Einfach sein

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SundayMan
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Einfach sein

Beitrag von SundayMan »

Hallo liebe Forianer*innen,

mich interessieren eure Meinungen/Erfahrungen/Gedanken zum Thema "Sein".

Am vergangenen Donnerstag hatte ich meinen ersten Psychotherapietermin. Im Laufe des Gesprächs wurde mir bewusst, dass ich derzeit psychisch so instabil bin, dass mir schon kleiner Druck zu viel ist. Diesen Druck mache ich mir größtenteils selbst.

Ich muss schnell wieder arbeitsfähig werden, mich gesünder ernähren, mehr bewegen, verlässlicher werden, meinem Umfeld wieder etwas positives berichten können... da ich gerade AU bin, habe ich mir jeden Tag Methoden zur Selbsthilfe erdacht: morgens früh aufstehen, gesund frühstücken, Arbeit an mir selbst, gesund kochen, mir Gedanken über die berufliche Zukunft machen, joggen/schwimmen gehen, Sozialkontakte aufrecht erhalten. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich das Kollegium bei meiner neuen Stelle nach so kurzer Zeit im Stich lasse. Hinzu kommen Zukunftsängste und ein Tunnelblick, in dem ich viel Schlechtes sehe.

Diese ganzen ständigen Gedanken haben dazu geführt, dass ich sehr starke Verspannungen hatte, die sich den ganzen Rücken entlang zogen.

In dem Therapiegespräch sagte mir meine Therapeutin, dass ich für mich selbst sorgen solle: ich soll Dinge in meinem Tempo machen und vor allem Dinge tun, weil ich es möchte und nicht weil ich mich dazu verpflichtet fühle, da ich mir dadurch gerade innerlich selbst zu viel Druck mache und es mir dadurch schlechter geht.

Es fällt mir sehr schwer, mehr als mal einen (halben) Tag einfach zu sein und Dinge zu tun, weil ich es möchte bzw. einfach mal keinen Plan zu haben, was ich mache. Doch am als ich es nach dem Gespräch geschafft habe, waren die Rückenverspannungen sofort weg.

Wie geht es euch damit, kennt ihr solche Situationen von euch?

Lieber Gruß, Tobias
"You asked me what's my pleasure, a movie or a measure
I'll have a cup of tea and tell you of my dreaming
Dreaming is free"
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Lavendel64
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Re: Einfach sein

Beitrag von Lavendel64 »

Hallo Tobias,

Unruhe aushalten, Nichtstun lernen ... das waren meine grössten Aufgaben. Es gibt da ja auch schöne Sprüche aus der Kindheit (Müßiggang ist aller Laster Anfang, was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen), die suggerieren, dass Pflichten sofort erledigt werden müssten.

In schlechten Phasen ist es wirklich schwer, sich auszuruhen, weil sofort das Gedankenkarussell anspringt und ich mich total schlecht fühle. Gleichzeitig bin ich nicht in der Lage, Dinge zu erledigen. Meine Hilfe in solchen Momenten ist der Gedanke "es geht vorüber" "es ist ein Symptom". Am meisten hilft mir dann TV, also Ablenkung, wobei ich auch dabei oft in die Negativgedanken gerate. Für mich hilft nur abwarten, meist ist spätestens nach einem Tag der Spuk vorbei. Er ist gefolgt von bleierner Müdigkeit, die aber friedlich ist.

Ich neige dazu zu analysieren, hier mal fünfe gerade sein zu lassen, habe ich in der Tagesklinik gelernt. Inzwischen bin ich an dem Punkt, an dem ich derartige Tiefphasen versuche zu akzeptieren und mich aus dem Alltag rausziehe (naja, arbeiten geht da meistens noch).

In negativen Phasen bringen mir Dinge, die sonst Spaß machen, übrigens auch nichts. Nur der Gedanke "es geht v orüber" hilft.

LG LAvendel
***Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen ***
SundayMan
Beiträge: 327
Registriert: 8. Sep 2022, 19:12

Re: Einfach sein

Beitrag von SundayMan »

Hallo Lavendel64,

die von dir beschriebenen Gedankensätze aus der Kindheit kenne ich auch ("Ohne Fleiß kein Preis").

In letzter Zeit kam mir öfter einer Situation aus meiner ersten depressiven Episode vor vielen Jahren ins Bewusstsein. Ich hatte mein erstes Studium abgebrochen, weil ich vollkommen überfordert mit mir selbst war, von den Studieninhalten und dem ersten mal alleine wohnen in einer fremden Umgebung. Mein Selbstbewusstsein war am Nullpunkt, weil ich mich und mein Leben als gescheitert wahrnahm. Als ich mit meinem Vater über die andauernde Depression und meine Gefühle sprach, sagte er mir: "Vielleicht bist du nicht lebensfähig". Dieser Moment fühlte sich wie ein Schlag an, und er kommt mir in Tiefphasen immer wieder in den Sinn.

Heute weiß ich, dass diese Aussage ein Äußerung der Überforderung meines Vaters war, aber es steckt auch eine seinerseits Weltsicht dahinter ("das Leben ist hart", "nur die Harten kommen in den Garten"). Doch sie hat Spuren hinterlassen.

Vielen Dank für deine Rückmeldung, der Gedanke "das geht vorbei" ist für mich hilfreich.

Lieber Gruß, Tobias
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Nachtmensch
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Re: Einfach sein

Beitrag von Nachtmensch »

Hallo Tobias,

dass Dir bei deinem ersten Therapiebesuch anscheinend klar geworden ist, das Du Dir selbst zu viel Druck machst, ist schon ein günstiger Ansatz dies zu verändern, wenn es Dir zu Wohlbefinden verhilft.

Auf das eigene Befinden besser zu achten, ist eine der Standardempfehlungen in der Psychotherapie. Hilfe zur Umsetzung bietet eine Therapie auch, umsetzen ist die Aufgabe für einen selbst. Ich drück Dir die Daumen, dass Du da deine Möglichkeiten findest und entsprechend wahrnehmen kannst.

Meines Wissens nach, gibt es keine zeitliche Vorgabe, wie oft oder lange, ein einfach nur Sein zu dauern hat. Ebenso wenig gibt es die wohl auch nicht, bezüglich dessen, was einfach nur Sein zu sein hat. Ich jedenfalls entscheide das rein subjektiv. Der Anspruch nur noch (oder zumindest vermehrt) Dinge tun wollen, die man möchte, kann verwirren. Ich denke, so konkret ist das auch nicht zu verstehen. Vor allem wenn andere diese Dinge auch tun, könnte es ja die Frage aufwerfen, will ich das jetzt selbst, oder hab ich mich beeinflussen lassen. Alternativ die Dinge nur alleine zu tun, wäre ja auch unter Umständen kontraproduktiv bei einer akuten Depression, wenn einem in der Therapie empfohlen wird, mehr soziale Kontakte zu pflegen. Trotzdem wäre es aber okay, wenn ich diese Dinge lieber alleine tue, so ich es will und für mich tue. Das erzeugt gegebenenfalls eine gewisse Ambivalenz in meinem Denken. Aber vielleicht ist das auch nur bei mir so.

Sein oder nicht Sein oder Sein (zu)lassen. Das könnte dann die Frage sein. Etwas zu planen, stellt für mich jedenfalls keine Diskrepanz dar, dass es dann nicht etwas wäre, was ich (für mich) tun will. Auch dann nicht, wenn ich lieber spontan entscheide, was ich für mich will. Wichtig ist in dem Moment möglicherweise die Frage: was will ich? Eine mögliche Antwort könnte lauten: Meine Bedürfnisse dürfen meine eigenen sein und es darf sein, dass ich sie befriedige. Sie müssen mir hierzu aber auch bewusst sein.
Muschelsammlerin
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Re: Einfach sein

Beitrag von Muschelsammlerin »

Ich denke, dass es da bei jedem anders ist. Mir bekommt das "einfach nur sein" nicht gut. Es gab und gibt aber immer wieder Tage, an denen ich gar nicht in der Lage bin, überhaupt etwas zu tun. Viele dieser Tage verbachte ich im Sommer im Garten liegend und teilweise in einer Art "Dämmerschlaf" aus dem ich mich oft erst gegen Abend lösen konnte. Früher hatte ich nach solchen Tagen auch noch ein schlechtes Gewissen, weil ich so "faul" war und die ganze Arbeit liegenblieb. Das habe ich mir aber inzwischen abgewöhnt. Ich bin krank und wenn mein Körper und der Geist keine Kraft haben, muss ich eben ruhen.
Die Stimmung bessert sich allerdings dadurch nicht, im Gegenteil. Ohne AD würde ich mich in negativen Gedankenspiralen verlieren und sicherlich andauernd mit den Tränen kämpfen.....dank Ecitalopram ist der Kopf inzwischen ziemlich leer.
Momentan geht es mir mittelprächtig, ich versuche kreativ zu arbeiten und das tut mir gut. Meine häuslichen Pflichten fallen mir oft schwer, aber ich weiß, wenn ich da nicht diszipliniert bin und alles "verkommt" geht es mir noch schlechter.
Druck empfinde ich dabei auch, aber das ist gut auszuhalten. Schlimmer ist es, wenn die Probleme von außen auf mich einstürmen und ich weiß, dass ich nichts daran ändern kann. In meinem Fall ist mein Sohn und seine ewigen Lebenssorgen das , was mich am meisten belastet.
Mir fehlt bei "Gegenwind" leider jegliche Resilienz. Ich habe es zeitweise mal geschafft, ein wenig davon aufzubauen....aber inzwischen ist leider nicht viel davon übriggeblieben.
Dass Rückenschmerzen und die seelische Verfassung eng miteinander verknüpft sind ist eine Tatsache. Nur ist es nicht leicht, diese seelischen Täler zu vermeiden. Ich kann es jedenfalls nicht. Habe seit 22 Jahren chronische Rückenschmerzen. Am besten hilft mir Gymnastik/Sport.
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Liebe Grüße von der Muschelsammlerin
SundayMan
Beiträge: 327
Registriert: 8. Sep 2022, 19:12

Re: Einfach sein

Beitrag von SundayMan »

Liebe/r Nachtmensch,
da sind interessante Ideen in dem, was du schreibst - danke dafür!
Zwischen den eigenen und fremden Bedürfnissen zu unterscheiden, fällt mir gerade sehr schwer.
Mittlerweile bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich ein großes Bedürfnis nach Ruhe habe - Musik zu hören, ein Buch zu lesen, einen Film zu schauen, in langsamen Tempo spazieren gehen, belebte Orte meiden und mich eher am Rand halten. Ich reagiere sehr empfindlich auf laute Geräusche. Auch einmal Ruhe vor dem inneren Anteil zu haben, der mich klein und depressiv macht ("Ich leiste nichts, also darf ich keine Freude empfinden").

Auch dir möchte ich danken, liebe Muschelsammlerin. Das Thema Resilienz ist interessant. Auch ich fühlte mich einmal resilienter, gerade ist davon wenig übrig. Wenn es mal dauerhaft eine resiliente, stabile Zeit gäbe, wäre das schon viel wert.
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Nachtmensch
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Registriert: 30. Dez 2020, 06:39

Re: Einfach sein

Beitrag von Nachtmensch »

Hallo Tobias,

die eigenen Bedürfnisse klar für mich zu definieren fällt mir immer noch schwer. Ganz besonders dann, wenn sie tatsächlich die gleichen sind, die gerade auch denen meines Umfelds entsprechen. Wenn mein Umfeld gerade dem Bedürfnis Freude zu empfinden nachkommt, kommt bei mir unausweichlich die Frage auf, darf ich mir das gönnen, habe ich das verdient? Das ist natürlich der Depression und dem geringen Selbstwertgefühl geschuldet. Aus solchen Gedanken komme ich kaum mehr heraus, aber anscheinend ist das Bedürfnis ja vorhanden, denn sonst würde ich es nicht so konsequent bekämpfen.

In der Verhaltenstherapie wird daran gearbeitet, diesen Gedanken etwas „zielführenderes“ entgegen zu setzen. Bei mir klappt das mäßig bis garnicht, aber bei einer frühzeitigen Behandlung sollten diesbezüglich Erfolge möglich sein. Allerdings wurde bei mir mittlerweile Dysthymie, respektive Double Depression diagnostiziert. Das erklärt mir einiges, macht dass daran arbeiten aber nicht unbedingt leichter.

Wenn Du Bedürfnissen nachgehst, die einen Kontakt zu anderen nicht benötigen, wird Dir jeder Therapierende sagen, dass das prinzipiell schon mal gut ist und das ist es auch, wenn es Dir Freude macht oder einfach nur gut tut. Weshalb Du gegebenenfalls den Umgang mit anderen meidest, ist unter Umständen ein anderes Thema und kann sicher ebenfalls in der Therapie bearbeitet werden.

Ich selbst habe abgesehen von gewissen Grundbedürfnissen keine Dinge oder Betätigungen, die in mir noch ein gutes Gefühl erzeugen, weil ich schon lange nicht mehr in diese Richtung schwinge. Bestenfalls finde ich Ablenkung von meinen Gedanken. Menschen die eine solche Symptomatik innerhalb der depressiven Erkrankungen an den Tag legen, sind zumindest statistisch, eher die Ausnahme. Was nicht ausschließen lässt, das doch eine „Heilung“ möglich ist. Derzeit bin ich in einer Tagesklinik und arbeite daran, deren Engagement für mich, durch ein entsprechendes Eigenengagement nicht völlig fruchtlos zu erachten. Da wird viel mit Konfrontation gearbeitet und das würde ich natürlich zu gerne vermeiden. Aber um Vermeidung gehts bei mir ja auch und um Ängste und automatische Gedanken.

Was ich durch meine vielen Therapieversuche gelernt habe ist zumindest das eine, ich muss Tacheles sprechen. Es gibt, oder sollte es zumindest, zunächst kein Falsch oder Richtig in einer Therapie, bei dem was ich in der Therapie anspreche. Aber nur indem ich mich offen äußere kann ich bestenfalls mit meinen BehandlerInnen dahinter kommen, was mich zu meiner offenbar für mich selbst schädlichen Denkweise bringt.

Ich hoffe Du kannst in deiner Therapie etwas für Dich erkennen, dass Dir bei deiner Thematik hilfreich ist und profitieren.
SundayMan
Beiträge: 327
Registriert: 8. Sep 2022, 19:12

Re: Einfach sein

Beitrag von SundayMan »

Hallo Nachtmensch,

du sprichst etwas sehr wichtiges und richtiges an - du musst Tacheles sprechen. Meinst du damit, offen und ehrlich über das, was du denkst und fühlst zu sprechen?

Gestern hatte ich ein sehr emotionales Telefonat mit meiner Schwester. Es war anstrengend und ging an die Substanz, aber es fühlt sich auch aufrichtig an. Und danach ging es mir besser, weil wir beide sehr ehrlich zueinander wahren, auch wenn es schmerzhaft war.

Danach war ich innerlich mehr bei mir, konnte mir die Zeit der Ruhe nehmen und auch zugestehen.
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(Blondie)
Nachtmensch
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Re: Einfach sein

Beitrag von Nachtmensch »

Hallo Tobias,

ja, das mache ich, allerdings nur gegenüber meinen BehandlerInnen wirklich unverblümt. Anders macht es auch für mich keinen Sinn, denn sonst könnte ich mir die Behandlung auch gleich ersparen. Bei anderen Menschen kommt es halt darauf an, ob ich der Meinung bin, dass sie es verstehen könnten, oder zumindest überhaupt daran interessiert sind es zu hören. Gibt da auch nicht so viele.
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