Der Zwang, etwas werden zu wollen

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Max_
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Der Zwang, etwas werden zu wollen

Beitrag von Max_ »

Hallo,

interessanter Artikel in der NZZ:
https://www.nzz.ch/meinung/mehr-passivi ... ld.1718125" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;

In der letzten Zeit denke ich immer öfters, dass das Gehirn des Menschen überbewertet wird. Und dass das Denken in Zeit ein Grund dafür ist, dass viele Menschen so unglücklich sind. Mein Wunsch ist es daher, wieder ein bisschen mehr »Tier« zu sein. Weniger Kopf, mehr Bauch. Weniger Zukunft, mehr Gegenwart. Weniger Müssen, mehr Wollen. Hund werden! ;)

Hier der ganze Text:

Mehr Passivität wagen – wie der Zwang, etwas werden zu wollen, unsere Seele und unsere Welt zerstört

Konstantin Sakkas 01.01.2023, 05.30 Uh

Das moderne Dasein ist so sehr Zwecken und Zielen untergeordnet, dass daraus leicht ein Zwangskorsett wird. Der allgemeinen Hektik liegt die Angst zugrunde, das Leben zu verpassen. Doch gerade dadurch werden wir zu Gefangenen unserer selbst.

Wieder geht ein Jahr zu Ende, und wieder bin ich nicht so viel weitergekommen, wie ich wollte. Wer kennt es nicht, dieses Gefühl? Bilanzen fallen meistens enttäuschend aus, denn das Bilanzieren bezieht sich auf genau terminierte starre Zeiträume, die wir dann mit konkretem, flüssigem Inhalt füllen wollen, und das klappt meistens nicht.

Das meinte der Dichter Charles Baudelaire mit der «Bürde der Zeit»: die Zeit als Zeitstrahl, als Strecke, innerhalb deren etwas zu bewältigen sei, eine Anordnung, auf der unsere ganze Existenz fusst, die aber zutiefst irrational und auch unmoralisch ist; denn diese zeiträumliche Abstraktion lässt ja alles Kontingente, Zufällige, nicht Einberechnete unberücksichtigt.

Das Fussballspiel dauert neunzig Minuten. Was, wenn meine Mannschaft nur fünf Minuten mehr gehabt hätte? Dann wären wir richtig wach gewesen und hätten das Spiel gewonnen. So aber fehlten uns, wie man so sagt, entscheidende fünf Minuten. Den Halbmarathon in unter 90 Minuten schaffen? Wenn ich dieses Jahr nicht an einem Virus erkrankt wäre, dann, ja, dann hätte ich dieses Ziel erreicht.
Die so vielversprechende neue Liebe? Ja, wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten . . . «Unter anderen Umständen.» Und so weiter und so weiter. Aber wir haben es nicht geschafft, und zwar nicht «in der gegebenen Zeit».

Süss, weil ewig jung
Als so einen Zeitstrahl betrachten wir das abgelaufene Jahr, betrachten wir das ganze Leben, auch wenn es eigentlich irrsinnig ist. Das ist es, was Rilke meint, wenn er in seiner grossen achten «Duineser Elegie» sagt, wir Menschen sähen stets den Tod, «das freie Tier» aber habe seinen Untergang stets schon hinter und nicht vor sich.

Dass wir Tiere so lieben, liegt daran, dass aus ihnen eine eigentümliche Zeit- und Entwicklungslosigkeit zu uns spricht. Wo keine Entwicklung, da auch keine Brüche, kein Es-nicht-geschafft-Haben, jedenfalls nichts als solches Erfahrenes. Dem Menschen hingegen und auch der von ihm bewirtschafteten und manipulierten Umwelt sieht man die innere Auseinandersetzung mit ihrer Entwicklung an. Das gilt für Gesichter wie für Stadtbilder.

Das Tier aber wirkt auf uns süss, weil es ewig jung bleibt, weil es nichts weiss von einem Strom der Zeit, einem Zeitstrahl. Aus der Ewigkeit, in der kein Zeitfluss, kein Kommen und Vergehen herrscht, ist es in gewisser Weise nie hinabgestiegen in den Abgrund der zeitlichen Linearität.

Das Denken in Linearität, in Zeitstrecken, innerhalb deren etwas zu bewältigen, ein Fortschritt zu erzielen sei, zerstört die Seele und das Leben, aber es ist konstitutiv für den Menschen und für unsere Epoche. Umweltzerstörung und Klimawandel sind ein direktes Produkt der Angst, «es» nicht zu schaffen, sich nicht versorgen zu können, ohne technische Hilfsmittel der Willkür der Natur auf ewig ausgeliefert zu sein. Also begann der Mensch, von der Natur zu lernen und sie zu manipulieren, von der Seefahrt bis zum Smartphone, von der Viehhaltung bis zum Hybridsamen.

Die Zivilisation als Abgrund

Es war nicht böse Absicht; es waren Hektik und Angst, in einem gegebenen Zeitraum nicht weiterzukommen, nach kurzem Aufflackern wieder abzutauchen in ein unbekanntes Jenseits. Hiervon, von diesem Abtauchen kauft sich der Mensch Aufschub durch den Prozess der Zivilisation, aber die Zivilisation ist selbst ein Abgrund. Aus der Angst, es nicht rechtzeitig zu schaffen, zerstören wir unsere Weltbezüge, wie der Soziologe Hartmut Rosa sie nennt, und unsere Welt.

Es ist banal, für weniger Hektik zu plädieren. Aber vielleicht können wir vom Tier lernen, das nicht in Zeitstrecken denkt; das keine To-do-Listen hat, die abgehakt werden müssen, sondern das in einer eigentümlichen, für uns niedlichen Passivität in sein Leben hineinlebt.
Ein Jahr ist vorüber, ein Lebensjahr, ein Lebensjahrzehnt, und manche stehen vor ihrem letzten Lebensjahr: War das Jahr, war das Leben umsonst, weil man dieses oder jenes nicht «in der Zeit» geschafft hat? In der Antwort auf diese Frage liegt auch ein Stück weit die Antwort auf die Frage, warum wir unsere Umwelt so beschädigt haben.

Konstantin Sakkas lebt als Philosoph und Historiker in Berlin und arbeitet als Sachbuchkritiker und Essayist unter anderem für den SWR 2 und für Deutschlandfunk Kultur.
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