Zeiten der Krise im Nachhinein noch nachvollziehbar ?

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Tigerchen321
Beiträge: 21
Registriert: 15. Dez 2004, 14:58

Zeiten der Krise im Nachhinein noch nachvollziehbar ?

Beitrag von Tigerchen321 »

Hallo Ihr Lieben !

Ich war von Februar bis August wegen einer schweren rezidivierenden Depression in der Klinik. Jetzt geht es mir so weit gut, daß ich mein Studium fortsetzen kann und einigermaßen über die Runden komme. Allerdings holen mich ein paar Erlebnisse mit der Depression immer wieder ein:

Als ich noch in der Klinik war, durfte ich nach einiger Zeit raus in den Garten. Ich war fest entschlossen meinem Leiden ein Ende zu setzen und rannte raus auf die Straße. Eine Mitpatienten hat mich in letzter Sekunde gerettet und ich fand mich völlig aufgelöst wieder auf der Station.

Ein anderes Mal, ich konnte einfach nicht mehr, habe ich auf dem Flur geschrien, habe am ganzen Körper gezittert, mein Kreislauf war durch die Aufregung total durcheinander. Einige Ärzte waren der Meinung, daß dies in der Behandlung ein herber Rückschritt sei, andere waren froh, daß ich mich nach monatelanger Starre wieder zur Wehr gesetzt habe. Ich sollte mich hinlegen und beruhigen, der Arzt hat immer meine Hand genommen und gesagt, ich solle nicht den Mut verlieren.

Beides Mal konnten mich nur noch starke Beruhigungstabletten wieder "runter" bringen .

Mich lassen diese Erinnerungen einfach nicht los. Mir ist das alles so peinlich, obwohl es zu der Erkrankung gehört. Am Meisten macht mir zu schaffen, daß ich das Erlebte im Nachhinein gar nicht mehr nachvollziehen kann. Was, um alles in der Welt hat mir das Leben so wertlos erscheinen lassen ? Es hat sich doch an der äußeren Situation nichts geändert. Alles, was sich geändert hat, sind die Einstellungen zu den Dingen. Warum waren diese anders als jetzt ? Es kommt mir so vor, als hätte ich da einen Blackout gehabt, als wäre ich für einige Stunden nicht ganz bei Sinnen gewesen.

Hat jemand ähnliche Erfahrungen gemacht mit solchen psychischen Ausnahmesituationen ?
Zur Beschreibung fand ich den Film "Liebe Amelie", der letzte Woche auf ARD lief ganz nett:" Ich fühle mich wie ein innerlich toter Haifisch, dem das Wasser durch seine Kiemen getrieben wird, um ihn noch weiter am Leben zu halten."

Gruß
Stephanie
AvantGarden
Beiträge: 182
Registriert: 11. Nov 2005, 17:11

Re: Zeiten der Krise im Nachhinein noch nachvollziehbar ?

Beitrag von AvantGarden »

Hallo Stephanie,

bin neu hier und hab grad meinen ersten Beitrag geschrieben und möchte nun auf Deinen antworten, weil ich das sehr gut nachvollziehen kann.
Als ich im letzten Jahr an Depressionen litt, hatte ich deswegen auch wahnsinnige Schuldgefühle. Vor allem im Nachhinein. Ich war zwar in keiner Klinik und mein Krankheitsbild ist auch in keinster Weise mit Deinem zu vergleichen, aber ich habe mich für meine Tränen (und es sind viele geflossen. Jetzt geht es bei mir so langsam wieder los - s. meinen Beitrag) geschämt und für meine Lethargie. Es sind sogar Freundschaften daran zerbrochen, obwohl ich mittlerweile der Meinung bin, dass das eh keine richtigen Freunde waren.
Ich denke aber, dass das zum Krankheitsbild gehört. Das "Schämen danach" ist glaub ich auch ganz normal. Für extreme Verhaltensweisen schämt man sich doch immer - egal, ob man jetzt sturzbetrunken irgendwas Ausgeflipptes gemacht hat oder ob man solch eine Krankheit hat, die das Wesen eines Menschen verändert. Ich bin eigentlich auch ein lustiger, lebensbejahender Mensch, aber seit meiner Depression im letzten Jahr habe ich mich auch verändert. Sicher, damit muss man klarkommen, aber man sollte das auch für sich positiv nutzen. Auch, wenn mir das momentan wieder sehr schwer fällt.

Mach Dir nicht zuviele Gedanken über das was passiert ist, sondern versuch, nach vorne zu schauen und aus Deinem Leben alles rauszuholen, was geht.

Viel Glück.
** Jeder Tag ohne Lachen ist ein verlorener Tag (Charlie Chaplin) ""
Bellasus
Beiträge: 1628
Registriert: 10. Jun 2004, 21:41

Re: Zeiten der Krise im Nachhinein noch nachvollziehbar ?

Beitrag von Bellasus »

Hallo Stephanie,

wie gut, dass es dir inzwíschen so viel besser geht!

Diese extremen Krisen sind Bestandteil der Krankheit, und zu der Zeit war es für dich so schlimm, aber es ist vorbeigegangen. Den Gedanken, einfach blindlings über die Straße (am besten eine 6-spurige) zu rennen hatte ich letztes Jahr auch, bin aber schön in meinem Bett geblieben.

Bist du weiterhin in ambulanter Therapie? Das wäre dann doch der beste Rahmen, diese Dinge aufzuarbeiten.

Ich war letztes Jahr 3 Monate in der Klinik und habe auch einmal ziemlichen "Aufstand" veranstaltet, als ich plötzlich überhaupt keine Kontrolle mehr über meine Gefühle und Reaktionen hatte, kurz vorm mich-auflösen war. Das Gefühl, wie das war, ist mir heute noch sehr präsent, aber langsam verblaßt es, und das nach fast 1,5 Jahren! Peinlich ist es mir nicht, ich weiß dass ich damals nicht anders konnte.

Laß dir Zeit, seit August ist ja noch nicht lange her und du bist schon wieder am Studieren, da hast du dich wirklich sehr schnell erholt. Und wenn die Erinnerungen noch sehr stark sind, dann ist das doch ganz normal. Rede drüber, wenn es dir hilft, und vertrau darauf, dass es weniger wird. Ich hätte letztes Jahr nie gedacht, wie lange das alles braucht, aber dagegen ankämpfen bewirkt eher das Gegenteil. Bin immer noch AU und mache nächstes Jahr eine berufliche Reha.

Alles Liebe Dir
Annette




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dilara
Beiträge: 9
Registriert: 8. Nov 2005, 20:11

Re: Zeiten der Krise im Nachhinein noch nachvollziehbar ?

Beitrag von dilara »

hallo stefanie,
ich hatte meinen tiefpunkt vorfast 3 jahren. ich habe da auch dinge getan, die für mich heute nicht mehr nachvollziehbar sind. als erstes sollte es dir nicht peinlich sein, dass du diese ausbrüche hattest, schliesslich warst du ja in der klinik, damit du dein leben wieder in den griff bekommst. du musst dir immer sagen, das ist vorbei, es ist nochmal gut gegangen und das leben ist lebenswert. ich bin zwar immer noch nicht geheilt, aber ich kann inzwischen schon wieder sagen, dass das leben schön ist. und ich habe voriges jahr geheiratet und mein baby wird weihnachten ein jahr. es geht also aufwärts

liebe grüsse katrin
Tigerchen321
Beiträge: 21
Registriert: 15. Dez 2004, 14:58

Re: Zeiten der Krise im Nachhinein noch nachvollziehbar ?

Beitrag von Tigerchen321 »

Hallo Ihr 3 !

Ich möchte Euch herzlich danken für Eure Antworten. Ich fühle mich nun nicht mehr so allein, weil ich weiß, daß es Euch auch so ergangen ist. Meine Lieben sagen immer:" Jetzt guck mal nach vorne, das ist jetzt was zählt". Aber ich habe das Gefühl ich kann nur nach vorne, wenn ich das Alte hinter mich gelassen habe. Daß man dazu Geduld braucht, ist mir nach Euren Beiträgen sehr verständlich geworden.

Vielen, vielen Dank
Stephanie
Tini62
Beiträge: 17
Registriert: 18. Nov 2005, 08:20

Re: Zeiten der Krise im Nachhinein noch nachvollziehbar ?

Beitrag von Tini62 »

Hallo Stephanie,
also bis der Aufenthalt verblasst, dass dauert. Ich war 1999 bis 2000 5 Monate in der Psychiatrie, Diagnose: schwere depr. Episode. Nach dem ich entlassen wurde liefen so viele Situationen aus der Klinik immer noch in meinem Gehirn ab. Ich dachte ich spinne. Nur nach einiger Zeit war es wirklich weg. Natürlich kann, wenn ich heute daran denke, immer noch Situationen hervorrufen, aber die Bilder tauchen nicht mehr Zwanghaft auf.
Gib Dir einfach Zeit.
Gruß Tini
Dendrit
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Registriert: 23. Mai 2003, 11:14
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Re: Zeiten der Krise im Nachhinein noch nachvollziehbar ?

Beitrag von Dendrit »

*Schluck* Also, ich hoff, dass das nicht so lange dauert. Jetzt bin ich 11 mon daheim und manches kommt auch noch hoch. Gut, ich war zwar am ausrasten, bin es aber nicht. Wär vielleicht manchmal gut gewesen, wenn ich es mal getan bzw. gekonnt hätte. Ja, vieles ist so wie ein Traum - nicht vorstellen können, dass dies und jenes Realität war, wie man nur so empfinden konnte ... Peinlich? Vor Betroffenen (hier im Forum oder im unmittelbaren Umfeld) nicht, diese wissen meist aus Erfahrung, was man meint. Wenn Nicht-Betroffene das nicht verstehen und: "Es wird schon wieder", "bist doch schon so lange aus der Klinik", "kann ich mir gar nicht vorstellen, du siehst doch ganz normal aus" ... komm ich mir schon bescheuert vor.

Ich wünsch Dir bzw. Euch alles Gute!

Manuela
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