Eine Reise in die eigene Zerbrechlichkeit

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Ifightdepression79
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Eine Reise in die eigene Zerbrechlichkeit

Beitrag von Ifightdepression79 »

Liebes Forum,

ich muss mich mal ausquatschen heute und meine Gefühle "zu Papier" bringen.
Es ist wirklich selten, das ich an den traurigen Jungen von damals ran komme und Kontakt zum inneren Kind bekomme und altem Leid.
Heute hat mich ein altes Lied von damals in diese Zeit gebracht, so dass mir unvermittelt die Tränen in den Augen standen.
Es war das Lied "Freiburg" von Tocotronik.
Insbesondere die Zeile :"Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sogar cool und Ihr demonstriert Verbrüderung." hat mich komplett geflasht.
Schon damals als 13 oder 14 jähriger auf dem Gymnasium mit dem ganzen Leistungsdruck von zu Hause und den Demütigungen, den Herabsetzungen hat mich der Song gecatcht. Ich wusste aber früher nicht warum (beim Song "Quadrat im Kreis" von Wizo erging es mir ähnlich).
"Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse, Tanztheater dieser Stadt.", geht dem oben genannten Satz voraus.
Das ich so emotional und traurig darauf anspringe, macht die Verzweiflung klar, die schon früh da war und die damals unbewusste Entscheidung:" Ich brauche Niemanden." Schon viel früher als ich ahnte war diese Entscheidung getroffen und die Wut auf die Welt geboren.
Damals noch zu Recht. Die Welt war meine narzisstische, demütigende, traumatisierte Mutter.
Die Wut und die Verzweiflung stecken immer noch tief drin.
Und früh begann die Projektion auf die wirkliche Welt, nur um erst sehr spät zu erkennen: 9 von 10 Menschen, die ich auf der Straße treffe, sind gute Menschen, nicht so wie der eine Mensch, der soviel Verletzungen hinzugefügt hat.
Die gute Botschaft ist vermutlich: Heute muss ich nicht alleine sein. Ich habe die Wahl. Und trotzdem bin ich es größtenteils mit dem alten Hass auf die "Tanztheater dieser Stadt.", die nur eine Projektion waren eines einzigen gestörten Menschen.

Leider weiß ich nicht mehr, wer von Euch neulich gesagt hat (oder so ähnlich): "War schlimm früher, aber vorbei."
Wenn derjenige /diejenige das hier liest, bitte schreib doch nochmal, wie der Satz genau war von deinem Therapeuten.
Sich immer wieder klar zu machen, dass der "Krieg" von damals vorbei ist und es keinen Grund mehr gibt, alles und jedem mit gezogenem Colt zu begegnen , sich sofort angegriffen zu fühlen und so weiter.
Rational weiß ich das und trotzdem....

Wer den Text gelesen hat und sich wieder erkennt, https://www.youtube.com/watch?v=AMOvQ-UrrxA , hier der Link zum Song.

Liebe Grüße und einen schönen Sonntag für Euch. Musste mal raus.
Viele Grüße

Malte

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Gartenkobold
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Re: Eine Reise in die eigene Zerbrechlichkeit

Beitrag von Gartenkobold »

Hallo Malte,

meinst Du den Satz: "Es ist was es ist und es ist vorbei!". Na ja ein typischer Trauma-VT-Satz aus BB.
Manchmal ist er hilfreich, ich bin aber auch viel in der Vergangenheit und mit alten Schemata beschäftigt.
Der Satz hilft schon, aber nicht immer nachhaltig.

Ich versuche es mit Gegenwartsankern und es funktioniert... wenn man es aktiv tut. Immer wenn mich ein Anker an die "neue Zeit" = Gegenwart erinnert -> wir haben 2023, es ist vorbei! Das muss ich mehrmals täglich machen. Bringt schon was.

Hier weitere Anregungen: https://www.dis-sos.com/orientierung-und-grounding/
Vielleicht findest Du etwas, das für Dich passt.

LG Gartenkobold
Ifightdepression79
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Re: Eine Reise in die eigene Zerbrechlichkeit

Beitrag von Ifightdepression79 »

Hi Kobold, vermutlich ist das heute wegen Muttertag hochgekommen. Es waren aber reinigende Tränen. Da ist so viel Trauer in mir hinter der unbändigen Wut. Wenn ich nur ein bisschen davon nachbeeltern kann, ist das schon ein guter Weg. Danke für die Links und eine gute Nacht Dir.
Viele Grüße

Malte

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Luna1959
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Re: Eine Reise in die eigene Zerbrechlichkeit

Beitrag von Luna1959 »

Hallo Malte,
Eine sehr gute Therapeutin sagte mal zu mir: Ziehen Sie ihre Soldaten zurück. Ja, die Wut ist immer schnell da und stellt sich vor meiner Trauer, bzw. verhindert damit auch, zu meinen reinigenden Tränen zu kommen.
Ja, es ist in der heutigen Realität vorbei, schon seit Jahrzehnten, aber die alten Verletzungen stecken ja trotzdem noch in mir zusammen mit den alten Bewältigungsstrategien, von denen so viele heute extrem hinderlich sind.
Es ist anstrengend, mir das täglich bewusst zu machen, aber es ist halt so, ich kann's nicht ändern.
Und es zahlt sich aus.
Liebe Grüße Eva
Die Vernunft empfiehlt immer das, was andere gerne möchten.
Ifightdepression79
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Re: Eine Reise in die eigene Zerbrechlichkeit

Beitrag von Ifightdepression79 »

Luna1959 hat geschrieben: 14. Mai 2023, 22:26 Hallo Malte,
Eine sehr gute Therapeutin sagte mal zu mir: Ziehen Sie ihre Soldaten zurück. Ja, die Wut ist immer schnell da und stellt sich vor meiner Trauer, bzw. verhindert damit auch, zu meinen reinigenden Tränen zu kommen.
Ja, es ist in der heutigen Realität vorbei, schon seit Jahrzehnten, aber die alten Verletzungen stecken ja trotzdem noch in mir zusammen mit den alten Bewältigungsstrategien, von denen so viele heute extrem hinderlich sind.
Es ist anstrengend, mir das täglich bewusst zu machen, aber es ist halt so, ich kann's nicht ändern.
Und es zahlt sich aus.
Liebe Grüße Eva
Guten Morgen Eva,

da fällt mir folgende Geschichte ein:

"In einem zauberhaften Königreich, das der Mensch niemals betreten wird oder das er womöglich ständig durchquert, ohne sich dessen bewusst zu sein … In einem Zauberkönigreich, wo die unsichtbaren Dinge wieder Gestalt annehmen … War einmal ein wunderbarer kleiner See. Es war eine Lagune von glasklarem Wasser, in dem sich tausenderlei Grüntöne spiegelten, und Fische schwammen darin in allen Farben dieser Welt. In diesem klaren Zaubersee wollten die Traurigkeit und die Wut in stiller Eintracht ein Bad nehmen. Die beiden legten ihre Anzüge ab und stiegen nackt ins Wasser. Die Wut, die es – wie immer – grundlos eilig hatte, nahm ein schnelles Bad, und genauso schnell war sie dem Wasser auch schon wieder entstiegen. Doch die Wut ist blind, zumindest weiss sie sich in der Realität nicht so gut zurechtfinden, also zog sie, splitternackt und in Eile, beim Herauskommen den erstbesten Anzug an, den sie zu fassen bekam. So geschah es, dass sie nicht in ihren eigenen, sondern in den Anzug der Traurigkeit geschlüpft war. Und als Traurigkeit wieder verkleidet, ging die Wut davon. In aller Ruhe und Bedächtigkeit, bereit, wo sie sich gerade aufhielt, auch ein wenig zu verweilen, beendete die Traurigkeit ihr Bad, und ohne auch nur einen Gedanken an die vergangene Zeit zu verschwenden, stieg sie langsam und behäbig aus dem Wasser. Am Ufer bemerkte sie, dass ihre Kleider nicht mehr da waren. Wie wir alle wissen, gibt es kaum etwas, das der Traurigkeit unangenehmer wäre als ihre Blösse. Also zog sie die einzigen Kleider an, die sie finden konnte: den Anzug der Wut. Man erzählt sich, dass man seitdem manchmal auf eine blinde, grausame, furchtbare und hemmungslose Wut stösst. Aber nimmt man sich die Zeit und schaut etwas genauer hin, so wird man bemerken, dass diese Wut nur eine Verkleidung ist und dass sich hinter dieser Verkleidung in Wahrheit die Traurigkeit verbirgt."

Hab einen schönen Tag. Gut zu hören, dass ich nicht alleine so fühle. Da gibts Viele.
Viele Grüße

Malte

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Ifightdepression79
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Re: Eine Reise in die eigene Zerbrechlichkeit

Beitrag von Ifightdepression79 »

Winfried 123 hat geschrieben: 15. Mai 2023, 07:26 Lieber Malte,

alte Kränkungen und Trauer wird leider immer wieder durch Erinnerungen hoch geholt.
Gestern war es bei dir der Muttertag.
Jeder hat ja andere Bewältigungsstrategen.
Ganz auslöschen können wir die Vergangenheit nicht, aber lernen damit umzugehen.
Diese hat ja auch beeinflusst wie wir heute leben.
Wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern, vorbei ist vorbei.
Nur heute können wir versuchen, so viele gute Momente zu sammeln wie es uns möglich ist.
Manchmal sind gute Gefühle nicht zu spüren durch die depressive Störung , doch bringen uns positive Aktivitäten immer wieder ein Stück näher zu einem lebenswerten Leben .
Das ist anstrengend ,aber es lohnt sich immer wieder.

Bei mir gibt es auch immer wieder Trigger aus heiterem Himmel, auch durch eine überraschende Begegnung mit den Tätern, oder auch durch das Schildern ähnlich Lebenswege und Verluste, wie es bei mir der Fall war.
Viele schmerzliche Dinge sind schon Jahrzehnte her, trotzdem.
Aber ich bin noch da und habe auch viele gute Zeiten erlebt.
Die Zeit und viele Stunden Therapien haben mir dabei geholfen.
Heute kann mit meiner Vergangenheit gelassener umgehen und akzeptieren was nicht mehr zu ändern ist..
Wenn es mir psychisch schlecht geht ,bekomme ich auch Wut und auch Angst davor ,evtl. noch Mal Ereignisse aushalten zu müssen, die mich so sehr aus der Bahn geworfen haben.
Aber ich kriege mich jetzt schneller wieder ein.

Mir hilft dabei auch das Gebet von Niebuhr, obwohl ich kein gläubiger Mensch bin.

Gott gebe mir die Gelassenheit ,Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Den Mut Dinge zu ändern,
die ich ändern kann und die Weisheit ,das eine von dem anderen zu unterscheiden.

Alles Gute für dich und liebe Grüße
Brigitte

PS. Ein schöne Geschichte , es heißt ja auch "blinde Wut " diese kann sehr viel Unheil anrichten.
Heute wünsche ich dir ganz viele gute Momente, diese werden uns über die Traurigkeit hinweg helfen.
Unsere Beiträge haben sich überschnitten.
Hallo liebe Brigitte,

danke für deinen Beitrag.
Das Gebet hört sich so einfach an und doch ist es jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung.
Leave, love or change sind die einzigen Optionen bei so ziemlich jeder Sache oder Situation.
Einen schönen Tag Dir.
Viele Grüße

Malte

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Minima
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Re: Eine Reise in die eigene Zerbrechlichkeit

Beitrag von Minima »

Ifightdepression79 hat geschrieben: 15. Mai 2023, 07:10
Luna1959 hat geschrieben: 14. Mai 2023, 22:26 Hallo Malte,
Eine sehr gute Therapeutin sagte mal zu mir: Ziehen Sie ihre Soldaten zurück. Ja, die Wut ist immer schnell da und stellt sich vor meiner Trauer, bzw. verhindert damit auch, zu meinen reinigenden Tränen zu kommen.
Ja, es ist in der heutigen Realität vorbei, schon seit Jahrzehnten, aber die alten Verletzungen stecken ja trotzdem noch in mir zusammen mit den alten Bewältigungsstrategien, von denen so viele heute extrem hinderlich sind.
Es ist anstrengend, mir das täglich bewusst zu machen, aber es ist halt so, ich kann's nicht ändern.
Und es zahlt sich aus.
Liebe Grüße Eva
Guten Morgen Eva,

da fällt mir folgende Geschichte ein:

"In einem zauberhaften Königreich, das der Mensch niemals betreten wird oder das er womöglich ständig durchquert, ohne sich dessen bewusst zu sein … In einem Zauberkönigreich, wo die unsichtbaren Dinge wieder Gestalt annehmen … War einmal ein wunderbarer kleiner See. Es war eine Lagune von glasklarem Wasser, in dem sich tausenderlei Grüntöne spiegelten, und Fische schwammen darin in allen Farben dieser Welt. In diesem klaren Zaubersee wollten die Traurigkeit und die Wut in stiller Eintracht ein Bad nehmen. Die beiden legten ihre Anzüge ab und stiegen nackt ins Wasser. Die Wut, die es – wie immer – grundlos eilig hatte, nahm ein schnelles Bad, und genauso schnell war sie dem Wasser auch schon wieder entstiegen. Doch die Wut ist blind, zumindest weiss sie sich in der Realität nicht so gut zurechtfinden, also zog sie, splitternackt und in Eile, beim Herauskommen den erstbesten Anzug an, den sie zu fassen bekam. So geschah es, dass sie nicht in ihren eigenen, sondern in den Anzug der Traurigkeit geschlüpft war. Und als Traurigkeit wieder verkleidet, ging die Wut davon. In aller Ruhe und Bedächtigkeit, bereit, wo sie sich gerade aufhielt, auch ein wenig zu verweilen, beendete die Traurigkeit ihr Bad, und ohne auch nur einen Gedanken an die vergangene Zeit zu verschwenden, stieg sie langsam und behäbig aus dem Wasser. Am Ufer bemerkte sie, dass ihre Kleider nicht mehr da waren. Wie wir alle wissen, gibt es kaum etwas, das der Traurigkeit unangenehmer wäre als ihre Blösse. Also zog sie die einzigen Kleider an, die sie finden konnte: den Anzug der Wut. Man erzählt sich, dass man seitdem manchmal auf eine blinde, grausame, furchtbare und hemmungslose Wut stösst. Aber nimmt man sich die Zeit und schaut etwas genauer hin, so wird man bemerken, dass diese Wut nur eine Verkleidung ist und dass sich hinter dieser Verkleidung in Wahrheit die Traurigkeit verbirgt."

Hab einen schönen Tag. Gut zu hören, dass ich nicht alleine so fühle. Da gibts Viele.
Was für eine wunderbare Geschichte, und mir geht es auch manchmal anders herum: da ich als Kind niemals wütend sein durfte, trauern aber ok war, bin ich heute manchmal sehr traurig und wenn ich genau hin schaue steckt da eine fette Wut im Anzug der Trauer. Was dann letztendlich hinter Wut und Trauer zum bisher immer zum Vorschein kam ist eine schlecht verheilte Wunde.
LG Minima
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