Neu hier & ziemlich verzweifelt

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Marielouise
Beiträge: 3
Registriert: 6. Sep 2024, 15:52

Neu hier & ziemlich verzweifelt

Beitrag von Marielouise »

Hallo in die Runde :hello:

Ich bin ganz neu hier im Forum & möchte euch kurz meine aktuelle Situation schildern.

Alles fing im Dezember 2010 an, als ich plötzlich "aus dem Nichts" einen schlimmen Tinnitus bekam. Unzählige HNO-Besuche, diverse Therapien (Cortison-Infusionen, Antidepressiva, durchblutungsfördernde Tabletten) brachten keine Linderung oder Hilfe. Ich trug monatelang Tinnitus-Noiser (vom HNO verordnet), um schlafen und ein bisschen besser "denken" zu können. Es folgten Physiotherapien, CMD-Behandlungen, Aufbiss-Schienen für Nachts, manuelle Therapie u.v.m. Organisch gibt/gab es keine zu erkennende Ursache (was nicht bedeutet, dass es keine gibt).

Es folgten in den Jahren immer wieder kleine und auch größere Hörstürze mit teilweise komplettem Hörverlust (rechtes Ohr) über Wochen/Monate. Das Gehör hat sich immer wieder erholt, der Tinnitus blieb konstant. Ich hatte immer wieder Tage, an denen das hochfrequente Flirren/Sirren etwas erträglicher (weil leiser) war & so hangelte ich mich einigermaßen durchs Leben und den Alltag.

2017 dann im Spätsommer kam die erste sehr heftige Depression. Angst begleitete mich vom Aufwachen bis zum Abend. Ich war vollkommen erschüttert, hatte ständig Panikattacken. Mich quälten schlimme Zukunftsängste, "Bilderblitze" (kurze & schmerzhafte Erinnerungen an bessere Zeiten in Form von Bildern vorm inneren Auge), Druck im ganzen Körper, Appetitlosigkeit, Schwächegefühl, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und der Wunsch, nicht weiterleben zu wollen. Dazu kamen der "Alltag", den ich kaum mehr bewältigen konnte. Vom Arzt bekam ich ein Medikament gegen Angstzustände, welches ich bis Heute regelmäßig nehme. Es wirkt mäßig, aber anders als SSRI macht es nicht abhängig. Hatte andere Medikamente getestet, unter denen es mir aber schlechter ging, daher das jetzt aktuelle Medikament.

Irgendwann im Laufe des Jahres 2019 lichtete sich der "Nebel im Kopf" und es ging mir langsam besser. Nur der Tinnitus blieb. Dann begann die Pandemie und ich war durch viele Dinge komplett abgelenkt von der Depression. Klingt blöd, aber mir hat diese Zeit irgendwie geholfen, mich weniger auf mich und mein Leid zu fokussieren. Ich erlebte zwischen 2019 und jetzt sehr viele schöne Dinge & hoffte, niemals wieder in so einer schweren Depression zu landen...

Im Juli 2024 erwischte mich Covid19 dann zum ersten Mal. Die ersten 36 Stunden lag ich komplett flach. Nach 4 Tagen spürte ich dann plötzlich wieder die schlimme Angst am Morgen. Der Tinnitus gibt keine Ruhe mehr, die erträglicheren Tage, die ich zuvor regelmäßig hatte, sind komplett verschwunden. Er ist nur noch laut, extrem hochfrequent und quält mich extrem. Aktuell bin ich wieder genau dort, wo ich 2017 bis 2019 war. Extreme Angst am Morgen (beginnt quasi "pünktlich" zwischen 7:30 und 8:00 (egal, ob ich dann schon wach bin oder noch schlafe). Dann folgen 1-2 Stunden "Dämmerzustand" im Bett mit "Bilderblitzen", Schweißausbrüchen im Wechsel mit Frösteln, Zukunftsängsten, Mut- und Hoffnungslosigkeit u.v.m. Irgendwann schaffe ich es dann, aufzustehen. Nach der Morgentoilette setze ich mich mit einer Tasse Kaffee auf die Terrasse und so verstreicht Stunde um Stunde mit immer wieder aufflammender Angst, viel Daddelei am Handy, Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung. Manchmal lichtet sich der Nebel kurz und ich kann kleine Dinge des Alltags erledigen, aber oft schaffe ich fast Nichts. Appetit bekomme ich wenn überhaupt erst spät Abends, wenn die Angstzustände ein wenig nachlassen. Später bin ich dann komplett erschöpft und schlafe ein. Am Morgen beginnt das "Spiel" von vorne.

Morgen hab ich einen Termin beim Hausarzt. Vielleicht hat er noch eine Idee, wie ich aus diesem Albtraum wieder heraus komme. Für mich ist mein schlimmer Tinnitus die Hauptursache für die Depressionen & nach fast 14 Jahren mit stetiger Verschlechterung habe ich die Hoffnung, dass der irgendwann mal weggehen wird, gänzlich verloren. Diese Hoffnungslosigkeit mündet in Sinnlosigkeit und letztlich in der Depression. Es macht mich fertig.

Danke an alle, die bis hierher gelesen haben. Ich hoffe, ich finde hier im Forum aufmunternde Gedanken und evtl. Tipps/Hilfe zum Umgang mit meiner Situation und der Depression.
Suchende2
Beiträge: 1418
Registriert: 29. Sep 2020, 08:05

Re: Neu hier & ziemlich verzweifelt

Beitrag von Suchende2 »

Hallo Marielouise,

herzlich willkommen im Forum.
Ich wünsche Dir einen guten Austausch.

Hast Du eigentlich schon mal Therapie gemacht?
Wäre das eventuell eine Möglichkeit für Dich?
Ich empfehle Dir den Thread Werkzeugkasten, da gibt es gesammelte Tipps.

Alles Gute,
Suchende
MySun
Beiträge: 661
Registriert: 4. Jul 2022, 09:45

Re: Neu hier & ziemlich verzweifelt

Beitrag von MySun »

Hallo Marielouise,
du könntest noch in Betracht ziehen, dass der Tinnitus die Depression maskieren kann.
So war es bei meinem Partner.

Die Diagnose Mittelschwere Depression bekam er vor einigen Jahren von Jürgen Horn Chefarzt
MEDIAN Klinik Berus - Fachkrankenhaus MEDIAN Klinik Berus -
Fachkrankenhaus Orannastr. 55 66802 Überherrn-Berus)

Thema: Psychische Komorbidität bei Tinnitus
https://www.thieme-connect.com/products ... op&lang=de

Ich wünsche dir für die kommende Zeit viel Kraft, Hoffnung und alles Gute
Höre auf deinen Körper und deine Seele.
Herzliche Grüße
MySun
"Viele Menschen sind zwar am Leben, berühren aber nicht das Wunder, am Leben zu sein.“-ThichNhatHanh-

Von Herzen
MySun
Marielouise
Beiträge: 3
Registriert: 6. Sep 2024, 15:52

Re: Neu hier & ziemlich verzweifelt

Beitrag von Marielouise »

Guten Morgen Suchende2 und MySun

Ich versuche, mal kurz auf eure Ideen/Fragen einzugehen.

Suchende2: Danke für den Tipp mit dem "Werkzeugkasten". Ich schaue da später mal rein. Ja, eine Therapie & viele Gespräche habe ich bereits durchlaufen.

MySun: Ich bekam 2018 offiziell die Diagnose "Chronisch revidierende Depression" (zu dem Zeitpunkt schwergradig). Ich habe seit Beginn des Tinnitus immer wieder Probleme gehabt, allerdings nie so schlimm, wie ab Spätsommer 2017. Daher auch erst 2018 die Diagnose. Ich habe eine Gruppentherapie speziell auf dekompensierten Tinnitus zugeschnitten gemacht (ambulant in einer Klinik) und hatte dort auch Einzelgespräche. Ich muss dazu sagen, dass ich mich sehr schwer damit tue (und getan habe), mein Gehirn quasi "zu betrügen" bzw. ihm klar zu machen, dass dieses wirklich heftige Geräusch ungefährlich ist, zu meinem Leben gehört usw. Ein Ausblenden war und ist - auch mit Hilfe von Maskern/Noisern nie möglich gewesen. Im Gegenteil. Maskiere ich ihn durch Tragen der Noiser, wird er noch intensiver/lauter.

Ich habe neben diesem ganz fiesen hohen Geräusch noch 3 andere Geräusche (hatte ich schon vor 2010), die ich nie als Belastung empfunden habe, die ich ausblenden kann & die überhaupt kein Problem darstellen. Die "Qualität" des fiesen Geräuschs macht es mir aber schlichtweg unmöglich, es "zu integrieren" und damit zu leben. Mein Gehirn (Amygdala) gerät durch dieses Geräusch völlig aus der Bahn und ich lande im "Kampf oder Flucht"-Modus. Das verursacht die Angstzustände. Ich fühle mich dem Geräusch komplett ausgeliefert, habe wahnsinnig Angst davor, noch 30 oder 40 Jahre damit (und mit den kontinuierlichen Verschlechterungen) "leben" zu müssen.

Aktuell probiere ich die Strategien, die ich in der Therapie erlernt habe, aber sie funktionieren in keiner Weise. Mein Gehirn weiß, dass der Tinnitus nicht mehr weggehen wird, weiß auch, dass "Ablenkung" (in welcher Form auch immer) das Problem nicht löst. Ich bin normalerweise ein lösungsorientierter Mensch, der Probleme "aus der Welt" schafft - das geht beim Tinnitus nicht und damit komme ich überhaupt nicht zurecht.
MySun
Beiträge: 661
Registriert: 4. Jul 2022, 09:45

Re: Neu hier & ziemlich verzweifelt

Beitrag von MySun »

Marielouise hat geschrieben: 9. Sep 2024, 09:48 Mein Gehirn weiß, dass der Tinnitus nicht mehr weggehen wird,
Liebe Marielouise,
du hast mein großes Mitgefühl für deine leidvolle Lebenssituation.

Mein Partner hat diese grässlichen Ohrgeräusche auch schon seit sehr sehr vielen Jahren, die mit großen Schwankungen einhergehen.
Er er ist sich jedoch sicher - seitdem er die Ursache seines Tinnitus kennt - dass sein Tinnitus ein Ausdruck seiner Depression ist,
die sich immer wieder meldet.

So erlebt er Zeiten, da hört er ihn kaum - da sind die Ohrgeräusche leise und stören nicht.
Es sind die Zeiten, in denen er sich mit sich selbst, und dem Leben "im Einklang" fühlt.

Es kommen aber auch immer wieder Zeiten, in denen der Tinnitus so unaufhörlich laut und schrill lärmt,
und er sich durch nichts mehr beruhigen lässt, sodass sein Lebensgefühl fast auf dem Nullpunkt herabrutscht.
Dann hilft nur noch eine 1/2 Tabl. Tavor, damit er wieder zur Ruhe kommen kann.
Das sind z. B. Zeiten in denen er Ängste vor Fehlentscheidungen hat.

Ich wünsche dir ein gutes und zufriedenstellendes Gespräch bei deinem Hausarzt.

Liebe Grüße MySun


S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus
Chronischer Tinnitus ist ein häufiges Symptom des auditorischen Systems, das insbesondere in Verbindung mit Komorbiditäten zu schwerwiegender Krankheitsbelastung führen kann. Chronischer Tinnitus ist kein einheitliches Krankheitsbild, sondern kann viele Formen annehmen. Grundsätzliche ärztliche Aufgabe beim chronischen Tinnitus ist die Diagnostik zur Identifizierung der individuell maßgeblichen Entstehungsfaktoren und Begleitsymptome. Basierend auf dieser differentialdiagnostischen Einschätzung sollte die Therapie erfolgen.

https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/017-064
"Viele Menschen sind zwar am Leben, berühren aber nicht das Wunder, am Leben zu sein.“-ThichNhatHanh-

Von Herzen
MySun
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