innerlich auf der Flucht

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Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Hallo,

das ist ungefähr mein 12. Versuch, einen Anfang zu finden…
Also ich bin Ele, weiblich, 41 – ja der eineiige Zwilling – lese schon lange hier, in letzter Zeit oft, wollte aber bisher nie etwas zu meiner persönlichen Geschichte schreiben. Aber ich wünsche mir Rat und Unterstützung und fürchte, das geht nicht, ohne zumindest einen kurzen Einblick. Vor kurzer Zeit schrieb ich noch, dass es mir gut geht. Stimmte auch… So und jetzt weiß ich schon wieder nicht, wo ich anfangen soll. Mein Vater war Alkoholiker, worüber meine Familie nie sprechen will. Er trank am Ende 1 Flasche Weinbrand am Tag, ohne dass ich ihm etwas angemerkt hätte. Er war sehr oft traurig, das habe ich eher gespürt. Als ich 4 Jahre alt war, fing mein Opa an mich zu befummeln. Mein Vater wusste davon, meine Mutter hat auf meine hilflosen Versuche ihr davon zu erzählen nicht reagiert und meine Oma auch nicht. Meine Schwester habe ich nie eingeweiht, denn sie war meine kleine Schwester, die ich schützen wollte. Seit Jahrzehnten fühle ich mich wie aus der Erde gerissen, bin innerlich losgerannt um zu flüchten, habe verdrängt, verdrängt, verdrängt – bis zum Zusammenbruch. Eine VT hat mich eine kurze Zeit stabilisiert. In meiner Psychoanalyse ist es mir erstmals gelungen, viele alte Gefühle überhaupt aufzudecken, zu trauern und irgendwie zu integrieren. Ich arbeite schon viele Jahre an meiner Geschichte und dachte bis vor kurzem, dass ich das Schlimmste nun endlich überstanden habe. Weil ich nun meine Geschichte kenne, weil ich sie noch nicht ganz aber zum Teil akzeptieren kann. Weil ich mit meinem Mann, meinen Freunden und meiner Therapie nicht alleine damit bin.
Und jetzt ist es warm und sonnig draußen und alles kehrt zurück. Ein „falsches“ Geräusch, eine Stimme, die mich erinnert, ein Geruch, ein Kinderkleidchen, dieses ewige Saufen in fast jedem Film, der blaue Himmel – es ist kaum auszuhalten. Seit Wochen träume ich Nacht für Nacht, schrecke schweißgebadet hoch und finde keine Ruhe mehr. Tagsüber jage ich durch den Tag, finde nur für kurze Momente Ruhe. Mir geht die Kraft aus. Ich habe mit meinem Therapeuten darüber gesprochen – letzte Woche – weil ich Angst davor habe, wieder auf einen Zusammenbruch zuzusteuern. Ich habe auch mit meinem Arzt gesprochen, der es gut fand, dass ich mich bei ihm gemeldet habe. Mein AD wurde erhöht, ich nehme 1 Stilnox zum Schlafen und bei Bedarf Atosil. So und nun habe ich mein Sicherheitsnetz um mich herum aufgespannt und – bin genauso unruhig wie vorher. Ich traue mir nicht, schleiche in Gedanken um den Wunsch mich zu betäuben. Ich habe mir nach meiner letzten sehr ernsten Krise eine Art Überlebenskarte geschrieben und mir versprochen, diese Karte auch einzusetzen. Demnach müsste ich in die Klinik gehen, eben weil ich mir nicht mehr traue, sozusagen nicht mehr garantieren kann, dass ich die augenblickliche Phase ohne Schaden überstehen, so sehr ich das auch will. ABER, ich will das überstehen und nicht schon wieder alles, was ich mir in den letzten Monaten so mühevoll aufgebaut habe, verlieren. Ich möchte weiter arbeiten – das ist im Moment das einzige, was mich irgendwie ablenkt. Bei meiner Arbeit fühle ich mich sicher, auch wenn sich das vielleicht komisch anhört.
Entschuldigt bitte, ist viel geworden. Könnt Ihr mir helfen, diese Phase zu überstehen oder mir einen Rat geben. Alles, was ich gelernt habe, um mich zu entspannen oder aus bestimmten Mustern auszusteigen, scheint nicht zu funktionieren. Habe ich das überhaupt noch selber in der Hand?

ele
Wolfi2
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Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Wolfi2 »

Hallo Ele,
ich wurde als Kind ebenfalls sexuell missbraucht (bin 47, männlich) und arbeite am bittere Tränen Projekt des Lumen-Verlages Freiburg mit. Dort schrieben Missbrauchsopfer und es erschienen schon mehrere Bücher. Wäre das etwas für dich?
Ratschläge zu geben ist immer scher, wei du hast sicherlich, wie ich schon vieles ausprobiert.
liebe Grüsse
Wolfi
Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Hallo Wolfi,

vielen Dank für Deine Antwort.
In meinem Kopf vermischt sich mein halbes Leben. Ich habe den Überblick verloren, ob der Mißbrauch überhaupt das Thema ist. Aber...ja - vielleicht wäre das etwas. Zumindest tut mir das Schreiben gut. Wäre schön, wenn Du mir mehr darüber berichten könntest bzw. mir sagst, wo ich mehr Infos bekommen kann.


Lieben Gruß und gute Nacht,
ele
LB
Beiträge: 70
Registriert: 7. Mai 2005, 20:29

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von LB »

Hallo ele,

ich bin 38, weiblich und hab eine ähnliche Lebensgeschichte wie du. Mir hat zu den Zeiten, wo mir gerade durch die analytische Therapie die Vergangenheit hoch kam - dann wiederum die Therapie geholfen. Ich meine ich hab bei Gefühlen des überrollens, übermannt werdens sofort meinen Therapeuten angerufen und dadurch wieder Abstand gefunden. Eine analytische Therapie mit solch einer schlimmen Vergangenheit ist heftig und kann manchmal an deine Grenzen gehen. Dass du momentan "flaschbacks" hast und flüchten möchtest, ele das hatte ich auch, aber das geht auch wieder vorbei. Du hast ein stabiles Umfeld, das ist doch gut. Und wenn dir grad alles zuvielsein sollte, dann zieh dich ein wenig zurück. So ne Vergangenheit aufzuarbeiten kostet Kraft und Energie und man /frau braucht viel Mut. Trauerarbeit, das es eben so WAR, aber deine Vergangenheit. Akzeptanz. Und seh deine Gegenwart mit Familie, Freunde, was Du Dir geschaffen hast:-)Lass es zu, dass du halt im moment flüchten möchtest, wer würde denn bei/vor so ner Kindheit nicht weglaufen. Völlig ok, ele...

Ich hoffe meine Zeilen, meine Gedanken dazu können dir ein wenig weiterhelfen.

LG Leobiene
Wolfi2
Beiträge: 14
Registriert: 26. Mai 2005, 11:47

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Wolfi2 »

Hallo Ele,
mehr Informationen findest du unter www.bittere-traenen.de.ms/
Ansonsten glaube ich auch, dass du dir momentan nur Gutes tun solltest.
liebe Grüsse
Wolfi
Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Hallo Leobiene,

vielen Dank für Deine verständnisvollen und tröstenden Worte. Mittlerweile scheint die Phase der "flashbacks" abzuebben. Fühle mich innerlich ganz taub und unwirklich - aber das ist soweit okay. Die letzten Tage waren sehr schlimm, da ist die innere Betäubung eher willkommen.

Hast Du Dir den Rückzug in Dunkelheit und Depression immer erlaubt? Hattest Du keine Angst, dass Du gar nicht mehr auftauchen möchtest, je länger die wohltuende Ruhe um Dich herum ist?

Lieben Gruß,
Ele
Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Danke Wolfi,
für den Link und Deine Unterstützung. Dass ich mir nur Gutes tun soll, könnte von meinem Therapeuten sein. Du kennst bestimmt auch das Gefühl, innerlich so eingefroren zu sein, dass man gar nicht mehr unterscheiden kann, was schadet und was gut tut. Das Empfinden dafür ist "weg". Aber Du hast recht, aus Erfahrung weiß ich zumindest, was mir "normalerweise" gut tun könnte. Gut, dass Du mich daran erinnerst. Danke.

Liebe Gruß,
Ele
LB
Beiträge: 70
Registriert: 7. Mai 2005, 20:29

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von LB »

Liebe Ele,
nein ele, ich hab mir diese Rückzüge nicht so oft erlaubt, weil ich wusste, dass es auch immer wieder besser wird und wurde. (vor dem zu tiefen Rückzug hab ich immer Angst gehabt)Nur manchmal wenn ich diese brauchte, aber mit Kind und Job wars eh wenig möglich.
Um auf deine Gefühle einzugehen:
Son blöder Rückfall kann immer mal kommen, ist mistig, aber das wird wieder.
Ich gib dir mal ein Beispiel aus meinem Leben - dann fällt dir bestimmt auch was von dir ein, was du mal ganz tapfer durchgestanden hast.
Ich war im Urlaub und wollte Windsurfing lernen. Erster Tag mit Segel und Brett, fiel mindestens 20x ins Wasser. Immer wieder rauf aufs Brett und Segel einholen ..und ich sag dir das ist nicht leicht. Zweiter Tag 15 x, Dritter Tag 10x und am vierten Tag stand ich auf dem Brett und fühlte mich sicher.

Hilft dir das? Dir fallen bestimmt auch viele Sachen ein, die du schon geschafft hast.

*schick dir ein Kraftpaket und knuddel dich*
Leobiene
Wolfi2
Beiträge: 14
Registriert: 26. Mai 2005, 11:47

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Wolfi2 »

Hallo Ele,
wie wahr! Was tue i c h für mich? Na ja, zumindest habe ich es geschafft heute einen Termin für den kommenden September für einen vierwöchigen Klinikaufenthalt zu vereinbaren. War erst im April in der Klinik und das hat mit verdammt gut getan.
liebe Grüsse
Wolfi
Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Hallo Leobiene,

vielen Dank für das Kraftpaket und Deine "ich will surfen - Geschichte". Ja, solche Erlebnisse kenne ich auch, aber die fallen mir in solchen Momenten nicht unbedingt ein. Eher, dass es mir zwischendurch gut ging und mich dann irgendetwas total zurückgeworfen hat. Wieder alles vorbei, wieder von vorne anfangen. Ein destruktiver Gedanke - ich weiß.

Momentan habe ich wirklich ein schlechtes Gewissen, weil ich so mit mir beschäftigt bin. Da ist überhaupt kein Platz für andere Dinge, die um mich herum geschehen und sicher aktueller und dramatischer sind. Ich kann mich nicht darum kümmern, kann es nicht einmal ertragen, davon zu hören. Es ist wirklich eine Art Überlebenskampf und ich atme am Abend auf, wenn ich den Tag gemeistert habe. Selbst wenn ich das hier jetzt schreibe, habe ich Angst, jemanden damit runterzuziehen. Kennst Du das auch - diese schlechte Gewissen?

Lieben Gruß und einen schönen Tag
Ele
LB
Beiträge: 70
Registriert: 7. Mai 2005, 20:29

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von LB »

Liebe Ele,

ich glaube du brauchst im Moment einfach nur Ruhe - nimm sie dir! - ruhe dich aus und schreibe hier was dir deiner Seele liegt, ok?

Es ist nur ein Rückfall...nicht alles vorbei was du dir schon erarbeitet hast, du fängst nicht von vorne an, du bist nur grad mitten drin und das wird wieder, du kommst da auch wieder raus!

Ele, du brauchst keine Angst haben, dass du andere runterziehst. Dat ist ein Forum, ein geben und nehmen. Lass das schlechte Gewissen weg, ok?

*schick dir wieder ein Kraftpaket mit viel Sonnenschein*
Liebe Grüße
Leobiene
Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Liebe Leobiene,

Deine Worte taten sehr gut! Vielen, vielen Dank, auch für das neue Kraftpaket.

Ich würde gerne noch mehr darüber schreiben, was mich bedrückt, aber in meinem Kopf herrscht zu große Unruhe. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Gedanken- und Bilderflut in meinem Hirn stoppen kann (wie ein Diaprojektor, der nicht mehr anhält). Ruhe - ja, das wäre schön.

Ich würde Dir auch gerne etwas geben - vielleicht heute Nacht einen schönen Traum. Würde Dir das gefallen?

Lieben Gruß,
Ele
LB
Beiträge: 70
Registriert: 7. Mai 2005, 20:29

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von LB »

Liebe Ele,

einen schönen Traum - immer doch - wouh war ich gerührt, als ich das las..
Mal wegzukommen von den blöden Alpträumen. Hatte so ne Zeit, da waren meine Träume ganz ganz schlimm..
*danke*
Was du machen könntest gegen diese Gedanken -Bilderflut hmmm...da fällt mir schöne Musik hören ein, oder Phantasiereisen - autogenes Training, Entspannung in der Natur, ein Spaziergang, Malen, Basteln, Handarbeiten, irgendeine Beschäftigung die dir sonst Freude bereitet und dir hilft, schlafen, Kopf unter die Decke, aber auch mal wieder rausgucken..nach dem Motto:ich bin hier unter der Decke, aber ich komm auch wieder hervor:-), dann ein Schönheitsbad, voll relaxen, Tagebuch schreiben.

*schick dir viel Sonnenschein und denk an dich*

Liebe Grüße
Leobiene
Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Hallo Wolfi,

es ist schön, dass Du das mit der Klinik für Dich erreicht hast. Gut zu sich selber zu sein scheint manchmal so einfach und dann wieder fast unmöglich. Ich freu mich für Dich.

Inzwischen habe ich mich etwas über die "bitteren Tränen" informiert. Hattest Du auch das Gefühl, dass es trotz allem, was Dir widerfahren ist, ein Verrat an Deine Familie ist? Irgendwie scheint es mir unmöglich, Kontakt zu diesem Projekt aufzunehmen, auch wenn es mich sehr interessiert. Vielleicht sollte ich mich dafür aber auch erst einmal stabiler fühlen.

Liebe Grüße,
ele
Wolfi2
Beiträge: 14
Registriert: 26. Mai 2005, 11:47

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Wolfi2 »

Hallo Ele,
und ob, natürlich empfinde ich es als Verrat an der Familie aber ich habe auch eine Wut im Bauch, was mir meine Mutter antat. Ich beschloss mich nicht mit ihr auseinanderzusetzen. Ich glaube jeder entscheidet das für sich.
Dir geht es wieder ein bischen besser? Ich habe so das Gefühl, aber sollte ich micht täuschen wünsche ich dir, dass es ganz schnell wieder aufwärts geht.
liebe Grüsse
Wolfi
Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Hallo Wolfi,

mag sein, dass es den Anschein erweckt mir ginge es ein wenig besser. Ich habe mich bemüht, nicht zu viel darüber nachzudenken ... ist mir stellenweise auch gelungen. Ich glaube, das Schreiben hier im Forum hat mich sehr unterstützt.

Danke speziell Dir und Leobiene. Danke aber auch den anderen Mitlesern. Ich spüre, dass ich nicht alleine bin und weiß auch, dass ich mich wieder melden darf, wenn es mir schlechter geht.

Gute Nacht und schöne Träume,
ele
Wolfi2
Beiträge: 14
Registriert: 26. Mai 2005, 11:47

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Wolfi2 »

Liebe Ele,
fliege jetzt zwei Wochen in den Ulaub an die Algarve, melde mich aber dann ganz bestimmt wieder.
Dir alles gute und ganz viel Sonne und Unterstützung wo du sie brauchst.
herzliche Grüsse
Wolfi
Heckenrose
Beiträge: 243
Registriert: 31. Mär 2003, 16:31

Re: innerlich auf der Flucht

Beitrag von Heckenrose »

Wünsche Dir einen wunderschönen Urlaub.
Pass gut auf Dich auf.

Lieben Gruß,
ele
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