offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

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jettobrasil
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Registriert: 30. Nov 2005, 14:50

offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von jettobrasil »

Hallo Ihr. ICh hatte letzte woche eine interessante erfahrung... Ich war auf studienfahrt mit der uni und es war richtig schön, wir waren eine woche in der schweiz um uns ein performance festival anzugucken. Naja aber was ich erzählen will ist, dadurch dass man viel zeit miteinander verbracht hat, haben wir natürlich viel zeit zum reden gehabt und durch die entspannte atmosphäre einer fahrt fiel es leichter mehr zu erzählen als sonst. In dieser Stimmung habe zwei mal unbedacht geplapert und meine Mitmenschen (glaube ich) leicht geschockt. An einen Tag fragte mich die Dozentin warum ich im letzten Semester Ihr Seminar gegickt habe und ich antwortete ganz offen ich hatte eine schwere depression. An eine anderen Tag entstand eine eher philosophische Diskussion über Selbstmord, es ging darum ob Selbstmord eine Art letzte Freiheit ist. Ich habe lange nur zugehört, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr und ich dachte ich muss was sagen, das ist doch alles qwatsch! Dann sagte aus dem Bauch raus, ich wäre schon an dem Punkt gewesen es zu tun und das es nichts mit Freiheit zu tun hat sondern viel mehr die Unausweichlichkeit der Krankheit, dass man nicht fähig ist eine andere Lösung zu sehen, und das ist schrecklich traurig! Es waren natürlich alle total überfordert und ich wollte nur verschwinden vor Scham. Diese beide Ereignisse lassen mich nicht mehr los. Was ist der beste Umgang damit? Immer wieder die Beinbruch Ausrede zu benutzen? Ich habe es satt mir Sachen auszudenken und die Tabus anderer aufrechtzuerhalten. Wieviele Menschen leiden an psychische Krankheiten? Warum darf man nicht darüber reden? Warum ist mein Leiden weniger berechtigt und akzeptiert als eine blöde Erkältung?
Habt ihr solche Erfahrungen schon gemacht? Wie geht ihr damit um?
Liebe Grüße Lain
wann trifft die seele die wahrheit?
tomroerich
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Registriert: 13. Feb 2003, 09:52
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Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von tomroerich »

Hallo Lain,

meine Meinung ist, in einem Satz zusammengefasst: Sei offen, solange es dir gut tut.
Offenheit ist natürlich zwiespältig, viele Menschen reagieren darauf mit Hilflosigkeit, sie wissen nichts zu so schweren Themen zu sagen. Andererseits leistet du einen Beitrag, das Tabu abzubauen. Wenn man bedenkt, dass sich jedes Jahr mehr Menschen das Leben nehmen als es Verkehrstote gibt und man vergleicht, wie präsent diese Tatsachen in der Öffentlichkeit sind, dann sieht man klar, wie sehr die Schattenseiten der Gesellschaft verdrängt werden.

Du scheinst ja auch ein Bedürfnis zu haben, dich zu outen und das finde ich sehr verständlich, ich hatte das auch. Man will eben auch mit diesem Problem anerkannt und akzeptiert sein und will wissen, wie man vor anderen damit dasteht. Ich bin sehr dafür, sich zu outen, aber man muss eben auch mit dem peinlichen Schweigen klarkommen können.

Grüße von

Thomas
Betroffene für Betroffene

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Stollentroll
Beiträge: 243
Registriert: 16. Jul 2003, 14:50

Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von Stollentroll »

In solchen Situationen finde ich mich auch ständig wieder. Jeden Mittwoch treffe ich mich mit ehemaligen Arbeitskollegen und wurde gebeten doch ein bischen von meiner jetzigen Situation zu berichten, was für Pläne ich habe und wie es mir generell so geht. Bisher habe ich mich immer stark zurück gehalten. Aber diesmal hatte ich die Schnauze voll davon, dass ICH ständig Rücksicht nehmen musste, um die Stimmung nicht zu verderben. Also habe ich angefangen von meiner aktuellen Situation zu erzählen und wurde nach Strich und Faden fertig gemacht. Andere Leute haben auch Probleme und jammern deswegen nicht rum und ich solle froh sein, dass der Sozialstaat mich durchschleppen wird wenn ich in 3 Monaten meinen Arbeitsplatz verliere und wie man nur so dämlich sein kann sich das Leben nehmen zu wollen, als ob das eine wünschenswerte Option meinerseits wäre.

Ob Freundeskreis, Familie oder Arbeitgeber, überall muss ich mich rechtfertigen, was dazu führt, dass ich lieber meine Klappe halte. Das "ermüdend" aus der Überschrift trifft es ganz genau. Am Anfang habe ich viel gekämpft und versucht Aufklärungsarbeit zu leisten, aber die Wenigsten haben sich die Mühe gemacht überhaupt zuzuhören oder es wurde nicht vorhandendes Verständnis geheuchelt, bis hin zu aggressiven Ausbrüchen war alles dabei. Mittlerweile bin ich müde, einfach nur noch müde und wie sagte schon Bernd das Brot: "Alles wird wie immer, nur schlimmer".

Entnervte Grüße vom
Stollentroll
BeAk

Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von BeAk »

Liebe Lain,

ich finde Du hast gut und richtig reagiert. Wenn die anderen nicht mit der Realität umgehen können, haben sie ein Problem und nicht Du.
Anders sieht es aus, wenn Du von höheranigen wegen Deines Tabubruches abgestraft werden könntest. Es also zu erwarten ist, das sich outen sehr negative Folgen haben wird.
triste
Beiträge: 1061
Registriert: 22. Jun 2003, 16:38

Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von triste »

Hallo,
ich denke, man sollte offen sein, wenn man es möchte, aber nur bei Menschen, die eine Art Durchlässigkeit und Sensibilität besitzen.
Ich habe mich in der Firma geoutet, (was auch nicht anders ging, weil ich immerhin 2,5 Jahre krank war) und von dort hat keiner auch nur einmal nachgefragt, was Depression eigentlich bedeutet, wie es mir damit wirklich ging, etc. ! Das fand ich insofern erstaunlich, als ich sicher neugierig wäre, wenn ein Kollege so lange fehlt. Es ging auch einmal um Suizid, ich machte eine Bemerkung dazu, dass die meisten Suizidalen kaum eine Wahl haben, weil das Leid so unbewältigbar ist. Darauf nur betretendes Schweigen.
Anhand dieser und anderer Reaktionen habe ich für mich festgestellt, dass die Menschen es nunmal lästig finden, sich mit fremdem Leid zu befassen. Und dass sie schlichtweg eigene Sorgen haben. Es ist vielleicht damit zu vergleichen, dass man eigentlich auch nicht so genau wissen will, wie eine Krebserkrankung im Detail abläuft. Bis es einen selbst trifft.
Für mich war es wichtig, mich zu outen, weil ich damit meine Selbstakzeptanz unterstützt habe, diese Krankheit als einen Teil von mir anzunehmen, also gewissermassen: zu mir zu stehen, auch in der Öffentlichkeit.
Ich bin absolut für Aufklärung, um das Stigma "psychische Erkrankung" abzubauen. Aber ich tue es mir nicht mehr an, phantasielose, uninteressierte Menschen damit zu behelligen. Man darf auch nicht zuviel von anderen erwarten...ich weiß nicht, wie ich vor der Krankheit auf dieses Thema reagiert hätte...vielleicht hätte ich auch weggeschaut.
Also lain, Thomas hat es schon ganz richtig gesagt: Tu´, was Dir guttut. Und wenn Du aufklären willst, dann erwarte nicht zu viel Verständnis.
Und Stollentroll: Solche Reaktionen auf Dein geschildertes Leid finde ich so unglaublich roh und dumm, dass ich mir vermutlich ernsthaft überlegen würde, mit den Betreffenden überhaupt noch Kontakt zu halten.
Man kann sich ansonsten auch damit trösten: "Warte nur, einmal trifft es Dich auch, und dann weißt Du, wovon ich sprach".
(Nicht, dass ich ernsthaft jemandem wünschen würde...


Gruß,
Virginia
Anthony
Beiträge: 10
Registriert: 18. Dez 2005, 17:51

Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von Anthony »

Ein paar Worte von mir dazu: Versuche herauszufinden zu wem du offen sein kannst, so habe ich es jedenfalls gemacht. Eines muss man sich auch als Depressiver klar machen: viele Menschen sind damit überfordert. D.h. Ablehnung ist bei ihnen einfach ein Selbstschutz. Wie schon gesagt "wollen sie das Leid anderer nicht hören", aber oftmals nicht aus Ignoranz, sondern, weil sie selbst damit nicht umgehen können und es ihre eigene Situation verschlechtert, ohne selbst etwas beitragen zu können.

Es gibt nicht viele, die sich ein großes Problem anderer anhören können, ohne selbst zu leiden und evtl. auch nur hilflos zu sein. Menschen die das können sind Therapeuten-Kandidaten

Auf der anderen Seite ist natürlich auch das Unverständnis oder Mißverständnis, wer kann sich schon in einen Depressiven hineinversetzen, wenn er es selbst nicht erlebt hat.

Also meine Empfehlung wäre, ausgewählten Personen die Wahrheit zu sagen, denn dann hast du die Chance auch etwas zurückzubekommen und evtl. 1 oder 2 zu finden, die dich wirklich verstehen.
BeAk

Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von BeAk »

Wenn aber schon eine Diskussion über den Suizid als freie Entscheidung des Menschen geführt wird, kann man durchaus auch die eigene, durch Erfahrung gereifte, Meinung kund tun.

Und auch der Professorin auf Nachfrage den waren Krankheitsgrund nennen.
lunasol
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Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von lunasol »

herbstsonne
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Registriert: 15. Jan 2005, 23:50

Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von herbstsonne »

Hallo Lunasol,

Die Frage ist schon spannend: Meistens sage ich, dass ich mir alleine helfen muss - und bedanke mich.
Wenn ich aber sehe, dass es jemanden schlecht geht und ich dann die Frage stelle, höre ich mir erstmal die Antwort an und biete dann meistens einen konkrete - pragmatischen Hilfevorschlag an. Oder aber ich sage, dass ich nicht helfen kann, denjenigen dann aber drücke, um ihn zu stärken und zu zeigen, dass derjenige nicht allein ist.
Und genau dies, wünsche ich mir auch von anderen, aber ich erwarte es nicht.
Lieben Gruß Antje


Liebe Grüße Antje
Mittwochsdepri
Beiträge: 48
Registriert: 4. Dez 2005, 06:46

Re: offen sein, ausreden finden, ach ist das ermüdend.

Beitrag von Mittwochsdepri »

Hallo Lain,

spannende Diskussion, die du da angeregt hast...

Ich war knapp 2 Monate wegen Burnout krank geschrieben - dann drängte mich mein Neurologe mehr oder weniger, wieder arbeiten zu gehen. Vorher hatte ich auch mit meiner PT besprochen, was ich auf Arbeit erzählen werde - man fühlt sich ja irgendwie in Erklärungsnot.

Variante A: Ich sage die Wahrheit. Dann muss man mit viel Unverständnis rechnen - und damit ist man selbst vielleicht noch überfordert...

Variante B: Ich sage gar nichts - außer: Ich war krank.Punkt. - Das öffnet Spekulationen Tür und Tor. Hält man vielleicht auch nicht so gut aus.

Variante C: Man sagt die "Halbwahrheit" - so was von Erschöpfung, zu viel Arbeit, desolates Immunsystem etc. Kennt wahrscheinlich jeder - und kann es auch nachvollziehen.

Variante D: Man lügt. Es gibt genügend Krankheiten, bei denen man längere Zeit krank ist und es vielleicht auch Rückfälle geben kann (Myokarditis, Autoimmunkrankheiten...). Nicht jedermanns Geschmack - aber wenn man selbst noch nicht so weit ist, unerwünschte Gegenreaktionen auszuhalten, vielleicht ein Weg.

Variante E: Man wählt aus - vertrauenswürdigen Personen schenkt man reinen Wein ein - und für den Rest sucht man eine der o.g. Varianten aus.

Ich habe mich bisher für Variante E entschieden - habe selbst meinen Eltern bisher nicht die Wahrheit gesagt - und zwar, weil ich SIE und MICH schützen will.

SIE, weil sie 300 km von mir weg wohnen und mir tatsächlich nicht helfen können - sie würden Burnout und Depression eh nicht verstehen - warum soll ich die alten Leute damit belasten? Es ist der lebenslange "Job" der Eltern, sich um die Kinder zu sorgen - ich werde es ihnen nicht ausreden können...
Und MICH, weil meine Eltern (zumindest jetzt im Alter - war das früher auch schon so, und ich habe es nicht bemerkt?) immer sehr negativ an alles rangehen - sie wären mit dieser Krankheit überfordert.Es tut mir nicht gut dieses "Kind, was soll nur aus dir werden...?" - denn DAS würde GARANTIERT kommen. Ich habe darauf im Moment keine Antwort, die meinen Altern "gefallen" würde. Und auf diese endlosen Erklärungsversuche habe ich keinen Bock. Und ihre Sorge wäre für mich eine zusätzliche Belastung, die ich im Moment nicht ragen kann und will.

Ergo: jeder muss selbst wissen, was er sich und anderen zumuten WILL und KANN. In meiner jetzigen Situation will und muss ich mich vor allem selbst schützen. Wenn ich auf meinem Weg schon voran gekommen bin - dann habe ich vielleicht mehr Mut zur Wahrheit. Das wird die Zeit bringen...

Grundsätzlich ist es schon richtig - warum sollen die Psychisch Beeinträchtigten in ihrer Krankheit nicht genauso behandelt und respektiert werden, wie andere Kranke eben auch. Um das in der Öffentlichkeit aber herzustellen, bedarf es Kraft, Ausdauer, Mut... Eigenschaften, die bei mir im Moment verschüttet sind. Ich fühle mich daher im Moment nicht aufgerufen, diesen Kampf zu führen. Brauche alle Energie für die Bewältigung der Depression.

Ich denke, jeder spürt, was der "richtige" Weg für ihn ist - und der kann sich ja ändern, nach der nächsten Wegbiegung...

Grüße von der Mittwochsdepri

P.S. Bin seit Sommer wieder krank geschrieben - und im Moment kümmert es mich wenig, was die auf Arbeit davon halten. Im Moment brauche ich Distanz dazu - und meine Energie für was anderes.
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