte vor kurzem erneut Situationen, dass ich zwar unter Menschen war, also meinen Angehörigen, aber doch irgendwie einsam, zumal ich bei den Gesprächen kaum folgen konnte (aufgrund wegen meiner Schwerhörigkeit). Das ist echt ein scheiß Gefühl... Klar freue ich mich riesig über unseren kleinen Enkel und über unseren ersten. Das sind echt wunderbare Momente. Aber mir kamen auch ein paar Tränen, weil ich solche Schwierigkeiten habe, zu verstehen, was die anderen sagen. Wenn ich z. B. meine Hörgeräte drin habe und mehrere Leute reden, verstehe ich auch nicht so gut. Hatte mich aber dann auch wieder gut im Griff und konnte wieder lachen... Am liebsten hätte ich mal richtig losgeheult, aber das wollte ich nun auch nicht meiner Tochter zumuten. Irgendwie bin ich automatisch ausgegrenzt. Und dann noch die Konzentration, die mir auch manchmal Probleme bereitet...
Manchmal empfinde ich mich halt auch eher als eine Zumutung für andere, wenn ich z. B. öfters nachfragen muss, weil ich was nicht verstanden habe. Das geht den anderen auf den Geist und mir auch. Dann schweige ich doch lieber, damit ich niemanden auf den Wecker falle... So ist der Kreislauf der Einsamkeit perfekt...

Liebe Grüße an euch, auch wenn ich jetzt nicht auf jeden eingehen konnte.
Katerle
fatrate
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von fatrate »

:arrow:
Zuletzt geändert von fatrate am 27. Aug 2019, 05:36, insgesamt 1-mal geändert.
DieNeue
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von DieNeue »

Hallo Katerle,

das mit dem Hören ist echt blöd. Meine Mutter hört auf einem Ohr gar nichts mehr und auf dem anderen auch weniger. Da hat sie seit ein paar Jahren auch ein Hörgerät und ist jetzt viel glücklicher. Sie hat damals auch ein Hörtraining mit einer CD und einem Arbeitsbuch gemacht, um zu lernen, die Umgebungsgeräusche zu ignorieren und damit man sieht, bei welchen Lauten sie Schwierigkeiten hat. Alle Buchstaben haben ja unterschiedliche Frequenzen.
Vielleicht würde dir das auch helfen? Wenn du magst, kann ich mal nachfragen.

Liebe Grüße,
DieNeue
Katerle
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Katerle »

Hallo liebe DieNeue,

tut mir leid mit deiner Mutter, dass sie auch solche Schwierigkeiten hat. Ich sag mal, wenn ich mich mit einer Person unterhalte, da geht es besser. Bei meinem Enkel muss ich leider auch manchmal nachfragen, obwohl er sehr deutlich spricht.
Hatte ja damals auf dem einen Ohr auch garnichts mehr gehört und inzwischen sind es bei Beiden 50%.
Das wäre sehr nett, wenn du mal bitte nachfragen könntest, wegen dem Hörtraining.

Herzlichen Dank, Katerle
Sinnpflanze
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Sinnpflanze »

fatrate hat geschrieben:
Mit dem überlebensgroßen Engel der Einsamkeit kann man nur ringen, wenn man den Saft der Arbeit in den Adern hat, sonst wird seine Dämonie zur Überwältigung und zum fortwährend sich fällenden Urteil.
Danke, fatrate, das kannte ich nicht.

Wohl wahr.

"Fortwährend sich fällendes Urteil" - hoffentlich nicht. Immerhin sah ich ja auch etwas, das mein Herz wärmte - das alte Paar. Mehr noch: Ich war wohl irgendwie begierig auf solcherlei Anblick. Rein depressive Wahrnehmung kann es also nicht gewesen sein.

Abends ein Telefonat mit einem Freund in einer anderen Stadt. Er hatte einen ähnlichen Ausflug mit ähnlichen Eindrücken hinter sich, und war hinterher fix und fertig. Als besonders depressiv ist er bisher nicht in Erscheinung getreten.

"Der Saft der Arbeit in den Adern", der Aktivität, Tapferkeit und Zuversicht fließt nicht immer unbegrenzt.

Rilke wusste genau, was er da schrieb - kämpfte er doch Zeit seines Lebens mit Depressionen. Trotz vieler Kontakte fühlte er sich oft einsam. Und war gleichzeitig so begierig darauf, dem Leben Schönes abzutrotzen.

Er schreibt auch: "Alles, was vielleicht einmal vielen möglich sein wird, kann der Einsame jetzt schon vorbereiten."

Ein kleiner Trost.
Wiedererholtes Herz ist das bewohnteste.
Rainer Maria Rilke
Gertrud Star
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Gertrud Star »

Ich bin gestern auch um den See gegangen.
Da waren jede Menge Leute, die sich spazierend unterhielten, Jogger und junge Leute im Trupp. Ein Mann mit 2 Jungs spielten mit dem Modellboot.
Die Leute waren alle irgendwie beschäftigt bis entspannt. Einige lächelten.
Für irgendwelche Streitereien und Nervereien war es wohl schon zu spät so kurz vorm Dunkelwerden.
Viele waren schon auf dem Heimweg.
Vor einigen Tagen sah ich ein Hündchen so in Katzengröße mit 2 Mädels joggen.

Wenn ich denn mal raus gehe, fühle ich mich nicht mehr ganz so isoliert.
Das Gefühl wird mich wohl mein Leben lang begleiten.

LG Gertrud
Gertrud Star
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Gertrud Star »

Hallo Sinnpflanze,
du schreibst zu Rilke:
>>Er schreibt auch: "Alles, was vielleicht einmal vielen möglich sein wird, kann der Einsame jetzt schon vorbereiten."<<
Das klingt eher nach der Einsamkeit der Menschen, die weit gucken können, viel mitbekommen und sich eine bessere Welt für alle wünschen. Denen ist Einsamkeit ein sehr vertrautes Gefühl. Die Frage ist eher, ob die immer als Phantasten bezeichnet werden müssen und ob das zwangsläufig mit Depressionen verbunden sein muss.
LG Gertrud
DieNeue
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von DieNeue »

Hallo Katerle,

das ist das Terzo Gehörtraining:
https://www.terzo-zentrum.de/die-terzo-gehoertherapie/" onclick="window.open(this.href);return false;
Wäre natürlich super, wenn es dir auch helfen würde. Meine Mutter muss auch immer drauf achten, dass sie sich immer mit dem funktionierenden Ohr zu den Leuten hinsetzt. Selbst wir Kinder sprechen sie manchmal noch von der falschen Seite an. Aber das ist eigentlich kein Desinteresse, ich denke, es liegt auch mit daran, dass es auch was ist, was man nicht sieht. Zumindest nicht so auffällig. Was anderes wäre es wahrscheinlich, wenn man riesige Hörtrichter an den Ohren dran hätte, vielleicht würden die anderen sich dann eher dran erinnern ;)

Aber ich stelle es mir schon blöd vor, wenn man nichts versteht. Das ist ja wie wenn ich jemanden in einer Fremdsprache nicht verstehe und beim dritten Mal vorsagen es dann peinlich wird und man dann einfach lächelt und nickt. Obwohl man null kapiert hat. Das schließt dann schon aus, weil es die anderen auch verunsichern kann, wenn sie nicht wissen, ob man sie verstanden hat oder nicht oder wenn man immer nur lächelt und nickt... dann wird das ganze unangenehm und viele lassen es dann lieber.

Manchmal habe ich mir schon gedacht, dass es für uns als Familie eigentlich vielleicht nicht schlecht wäre, Gebärdensprache zu lernen. Weil besser wird ihr Gehör ja auch nicht. Aber wer macht das schon, wenn er es (noch) nicht braucht...

Dir auf jeden Fall alles Gute und ich hoffe, das Training ist was für dich!

Liebe Grüße,
DieNeue
Sinnpflanze
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Sinnpflanze »

Hallo Gertrud Star,

schön, dass Du auch um einen See spaziert bist.

Ich mache das sehr häufig, schon allein wegen der federleichten kleinen Begegnungen, die sich daraus ergeben können. Und weil mir Licht, Luft und Bewegung zuverlässiger helfen als es die - inzwischen abgesetzten - Medikamente jemals getan haben.

Riskant nur an einem Feiertag mit Bombenwetter, wo die Massen aufbrechen - ich hätte es wissen müssen. (Heute war es wieder viel friedlicher.)
Das klingt eher nach der Einsamkeit der Menschen, die weit gucken können, viel mitbekommen und sich eine bessere Welt für alle wünschen. Denen ist Einsamkeit ein sehr vertrautes Gefühl. Die Frage ist eher, ob die immer als Phantasten bezeichnet werden müssen und ob das zwangsläufig mit Depressionen verbunden sein muss.
Ich verstehe es gar nicht so, dass er es so groß gemeint hat.

Nebenbei: Viele, auch inzwischen hochgeschätzte Visionäre galten anfangs als Phantasten. Deren Ideen häufig der Einsamkeit, wenn auch nicht immer der Depression entsprangen.

Es gibt jede Menge Menschen, die die Einsamkeit - aus unterschiedlichsten Gründen - suchen.
Zum Beispiel, um Bücher zu schreiben. Und die damit verbundene Freiheit genießen können.

Ich lese das Zitat einfach so: Einsamkeit ist auch eine Chance, um - von anderen unbehelligt - die Phantasie schweifen zu lassen. Seinen eigenen Weg zu finden.

Sollte dieser andere überzeugen - kann das erfreulich sein. Aber nicht unbedingt das ursprüngliche Ziel.

Gruß,
Sinnpflanze
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Rainer Maria Rilke
Camille
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Camille »

Lieber Bunte Tupfen,

Vielen Dank für deine lange Antwort - deine Auseinandersetzung mit mir und meiner "Form der Einsamkeit". Ich möchte gerne im Austausch bleiben - auch im Bezug auf dich. Die nächsten Tage sind einfach randvoll mit Terminen und Verpflichtungen. Deswegen verstehe mich nicht falsch, wenn es noch ein paar Tage dauert.

Ganz kurzes feed back zu deiner Frage: "Verstehe ich richtig, dass Du abgesehen von Deiner Arbeit, Deinen Pflichten, meist, oder sogar ausschließlich innere Leere, Schmerz und Ruhebedürfnis verspürst? Du hast keine Ressourcen für, bzw. wirkliche Freude an "Dingen oder Themen, die Dir inneren Frieden und wahre Zufriedenheit bereiten könnten"?

Ja das siehst du richtig. Ich fühle mich bei allem was ich mich, wie nicht "anwesend". Ich sehe mich agieren - es läuft an mir vorbei. Ich "möchte" auch "nichts mehr genauer miterleben"- weil da permanent diese Kritik und Ablehnung gegenüber mir als "Hauptdarstellerin" nebenher läuft. Und die diese Gedanken hören nicht auf - mein Leben lang. Das bin ich so leid - bin so müde. Ja ich fühle mich lebensmüde - nicht zu verwechseln mit suizidal. Bin einfach nur froh, wenn ich jeden Abend einen Tag mehr abhaken kann.

So fühlt es sich irgendwie an.

Aber Worte finden - das fällt mir schwer -

Bis bald
Herzliche Grüße
Camille

P.S. Und nein- meistens spüre ich keine Nähe - auch nicht zu meinem Mann oder zu meinen Kindern. Dafür schäme ich mich - und es tut mir unendlich leid. Ab und zu gibt es Momente - da bin ich "da". Fühle mich und fühle auch Nähe. Dann ist es wieder umso schmerzlicher, wenn die Mauern sich um mich schließen.
Camille
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Camille »

Liebe DieNeue,

Dir antworte ich auch noch.
Alles, was du von deiner Mutter erzählst - kenne ich genauso. Schon interessant und hat uns sicher geprägt.

Ich meinte trotzdem etwas anderes - das, was man unter "Schwingungsfähigkeit" versteht. Ich fühle mich oft so weit weg - es fällt mir so schwer, mein Gegenüber wahrzunehmen. Bin in mir "vergraben".

Irgendwie so
Tut mir leid - ich komme nicht zum Lesen und Antworten hier
Ich habe auch mit deiner neuen Betreuerin nur so "Bruchstücke" mitbekommen

Tut mir leid
Herzliche Grüße
Camille
DieNeue
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von DieNeue »

Hallo Camille,

macht gar nichts. Hab mir schon gedacht, dass du viel zu tun hast.
Ich glaube, ich verstehe dich jetzt ein bisschen besser. Ich finde Schwingungsfähigkeit so schwierig zu erklären und schwer zu greifen.
Für mich ist das, wenn mir z.B. jemand was erzählt und das gar nicht wirklich bei mir ankommt. Als wäre ich ein Zuschauer hinter einer Glasscheibe. Als würde ich nur zuschauen, aber eigentlich wird erwartet, dass ich reagiere. Aber das tue ich nicht, denn ich schaue ja nur der Mimik und den Lippenbewegungen des Anderen zu. Und sage irgendwas, nur damit es nicht auffällt. Aber eigentlich würde ich lieber einfach da sitzen und vor mich hin glotzen.

Vielleicht kommt das auch mit davon, wenn man keinen Zugang zu seinen Gefühlen hat?

Mach dir keinen Stress mit dem Antworten. Passt schon!

Liebe Grüße,
DieNeue
Katerle
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Registriert: 25. Sep 2014, 10:30

Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Katerle »

DieNeue hat geschrieben:Hallo Katerle,

das ist das Terzo Gehörtraining:
https://www.terzo-zentrum.de/die-terzo-gehoertherapie/" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;
Wäre natürlich super, wenn es dir auch helfen würde. Meine Mutter muss auch immer drauf achten, dass sie sich immer mit dem funktionierenden Ohr zu den Leuten hinsetzt. Selbst wir Kinder sprechen sie manchmal noch von der falschen Seite an. Aber das ist eigentlich kein Desinteresse, ich denke, es liegt auch mit daran, dass es auch was ist, was man nicht sieht. Zumindest nicht so auffällig. Was anderes wäre es wahrscheinlich, wenn man riesige Hörtrichter an den Ohren dran hätte, vielleicht würden die anderen sich dann eher dran erinnern ;)

Aber ich stelle es mir schon blöd vor, wenn man nichts versteht. Das ist ja wie wenn ich jemanden in einer Fremdsprache nicht verstehe und beim dritten Mal vorsagen es dann peinlich wird und man dann einfach lächelt und nickt. Obwohl man null kapiert hat. Das schließt dann schon aus, weil es die anderen auch verunsichern kann, wenn sie nicht wissen, ob man sie verstanden hat oder nicht oder wenn man immer nur lächelt und nickt... dann wird das ganze unangenehm und viele lassen es dann lieber.

Manchmal habe ich mir schon gedacht, dass es für uns als Familie eigentlich vielleicht nicht schlecht wäre, Gebärdensprache zu lernen. Weil besser wird ihr Gehör ja auch nicht. Aber wer macht das schon, wenn er es (noch) nicht braucht...

Dir auf jeden Fall alles Gute und ich hoffe, das Training ist was für dich!

Liebe Grüße,
DieNeue
Vielen Dank DieNeue für deine Tipps. Von diesem Gehörtraining habe ich noch nichts erfahren. Ich kann das ja mal bei meinem Akustiker ansprechen, wenn ich mal wieder dort bin. Ist ja schön, dass es deiner Mutter hilft. Es ist schon so, wie du schreibst. Ja, man kann nicht nur die anderen verunsichern, sondern man ist auch selbst verunsichert...
Ja an die Gebärdensprache hatte ich auch schon mal gedacht, sie zu erlernen. Naja zum Glück schreibe ich auch mit meinen Kindern, dass mache ich noch am liebsten.

Nochmals danke für deine Mühe,
herzlichst Katerle
BunteTupfen
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Registriert: 1. Jan 2019, 05:00

Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von BunteTupfen »

Liebe Gertrud,

auf Deinen Beitrag vom 21.04., 23:27, wollte ich noch eingehen.
Deinen Lebensweg, den Du zeichnest, ist ein steiniger. Was Du schreibst, macht mich betroffen. Dass Du nichts zustande gebracht hast, stimmt so allerdings nicht, denn offenbar hast Du Dein Studium erfolgreich abgeschlossen, wie Du selbst schreibst. Auf manche Wendungen im Leben haben wir keinen, oder nur sehr geringen Einfluss. Und den "Rucksack mit Ballast" schleppen wir - ungefragt - mit uns herum. Das trifft sicher für viele zu, die sich hier im Forum beteiligen.
Gertrud Star hat geschrieben:Wobei die Einsamkeit an sich nichts schlimmes ist. Es kommt eher darauf an, wodurch sie zustande kommt.

Für die allermeisten von Einsamkeit Betroffenen ist sie ganz bestimmt sehr schlimm.
Einsamkeit (und eben nicht Alleinsein) ist meiner Meinung nie selbst gewählt. Schon gar nicht, wenn sie von Dauer ist. Ich denke, für Betroffene ist sie ungewollt und sehr belastend. Ob Alte, Kranke, Menschen mit Handicap, oder solche, die - aus welchen Gründen auch immer - am Rande der Gesellschaft stehen.
Gertrud Star hat geschrieben:Einsamkeit ist also immer vorprogrammiert.
Das glaube ich nicht, dass Einsamkeit immer vorprogrammiert ist. Es gibt sicher viele Umstände, die Einsamkeit begünstigen. Ich glaube aber auch, dass Einsamkeit sehr unvorhersehbar - plötzlich oder auch schleichend - eintreten kann.
Gertrud Star hat geschrieben:Daran fange ich an mich zu gewöhnen.
Früher habe ich mich eher allein gefühlt - und kam damit insgesamt einigermaßen zurecht.
Heute fühle ich mich wirklich einsam, gewöhnen daran möchte ich mich nicht.
An "Alleinsein" kann man sich gewöhnen, aber kann man sich an Einsamkeit gewöhnen? Findet man sich damit nicht eher ab?
Und auch abfinden möchte ich mich damit nicht!

Denn das Einsamkeit eine "Geißel der Menschheit" ist, das würde ich aus eigener Erfahrung bejahen.

Herzliche Grüße
Bunte Tupfen
Zuletzt geändert von BunteTupfen am 25. Apr 2019, 02:51, insgesamt 3-mal geändert.
Aurelia Belinda
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Aurelia Belinda »

Hallo,
Genau so ist es.
Es führen immer schwierige Umstände dazu. Sonst rutscht man nicht in Einsamkeit.
Wenn mir das jemand vor 30 J. Gesagt hätte dass ich so Ende.....im Leben hätte ich nicht dran geglaubt.
Einige Jahre vorher ging ich noch jedes WE aus, habe immer Neue Leute kennen gelernt. Urplötzlich Stand die Zeit still. Große Sehnsucht nach RUHE war in mir. Nicht mehr nach aus gehen, nicht mehr ständig neue Leute.
Die wilde Partyzeit war vorbei.
Eine neue Ära begann.
Alle eure Dinge lasset in Liebe geschehen
BunteTupfen
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von BunteTupfen »

Liebe Sinnpflanze,

vielen Dank für Deine Ostergrüße.

Dein Nick gefällt mir übrigens prima.
Ich war zu Ostern ebenfalls unterwegs, meine Eindrücke waren aber ganz andere, als Deine. Offenbar war ich zwar an einem nicht so belebten "Hotspot" wie Du unterwegs, aber zumindest an einem Aussichtspunkt tummelten sich dann doch zeitweise auch etwas größere Menschenmengen.
Erlebt habe ich die Leute sehr entspannt, die Aussicht genießend, in kleine oder auch keine Plaudereien verwickelt. Eine Gruppe fragte mich sehr nett, ob ich ein Foto von ihnen machen könnte. Ein paar nette Worte, angenehmes Feeling, rundum schön.
Auf meiner Wanderung noch mit einem Pärchen hinsichtlich der Richtungsfrage und der wunderbaren Fernsicht ins Gespräch gekommen. Sehr angenehm, sehr entspannt.
Sinnpflanze hat geschrieben:(...) bald dann auch ich, Richtung Felder, wo ich in Ruhe über Depression und Isolation nachdenken konnte.
Siehst'de, mich zieht es in die Felder, damit ich meine Depressionen und die Isolation vergesse. ;)
Sinnpflanze hat geschrieben:Sobald man sich damit outet, ist man – bei vielen - in gewisser Hinsicht geliefert: Hat man Pech, hagelt es Ratschläge und Vorwürfe. Alles im Grunde Abgrenzungs- und Selbstvergewisserungsversuche gegenüber den armen Gestalten „da unten“, die es nicht geschafft haben, nicht ins Loch zu fallen. (...) So paradox es anmutet: Gerade weil so viele von Depression bedroht sind, führt diese zu gesellschaftlicher Isolation.
Sicher mag es Abgrenzungs- und Selbstvergewisserungsversuche geben.
Ich bin ebenfalls eher gesellschaftskritisch, aber die Isolation von Depressiven darauf zurückzuführen, dass viele von Depression bedroht sind, erscheint mir übertrieben.
Ist die Frage nicht eher, was gesellschaftlich gern gesehen ist? Leichtigkeit, Angenehmes, Schönes, Leistung, Status, Habitus.

Wer mag schon von Negativem und Belastendem umgeben sein?
Und sicher bin auch ich als Person in meinem Rückzug, mit meiner Sensibilität und Vorsicht nicht ganz "pflegeleicht". Es gibt ganz viele ungünstige Umstände, die noch ungünstiger aufeinandertreffen. Die Problematik nur an der Gesellschaft auszumachen (ja, da gibt es sicher ein gewaltiges Problem), wäre genauso einseitig, wie nur die von Depressionen Betroffenen dafür verantwortlich zu machen.

Gesellschaftskritisch sehe ich, dass grundsätzlich (fast nur) dem Wahren, Schönen, Guten (und Teuren) gehuldigt wird.

Im übrigen schreibst Du selbst:
"Kann ich andere, so bitter es manchmal ist, dafür verurteilen? Geht es mir nicht selbst oft so, dass ich feststelle (...) Ich lass mich nicht herunterziehen. Nix wie weg hier...!"
Sinnpflanze hat geschrieben:Nähebedürfnisse - sicher, stundenweise. Aber würde mich alles darüber hinaus nicht überfordern?
Das muss jeder für sich entscheiden ....

Herzliche Grüße
Bunte Tupfen
Zuletzt geändert von BunteTupfen am 25. Apr 2019, 03:08, insgesamt 1-mal geändert.
BunteTupfen
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von BunteTupfen »

Liebe Camille,

Deine Zeilen machen mich traurig und lassen mich sprachlos verharren.
Ich wünsche Dir so sehr, dass Du Dich, Deine Gefühle, Deine Lieben jederzeit spüren könntest und wahrhafte Freude an den Dingen und im Alltag sich bei Dir einstellen würde.
Das was Du beschreibst - und das Dich schon Dein ganzes Leben begleitet - kann ich in diesem Umfang gar nicht richtig erfassen.

Hinsichtlich unseres Austauschs: Schreibe, wenn Du Zeit und Muße hast. Aber fühle Dich nie verpflichtet.

Ich wünsche Dir von Herzen eine gute Zeit
Bunte Tupfen
Sinnpflanze
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Sinnpflanze »

BunteTupfen, gerade fällt mir beim mittäglichen Espresso noch etwas ein:
BunteTupfen hat geschrieben: Leichtigkeit, Angenehmes, Schönes, Leistung, Status, Habitus.
Dazu eine Geschichte bzw. Erfahrung:

Als es mit mir vor zwei Jahren so den Bach hinunter ging, und ich langsam, aber sicher in Alkohol und Stumpfsinn versank, mein Freund tat, was er tun konnte - ich kann ihm im Nachhinein wirklich keinen Vorwurf machen - aber irgendwann mit seinem Latein am Ende war...

Verliebte er sich in eine Szene-Schönheit, die ihm als das genaue Gegenteil von mir erschien: Leicht, kontaktfreudig, vielseitig interessiert, aktiv. Und präsentierte sie mir als echte Alternative zu sechzehn Jahren Sinnpflanze. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr mich das schmerzte, und versuchte eine Weile, gegen dieses Wunderwesen anzukommen.

Natürlich chancenlos.

Mittlerweile kann ich ihm auch das nicht verübeln - wer weiß, ob ich in seiner Situation nicht ebenso empfänglich gewesen wäre.

Da lief wohl auch eine Weile was - während ich mit meinem stationären Entzug beschäftigt war.
Brutal.

Schon bald aber stellte sich heraus: Die andere neigte genau so zu Depressionen wie ich! Er hatte sie einfach in einer guten Phase kennengelernt. Tatsächlich war sie kein Stück unkomplizierter als ich. Es war, wie er sich - und auch mir - später eingestand, reine Projektion seinerseits gewesen - weil er diese Illusion in unserer schlimmsten Krise einfach brauchte.

Mittlerweile treffen sie sich nicht mehr. Es blieb bei einem Strohfeuer.

Lieben Gruß,
Sinnpflanze

P.S.: Irgendwie, ich weiß nicht wie, ist es mir gelungen, meinen letzten Beitrag zu löschen. Anscheinend habe ich ihn editiert...
Zuletzt geändert von Sinnpflanze am 25. Apr 2019, 22:49, insgesamt 1-mal geändert.
Wiedererholtes Herz ist das bewohnteste.
Rainer Maria Rilke
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von esperanto2015 »

Ich hab jetzt nicht alles gelesen, aber ich hab mal etwas aufgeschnappt dass sinngemäß etwa so ging:
Alles Schöne in der Welt, kann man nur durch die Augen anderer wahrnehmen.

Von daher ist die Isolation der wie ausgesetzt sind nicht nur ein Symptom, sondern auch Verstärker und Mitverursacher unserer Leiden.

Einen einfachen Ausweg kenne ich leider auch nicht.
Die grössten Menschen sind die, die anderen Hoffnung geben.
lt.cable
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von lt.cable »

Ahoi!

Vorab: Längere Reaktionszeiten sind bei mir völlig normal. Etwas nicht konsequent zu verfolgen (oder zu Ende zu bringen) ist mir selbstverständlicher geworden als das Gegenteil davon.

Die angesprochene Widersprüchlichkeit meines Selbst hinsichtlich der Isolation ist mir manchmal bewusst, aber arbeiten im Sinne eines Fortschritts kann ich damit bislang noch nicht. Gemeint habe ich, dass andere Menschen mir schon Gutes wollen (und auch Kontakt), aber ich will seit Jahren immer weniger. Gewalterfahrungen, schwere Traumata oder ein Alkoholismus der Eltern spielen bei mir - zum Glück - nicht mit rein. Vielmehr habe ich mich nach Enttäuschungen auf dem Lebensweg und damit ausbleibender vorzeigbarer Erfolge immer mehr selbst eingeigelt.

Gestern fragte mich eine Cousine auf einer Geburtstagsfeier bloß, ob ich meinen Geburtstag Anfang Mai feiern würde. Was für eine unangenehme Frage im kleinen Kreis der Familie. Habe ich seit Jahren nicht mehr, werde ich dieses Jahr wohl auch nicht tun. Es gibt in meinem Empfinden nichts zu feiern und am liebsten wäre es mir, wenn der entsprechende Tag ohne große Wortmeldungen von außen, ja vielleicht sogar ohne jede Erwähnung über die Bühne ginge. Schnell das Thema wechseln.

Verstehen kann das kein halbwegs normal denkender Mensch. Mir selbst scheint meine Reise durch das Leben reichlich eigenartig zu sein. Andere machen allerdings - so vermute ich - gar nicht so viel falsch oder lehnen mich tatsächlich ab. Mein Empfinden, meine Wahrnehmung und Interpretation der Welt ist verzerrt und deswegen wird, denke ich, bei mir auch die Arbeit beginnen müssen, die letztlich irgendwann diese Grundanspannung in jeder sozialen Situation, die es früher einmal nicht gab, auf ein besseres Lebensgefühl zurückführt.

Es grüßt
lt.cable
Ein Nilpferd wollte zum Ballett
als schönster aller Schwäne.
Nur war es fürs Ballett zu fett.
So scheitern viele Pläne.
- Charles Lewinsky
fatrate
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von fatrate »

:arrow:
Zuletzt geändert von fatrate am 27. Aug 2019, 05:32, insgesamt 1-mal geändert.
Sinnpflanze
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Sinnpflanze »

fatrate hat geschrieben: Es gibt und gab auch in meinem Leben Tage, da droht(e) wirklich alles zu zerbrechen.
An solchen Tagen könnte ein lebensgroßer Brachiosaurus neben mir in den Bäumen grasen und ich würde ihn nicht bemerken. :)
Kenne ich.

Wobei ich es extrem anstrengend finde, wenn ich schwer depressiv mit jemandem einen Spaziergang mache, und das Gespräch ständig von Kommentaren a la: "Guck mal, ein Schmetterling!" oder "Oohhh - die For-sy-thi-en!" oder "In der Sonne braucht man keine Jacke mehr" oder "Die Gänse haben schon wieder Nachwuchs" unterbrochen wird.

Ich weiß schon, was mein Gehpartner damit bezweckt - meine Wahrnehmung auf die Gegenwart zu lenken, mich auf Schönes aufmerksam zu machen. Er meint es auf jeden Fall gut (und braucht vielleicht auch einfach mal eine Pause von all der Schwermut.)

Aber ich denke dann trotzdem: "Ja-ha! Ich habe den Schmetterling ja gese-hen! Aber der kann meine Probleme auch nicht lösen. Die Gänsebabies ebensowenig." Und: "Die Forsythien knallen zu sehr ins Auge."

Gleichzeitig fühle ich mich schlecht, weil ich so undankbar bin.

Alles zu seiner Zeit.
Wiedererholtes Herz ist das bewohnteste.
Rainer Maria Rilke
Sinnpflanze
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Re: Tabu soziale Isolation - und d. verhängnisvolle Teufelsk

Beitrag von Sinnpflanze »

Jedes halbwegs gesunde Kind würde genau so empfinden, wenn es Kummer hätte.
Nur: Es wäre ihm vollkommen schnuppe, dass ihm der Schmetterling gerade völlig egal ist.
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