Endlich die Diagnose (ein)gestehen

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Anna Grau
Beiträge: 2
Registriert: 16. Sep 2023, 19:16

Endlich die Diagnose (ein)gestehen

Beitrag von Anna Grau »

Liebe Mitglieder,

ich bin neu hier im Forum, weil ich vor einer neuen, persönlichen Herausforderung stehe: mir meine Krankheit einzugestehen.
Soweit ich mich erinnern kann, bin ich depressiv, seit ich neun Jahre alt bin (was sich seit damals in sozialem Rückzug, SVV, verschiedenen Essstörungen, Schlafproblemen, Grübeleien, Gedankenkarussell, einer ständig wiederkehrenden inneren Abwärtsspirale äußerte). Meine Mitschüler*innen mobbten mich, meine Lehrer*innen gaben mir im Verhalten schlechte Noten, weil ich schüchtern war. Ein weiteres Problem sahen sie darin allerdings nicht, obwohl ich im Kunstunterricht mal ein Bild von einem Messer zeichnete und mein Körper etliche Spuren aufwies. Meine Eltern stellten ebenfalls nicht fest, dass mit mir etwas nicht stimmte, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt (eigene psychische Probleme, die sie sich ebenfalls nicht oder erst spät eingestanden). Ich hätte mit ihnen auch gar nicht darüber sprechen können, weil ich mir Vorwürfe gemacht hätte, wenn ich sie dadurch, dass es mir selbst schlecht ging, als schlechte Eltern hingestellt hätte. Ich lebte also immer vor mich hin, glücklich war ich selten. Ich suchte mir ein Ventil, Musik und später kreatives Schreiben. Dieses hat mich glaube ich bis heute (bin inzwischen dreißig) aufrechtgehalten.
Mit 24 fand ich auf einmal morgens nicht mehr die Kraft, aufzustehen. Notgedrungen suchte ich meinen Hausarzt auf, der mich jedoch nicht ernst nahm. Wohl, weil ich ihn anlächelte und ziemlich sachlich über meine Symptome berichtete. Ich hatte irgendwie im Laufe meines Lebens gelernt, immer die Starke zu markieren, mit allen Problemen allein zurechtkommen zu müssen (anderen geht es ja viel schlechter ...). Da mir Johanniskraut und eine Woche Krankschreibung nichts nützten, besuchte ich einen weiteren Hausarzt. Dabei ließ ich den Kopf wohl etwas mehr hängen, ich bekam Escitalopram und eine Überweisung für Psychotherapie (Diagnose: schwere Depression). Ich rief in der Praxis für Psychotherapie an. Nach 6 Wochen sollte ich mich erneut melden, ob noch Bedarf bestehe (weil Plätze knapp sind). Das tat ich nicht. Ich bekam zu diesem Zeitpunkt nur das Allernötigste auf die Reihe und vergaß den Anruftag. Anschließend holte ich noch einige Male ein Nachfolgerezept für das Medikament, da ich aber keine Wirkung feststellte, setzte ich es wieder ab.
Ich war wieder auf mich allein gestellt. Bis heute mache ich mein Hobby weiter, mache Yoga, absolviere ab und zu mal Online-Coachings zu Themen wie Gaslighting, Grenzen-Setzen ..., habe meine sozialen Kontakte aufs Wesentliche reduziert (meinen Freund, zwei Katzen und drei Freundschaften, die mir wirklich viel bedeuten) und mache einen für mich sinngebenden Job.
Aber bei all dem zeigt mein Körper noch immer Symptome wie Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen (z.B. extreme Vergesslichkeit), gelegentliche Essstörungen (die ich mit viel Disziplin in den Griff kriege), Lustlosigkeit, Unwillen, mit anderen zu sprechen oder zu schreiben, manchmal sogar den Wunsch nach SVV (wobei ich da seit fünf Jahren "clean" bin).
Da es mich vor einigen Monaten erneut "umgehauen" hat, was bedeutet, dass ich morgens die Füße nicht aus dem Bett bekam, habe ich mir nun grundlegende Gedanken gemacht: Ich muss mir endlich meine Krankheit eingestehen und mir die Hilfe suchen, die ich brauche.
Problem: Nach wie vor habe ich Angst, meinen Freunden und insbesondere meinem Lebenspartner zu erklären, dass ich das Gefühl habe, nicht auf meinen zwei Füßen zu stehen. Ich fürchte mich vor Vorwürfen ("Sind wir ein schlechtes Umfeld für dich?"), aber auch davor, nicht ernst genommen zu werden (gerade weil zwei meiner Freunde im Rollstuhl sitzen und eine Depression definitiv als Gejammer auf hohem Niveau ansehen würden).
Habt ihr Tipps, wie man mit diesen Ängsten umgeht und wie man endlich den Schritt schafft, eine Therapie zu beginnen?
Danke schon einmal im Voraus.

Liebe Grüße,
Anna
Allegretto
Beiträge: 178
Registriert: 5. Nov 2019, 18:15

Re: Endlich die Diagnose (ein)gestehen

Beitrag von Allegretto »

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Zuletzt geändert von Allegretto am 12. Nov 2023, 21:29, insgesamt 1-mal geändert.
DieNeue
Beiträge: 5339
Registriert: 16. Mai 2016, 22:12

Re: Endlich die Diagnose (ein)gestehen

Beitrag von DieNeue »

Hallo Anna Grau,

willkommen im Forum :)
Hm, eine Depression hat ja nicht immer automatisch was mit dem Umfeld zu tun. Bei dir scheint es ja schon in der Kindheit so gewesen zu sein. Von daher kann dir eigentlich keiner von deinen Freunden oder dein Partner einen Vorwurf machen, ob sie nicht gut für dich wären. Das könnten sie dir nur vorwerfen, wenn sie davon ausgehen würden, sie allein wären das Heilmittel für deine Probleme schlechthin. Und das wäre ja schon etwas vermessen.
Wenn du eine ambulante Therapie machst, müssen es deine Freunde ja nicht unbedingt (sofort) wissen. Man erzählt ja auch nicht immer, wenn man einen Arzttermin hat.
Geht es deinen Freunden im Rollstuhl sehr schlecht mit ihrer Erkrankung? Empfinden sie es deshalb als Jammern auf hohem Niveau, weil sie selber so große Probleme damit haben oder sind sie einfach generell eher verständnislos? Klar ist es gut möglich, dass man, wenn man so eine schwere Einschränkung hat, vieles andere vielleicht als Pipifax empfindet. Aber du hast dir deine Probleme auch nicht rausgesucht und manche Leute müssen auch lernen, dass andere Leute auch Probleme haben, auch wenn das andere sind und auch wenn diese Leute gesund aussehen. Es kann nicht sein, dass sie die einzigen mit Problemen sein dürfen.
Krankheiten gegen einander aufzuwiegen macht keinen Sinn.
Selbst wenn deine Probleme nur mini Probleme wären, hättest du ein Recht darauf, dich damit zu beschäftigen und eine Lösung dafür zu suchen!
Ich würde vielleicht erstmal nur dem Partner davon erzählen und schauen, wie der reagiert. Und dann erst nach und nach andere einweihen, je nachdem, wie du dich damit wohl fühlst.
Falls du nicht gleich einen Therapieplatz finden solltest, kannst du dich auch an den Sozialpsychiatrischen Dienst wenden. Da kann man kostenlos zur Beratung hingehen und viele nutzen das als Überbrückung bis zur Therapie.

Liebe Grüße,
DieNeue
Empathie58
Beiträge: 266
Registriert: 23. Okt 2017, 21:48

Re: Endlich die Diagnose (ein)gestehen

Beitrag von Empathie58 »

Hallo Anna,

Du hast eine für Dich wichtige Entscheidung getroffen, nämlich, Dich Deiner Erkrankung zu stellen und Dir Unterstützung zu suchen. Dein Mut verdient Respekt.

Wenn Du mit Deinem Lebenspartner eine vertrauensvolle Beziehung führst und er bisher noch nichts von Deinem Befinden mitbekommen hat, sollte er der erste Mensch sein, dem Du Dich offenbarst, ohne seine Reaktion fürchten zu müssen.

Was Deine Freunde angeht, auch diejenigen, die im Rollstuhl sitzen: Hast Du Angst, sie zu verlieren, wenn Du Dich ihnen anvertraust? Es ist immer wieder interessant, wie Freunde auf neue Situationen reagieren. Manche haben tatsächlich kein Verständnis - da drängt sich dann die Frage auf, welche Qualität die Freundschaft hat(te). Andere wiederum, mitunter auch solche, von denen man es nicht erwartet hätte, reagieren sensibel und empathisch. Indem Du Dich öffnest, gibst Du Deinem Gegenüber die Möglichkeit, Dir nah zu sein. Eine Garantie, dass das immer funktioniert, gibt es nicht. Andersherum: Wenn Du es gar nicht erst versuchst, kann von vornherein keine Nähe entstehen.

Ich wünsche Dir weiterhin viel Mut und Kraft für Deinen Weg.

Liebe Grüße
Empathie58
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