Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

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Kerntemperatur
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Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Kerntemperatur »

Guten Tag Euch allen zusammen!

Wie ich in einem ähnlichen Faden schon angekündigt hatte, möchte ich Euch heute ein wenig von meiner Tochter und mir erzählen.
Unhöflicherweise stelle ich mich kurz als erstes vor, das geht am schnellsten:
Ich lebe, seit 2014 von der Kindesmutter geschieden und zwischenzeitlich neu verheiratet (aber bereits wieder in Trennung) im Norden von Rheinland-Pfalz. Neben meiner Tochter, um die es hier geht, habe ich noch einen Sohn (20), der seit einigen Monaten das Haus verlassen hat und als Student in Düsseldorf lebt. Aus meiner zweiten Ehe ist kein Kind hervorgegangen; meine zweite Ehefrau habe ich verlassen, weil ich irgendwann begriffen habe, dass die Gründe, die zu dieser Beziehung führten, von meiner Seite aus nicht ehrlich waren – aber das ist eine andere Story, die an anderer Stelle einmal geschildert werden soll.

Meine Tochter ist 15 Jahre jung und leidet seit einiger Zeit an Depressionen. Diese Diagnose wurde erst vor ca. einem Jahr gestellt, die Krankheitsanzeichen sehen wir aber schon wenigstens doppelt so lange, haben diese aber erst als Auswirkungen der Pubertät gewertet. Zu diesem Zeitpunkt offenbarte sie mir, dass sie nicht wirklich sicher sei, ob sie sich als Mädchen oder als Junge fühle; mittlerweile sagt sie, dass sie als Junge wahrgenommen werden möchte – was mich jetzt auch dazu veranlasst, sie hier (und auch sonst) nicht mehr mit "meine Tochter" sondern mit "mein Kind" bzw. mit dem Anfangsbuchstaben des Vornamens "N." zu benennen.

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Der Leidensdruck ist mittlerweile so stark geworden, dass N. begonnen hat, sich selbst zu verletzen. N. hat sich nun mehrfach die Arme mit Rasierklingen und ähnlichen Gegenständen so aufgesäbelt, dass die Wunden an mehreren Stellen im Krankenhaus geklebt werden mussten. Nach der vorletzten SV-Aktion hat N. dann auch eine Nacht in der Akutaufnahme einer psychiatrischen Klinik zugebracht, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass da spontan noch mehr passiert.
Zur nächsten SV kam es dann im Verlaufe der vergangenen Woche, als N. sich zum Druckabbau eine ganze Reihe von Schnittverletzungen beibrachte.
[*][/color]

N.s Depressionen scheinen mir durchaus mit der Geschlechterrollenproblematik zusammenzuhängen, wobei ich mir da keineswegs wirklich sicher bin. In der Schulklasse (N. ist als "Kann-Kind" ein Jahr früher eingeschult worden und besucht als klassenjüngstes Mitglied mit gerade erst 15 Jahren die 10. Klasse im gymnasialen Zweig einer Gesamtschule) gibt es ein weiteres transsexuelles Kind, mit dem N. auch eng befreundet ist. N.s Mutter hat die fixe Idee entwickelt, dass N. sich dieses Kind zum Vorbild genommen haben könnte und nun die Transsexualität "übernommen" haben könnte (ich denke, über Sinn oder Unsinn einer solchen These brauchen wir nicht zu diskutieren, seine Geschlechterzugehörigkeit guckt man sich nicht einfach irgendwo ab, genausowenig, wie seine sexuelle Orientierung). Bei N. kommt sie natürlich mit dieser These nicht gut an, N. sieht sich unverstanden und nicht akzeptiert.

Es kommt aber noch eine weitere Komponente hinzu – als "Kann-Kind" ist N. im 5. Lebensjahr eingeschult worden, was sich bis weit über den Schulwechsel hinaus als durchaus sinnvoll und richtig dargestellt hatte. Mit Beginn der recht spät einsetzenden Pubertät (was mit depressionsbedingter Mangelernährung zusammenhängt – N. hat im Verlaufe der Erkrankung eine veritable Essstörung entwickelt) zeigten sich dann aber erste Einbrüche in den Leistungen, die sich auf die bislang sehr guten Noten niederschlugen. Mittlerweile sieht N. sich mit der Gesamtsituation völlig überfordert: Depressionen, Geschlechterrollenkonflikt und der pubertätsbedingte kognitive "Breakdown" sind definitiv zu viel, der leidensdruck ist so hoch, dass N.s einziger Ausweg im Druckabbau mittels Selbstverletzung zu bestehen scheint.

Zusammen mit N., dem Therapeuten und dem Psychiater haben wir eine Klinik ausfindig gemacht, in die N. ab ca. Ende Januar endlich aufgenommen werden soll. N. freut sich auf die Klinik – dort sei N. unter Kindern mit gleichen Problematiken, könne sich dort verstanden fühlen und sei vor allem "weg von zuhause". Hieran knüpfen wir letztlich all unsere Hoffnung.

Leider ist das Thema Depressionen in meiner Familie keineswegs unbekannt; so wuchs meine Mutter mit einem depressiven Vater auf, so war mein Vater (vermutlich) über viele Jahre depressiv, so litt auch ich viele Jahre unter Depressionen und Minderwertigkeitsgefühlen. N.s Mutter ist hier wenig "erfahren", auch wenn sie nach der Geburt unseres Sohnes kurzfristig unter einer postpartalen Depression litt; diese hat sie aber recht bald überwunden – leider hat sie daraus aber kein wirkliches Verständnis für die Erkrankung und die Betroffenen entwickelt; an dieser Stelle erlebe ich sie oftmals als recht empathiearm, auch wenn ich sehr wohl bemerke, wie sie sich bemüht, das Thema zu erfassen. Die Gefühls- und Gedankenwelt von depressiven Menschen sind ihr nach meiner Auffassung aber ziemlich fremd.

N. hat das im Laufe der Zeit bemerkt und wendet sich daher in Gesprächen lieber eher an mich als an die Mutter. Leider ist das aufgrund unserer räumlichen Distanz von gut 100 km eher schwierig.

Ich habe die Story jetzt mal so weit wie es ging in Worte gefasst – hier werden sehr sicher jede Menge Fragen offen sein – Fragen, die Ihr sehr gerne stellen dürft.

Ich merke, was die Erkrankung meines Kindes mit mir macht: sie macht mich unruhig, ich kämpfe mit einem (sicher unnötigen) schlechten Gewissen, ich versuche auf der einen Seite, Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt meines Kindes zu finden, stelle aber auf der anderen Seite fest, dass dies auch mir nicht so ohne Weiteres gelingt. Ich akzeptiere ihren Wunsch nach einer geschlechtlichen Umorientierung (jede:r, der bei diesem Ausdruck die Stirn runzelt, möge es mir verzeihen, ich suche noch nach der richtigen Ausdrucksweise) eher als die Mutter, und doch ist mir dieses Thema gerade so unendlich fremd.

Jetzt suche ich nach Orientierung.

Euch alles Gute, Euer

KT
Chiemsee2021
Beiträge: 19
Registriert: 22. Nov 2021, 19:04

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Chiemsee2021 »

Lieber KT,

zunächst einmal: Dass man sich als Eltern wirklich absolut macht- und hilflos fühlt, zumal Deine Tochter sich ja nun eher an Dich wendet, der Du weiter lebst, als an die eigene Mutter, die ihr da nicht nahe sein kann, geht wohl vielen Eltern so, deren Kinder unter Depressionen und was auch immer leiden.

Vorab: Mit SV habe ich keine Erfahrung, und über unseren Sohn (19) könnte ich wohl einen Roman schreiben, daher beschränke ich mich auf das, was ich an Parallelen sehe und kenne bzw. auch aus anderen Zusammenhängen nachempfinden kann.

Sich mit seinem Geschlecht nicht wohlzufühlen, nicht akzeptiert zu fühlen, das kenne ich von meinem Mann, dem es schon immer so ging. Damals waren die Zeiten anders, Akzeptanz war da gar nicht zu erwarten, aber dieser Konflikt (wer bin ich eigentlich, welche Rolle muss / soll ich erfüllen) begleitet ihn bis heute. Und natürlich wirft einen jungen Menschen so etwas aus der Bahn, wenn noch andere Faktoren hinzukommen.

Unser Sohn leidet seit einiger Zeit an Depressionen und Schlafschwierigkeiten, mal stärker mal schwächer, hat auch schon einen Suizid geplant (aber nicht umgesetzt), wir sind erst auf dem Weg dahin, dass er wirklich Hilfe annimmt - stationär ist für ihn ein rotes Tuch, ambulant ist es so schwer jemanden zu finden, die Medikamente schlagen nicht wirklich an, und seine Verzweiflung ist phasenweise heftig und schwer zu ertragen. Natürlich ist ein stationärer Aufenthalt kein Allheilmittel, aber ich würde es positiv werten, dass Deine Tochter da auch wirklich hin will.

Auch unser Sohn ist zwar nicht frühzeitig eingeschult worden, hat aber eine Klasse übersprungen. Schwierig war es irgendwie immer, aber mit der weiterführenden Schule hat er sich, eben weil er eine so geringe Frustrationstoleranz hat, sich generell nicht anerkannt fühlt, zum Underachiever entwickelt. Immerhin hat er seinen Abschluss gemacht, aber danach immer wieder etwas angefangen und nicht zu Ende bekommen. Nach außen hin gibt er gern die Schuld den anderen, die ihn nicht verstehen, aber er weiß schon gut, dass das nur die halbe Wahrheit ist.

Auch wenn es schwer ist, dass Deine Tochter noch so jung ist; und auch wenn es der Mutter verübelst, dass sie das nicht so annehmen kann, was mit Eurer Tochter passiert: Da geht jeder etwas anders mit um, und wenn da Vertrauen erst einmal weg ist, ist es immens schwer, das wieder aufzubauen.

Es bleibt mir, Deiner Tochter zu wünschen, dass sie in der Therapie Hilfe findet, und natürlich Dir viel Kraft zu wünschen. Ich bin mir sicher, dass Deine Liebe für sie spürbar ist, auch wenn sie das vielleicht nicht immer zeigen kann.

LG
Kerntemperatur
Beiträge: 8
Registriert: 17. Dez 2021, 08:21

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Kerntemperatur »

Guten Morgen alle zusammen,
@Chiemsee2021: vielen lieben Dank für Deine ausführliche Antwort!

Kaum setze ich mich hin um die Geschichte hier niederzuschreiben, da entwickelt sich wieder etwas weiter.
Kurz vor meinem Feierabend erhielt ich von meinem Kind eine Whatsapp-Nachricht: "Ich bin ein Junge. Ich bin mir sehr sicher."
Ich habe diese Nachricht an die Mutter weitergeleitet – aktuell tauschen wir uns aufgrund der SV-Situation sehr eng miteinander aus und informieren uns gegenseitig über unsere Diskussionen mit unserem Kind – und erhielt dann einige Nachrichten, die erkennen ließen, dass sie an dieser "Idee" große Zweifel hegt; bereits bei einem Gespräch mit der Erziehungsberatung vor über einem Jahr hat sie zu diesem Thema geäußert, das Thema "Transgender" sei ja momentan groß in Mode, ständig werde in "den Medien" ja darüber berichtet und sie hätte halt die Befürchtung, unser Kind könne sich da "etwas abgucken". Ich bin schon damals ob dieser unsinnigen Behauptungen fast aus der Haut gefahren – seine geschlechtliche Identität guckt man sich nicht ab, es ist keine Mode und dass die Menschen, die diese Problematik betrifft, sich jetzt endlich äußern können und nicht mehr verstecken müssen, ist nur ein Zeichen für eine längst überfällige Öffnung unserer Gesellschaft! Ich muss gestehen, ich war wegen ihrer Haltung da schon echt zornig – und bi es heute wieder, wenn ich erleben muss, wie sie gerade massiv auf die Bremse tritt und damit die (seelische) Gesundheit unseres Kindes aufs Spiel setzt!
Sie will lieber abwarten. N. sei ja ein Spätentwickler, die Pubertät habe ja noch gar nicht richtig begonnen, die Periode trete ja nur sporadisch auf, das Brustwachstum sei völlig unterentwickelt, sie könne sich vorstellen, dass N. deswegen lieber ein Junge sein wolle. Ich muss gestehen, ich mag auf solche Äußerungen jetzt gar nicht antworten, in meinen Ohren klingen sie nach jeder Menge Unverstand und viel Angst. Mir ist aber klar, je länger wir die Thematik herauszögern, desto schlimmer wird sich für unser Kind die Lage darstellen, desto mehr wird es darunter leiden, desto größer die Gefahr einer Verschlimmerung ihrer Depression und desto größer die Gefahr, dass es nicht beim SV bleibt.
Natürlich macht es keinen Sinn, jetzt irgendetwas zu überstürzen. Ich sehe keinen Grund, mit N. jetzt gleich von Arzt zu Arzt zu rennen, Pubertätsblocker, Hormonpräparate und was weiß ich was einzufordern. Ich möchte, dass sich N. in der neuen Situation erst mal zurecht findet. Mein Kind soll für sich jetzt erst mal herausfinden, ob die Entscheidung, als Junge leben zu wollen, die richtige ist und das Leben erleichtert. Alles weitere werden wir dann frühestens nach dem Klinikaufenthalt sehen. Ich habe aber die Hoffnung, dass der Leidensdruck durch diese Entscheidung etwas nachlässt.
Sehe ich da etwas falsch?
N. hat sich einen neuen Namen ausgesucht und möchte jetzt J. genannt werden. Den großen Bruder hat J. dann auch gleich per Message in Kenntnis gesetzt, seine Reaktion sei "sehr gut" gewesen, er zeige viel Interesse daran, wie es J. gehe. Ich bin stolz auf meinen großen Sohn, dass er mit einer solchen Thematik sehr entspannt umgeht.

Ich freue mich übrigens auf Eure Kommentare.

Habt einen schönen Tag!

KT
Herr Rossi
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Registriert: 2. Sep 2018, 08:19

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Herr Rossi »

Hi.

Soweit ich weiß ist deine Tochter für eine Behandlung in Richtung Geschlechtsangleichtung noch zu jung.
Dass sie eine massive Depression aufgrund ihrer Zweifel, oder besser gesagt Überzeugung hat, wundert mich allerdings nicht wirklich.
Deine Frau sollte aber schnellstens einsehen, dass sie die ganze Angelegenheit nicht wirklich besser macht. Das hat definitiv nichts mehr mit einer "Modeerscheinung" zu tun, da macht sie sich die Sache zu leicht.
Die Klinik wird erst mal einen Teil Druck wahrscheinlich rausnehmen und dass dein Sohn so gut reagiert finde ich klasse.
Deine Tochter kann sich ja mal im Netz umsehen, es gibt ein paar gute Foren zum Thema Transsexualität, da würde sie schon mal Informationen bekommen.

Grüße aus Schweden

Herr Rossi
Delicat
Beiträge: 22
Registriert: 23. Nov 2021, 13:55

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Delicat »

Lieber KT,
Mein Sohn (21) hat sich mit knapp 19 Jahren zunächst als non-binary “geoutet” und kurz darauf entschieden, dass er doch eher in die männliche Richtung tendiert. Er hat dann (mit meiner Unterstützung, als Asperger-Autist wäre er mit der Organisation überfordert gewesen) alles in die Wege geleitet, um zunächst eine Hormon- und Psychotherapie (letztere nur, weil er davon ausging, dass sie vom Gericht gefordert werden würde) zu machen und dann auch die rechtliche Namens- und Personenstandsänderung. Das lief alles überraschend unkompliziert – von offizieller Seite (Ärzte, Psychologen, Gericht) gab es nicht die geringsten Schwierigkeiten und auch privat eher wenige. Mein Mann und meine Mutter hatten die größten Probleme, die neue Situation zu akzeptieren, aber auch ihnen ist es letztendlich gelungen. Nachdem der behördliche Teil geregelt und die Hormontherapie am laufen war, hatte man wirklich den Eindruck, mein Sohn ist “angekommen”, er wirkte emotional stabiler und offener.

Bis dann Mitte diesen Jahres alles den Bach runter ging. Los ging es mit einer (wirklichen oder eingebildeten? Im Nachhinein würde ich letzteres vermuten...) Verdauungsstörung, die mein Sohn dann durch mehrere Ernährungsumstellungen versucht hat, alleine in den Griff zu bekommen. Beim Hausarzt war er 2x, ohne Ergebnis, alle Gastroenterologen waren auf Monate ausgebucht. Natürlich sehe ich jetzt, dass er schon vorher unter einer Ess-Störung gelitten hat, aber seinerzeit habe ich das alles noch darauf geschoben, dass Autisten (meiner Kenntnis nach) eben beim Essen pingelig sind. Außerdem war mein Sohn zeitlebens ein schwieriger Esser, so dass die “Steigerung” nicht wirklich auffällig war. Jedenfalls kam er im August zunächst für 5 Tage stationär auf die Innere. Als man ihm dort mitteilte, dass es keine körperliche Ursache für seine Beschwerden gebe, hat ihn das vollends umgehauen und er musste in die Psychiatrie verlegt werden. Zur Zeit ist er dort immer noch in der Tagesklinik – der 3. Versuch, die beiden ersten endeten mit einer Wieder-Einweisung auf Station, 1x freiwillig, 1x unfreiwillig.

Ich finde es sehr positiv, dass Dein Kind dem stationären Aufenthalt so offen gegenübersteht. Ich denke, das ist die beste Voraussetzung dafür, dass er auch ein Ergebnis bringt. Bei meinem Sohn hat das leider nicht so geklappt, weil er es (aufgrund seines Autismus) lange Zeit nicht geschafft hat, sich der Situation anzupassen. Erst ganz zum Schluss wurde es ETWAS besser. Leider hat er dort auch mit SV angefangen, was auch immer noch ein Thema ist. Wie Du so richtig schreibst, ist es manchmal die einzige Möglichkeit, den Druck loszuwerden. Meinen Vorschlag, in eine andere Klinik zu gehen, und zwar vorzugsweise in eine auf Ess-Störungen spezialisierte Klinik oder wenigstens in eine, die eine Station speziell für Jugendlich hat, lehnt er ab mit der Begründung, dass er unbedingt mit dem Psychologen weiter arbeiten möchte, dem er in der jetzigen Klinik zugeteilt wurde. Ich baue auf die gute Beziehung, die er offensichtlich zu ihm aufgebaut hat und hoffe, dass sich daraus Therapieerfolge ergeben, wenn es auch vielleicht etwas länger dauert.

Anfang der Woche hatte mein Sohn ein Vorgespräch in einer Klinik wegen einer OP zur Brustentfernung. Ich habe ihn dort hin begleitet und werde ihn auch weiter auf dem Weg unterstützen, wenn mir auch ehrlich gesagt mittlerweile Zweifel gekommen sind, weswegen ich die Bedenken Deiner Ex-Frau bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen kann. Momentan frage ich mich halt, ob die Transsexualität wirklich die bzw. eine der Ursachen für das gestörte Selbst- und Körperbild meines Sohnes war/ist, oder ob sie nicht vielmehr ein Symptom ist, ein „Vorwand“ (unbewusst), um über seinen Körper Kontrolle auszuüben, durch die Gabe von Medikamenten und letztendlich eben durch OPs. Seine Ess-Störung hat nämlich auch sehr viel mit Kontrolle zu tun. In dem Zusammenhang besteht er darauf, eine Laktose-Intoleranz zu haben, weigert sich aber, sich daraufhin testen zu lassen – die Gluten-Intoleranz, die er vorher zu haben glaubte, wurde durch einen Test widerlegt und jetzt will er wohl nicht das Risiko eingehen, dass es ihm mit der Laktose-Intoleranz ebenso ergeht, denn sie gibt ihm einen Grund, verschiedene Lebensmittel zu meiden. Es gibt eine kurze Liste mit Dingen, die er isst, und diese nach Möglichkeit zu festgelegten Uhrzeiten.

Letztendlich muss mein Sohn seinen Weg selbst finden und ich kann nur hoffen, dass er mit seiner Entscheidung glücklich wird. Und dass die Therapie ihm dabei hilft, die anderen Ursachen für seine Depression zu ergründen und aufzuarbeiten.

Dein Kind steht ja noch ganz am Anfang von diesem Weg und ich hoffe, Deine Ex-Frau kann sich trotz ihrer Bedenken dazu durchringen, die Unterstützung zu geben, die gebraucht wird. Was die Zukunft bringt, weiss niemand, und wir können nur versuchen, für unsere Kinder da zu sein.

Ganz liebe Grüße aus dem Nord-Saarland!
Kerntemperatur
Beiträge: 8
Registriert: 17. Dez 2021, 08:21

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Kerntemperatur »

Euch allen zuerst einmal einen guten Start ins neue Jahr!

Über die Weihnachtszeit haben sich wieder einige Änderungen ergeben, die ich Euch nicht vorenthalten möchte. Noch am Abend des 22.12. meldete sich die Klinik und teilte uns mit, dass N.(J.) am 28.12. aufgenommen werden könne. Wir haben also die Weihnachtstage im Wissen verbracht, dass sie schon zwei Tage nach Weihnachten mehrere hundert Kilometer entfernt in einer psychotherapeutischen Einrichtung für Kinder und Jugendliche aufgenommen wird, in der sie dann voraussichtlich die nächsten Monate verbringen wird.
Das ist erst mal gut. Ganz sicher. Aber es tut auch weh. Dieser ganze Prozess ist schmerzhaft.
Wisst ihr, 15 Jahre lang hatte ich eine Tochter, die ich über alles liebte. Sie war das Mädchen, das sich meine frühere Frau und ich uns immer gewünscht hatten, nachdem wir ja schon einen tollen Sohn hatten. Sie war ein Mädchen mit ganz speziellen Eigenschaften, mit einem speziellen Wesen, sie war meine "Dangermouse", sie war neugierig, aufgeschlossen, stark, mutig, klug, freundlich, mit jeder Faser ihres Seins einfach unheimlich liebenswürdig. Und plötzlich ist dieses tolle Mädchen weg. Einfach so, gefühlt von heute auf morgen einfach verschwunden, unbekannt verzogen. Stattdessen hockt ein missmutiger, grummeliger Junge mit schwarz-weißen Haaren am Tisch, die Mähne vor's Gesicht gezogen. Ein Junge mit Essstörungen und Depressionen, ein Junge, der sich in seiner ganzen Hilflosigkeit und Verlorenheit selbst verletzt, um noch etwas zu spüren. Ein Junge, der still ist, zurückgezogen, maulfaul, unfreundlich, unmotiviert, der seine Wünsche und Vorstellungen jedem, der es nicht wissen will, ungebremst ins Gesicht schleudert, der zornig und missmutig verbal um sich schießt und dabei alles niedermäht, was den Kopf zu weit aus dem Graben reckt. In erster Linie bekommt es (natürlich) seine Mutter ab, weil sie mit ihm in einem Haushalt lebt und somit auch das Gros der Konflikte mit ihm bestreiten muss. Mein Mädchen ist weg, dieser Junge ist da, er sitzt da am Tisch, ungefragt, ungebeten, benimmt sich daneben und sieht alles als völlig selbstverständlich an.
Ihr seht, in meinem Denken und Fühlen hat sich in letzter Zeit etwas grundlegend verändert. Ich merke, dass es mir zunehmend schwerer fällt, diese ihre Entscheidung zu akzeptieren. Im Stillen hoffe ich immer noch, dass sie irgendwann ankommt und sagt, "Okay, dieser Ausflug ins andere Geschlecht war nötig, ich musste das für mich herausfinden, aber jetzt bin ich wieder da". Ich weiß - an diese Hoffnung sollte ich mich nicht zu sehr klammern. Und meinetwegen soll sie als Junge wiedergeboren werden, denn letztlich geht es nicht darum, ob ich ein Mädchen oder einen Jungen habe, es geht um mein Kind. Aber was ich mir sehnlichst wünsche, ist dass ich diesen wunderbaren fröhlichen Menschen wiederbekomme, diesen jungen, gleichermaßen lustigen und ernsthaften Menschen, diesen neugierigen, offenen, positiven menschen, den ich scheinbar irgendwo verloren habe und nun vergeblich suche.

Bitte entschuldigt – auch alte, kleine, dicke Männer müssen sich mal ausheulen. Ist gerade alles sehr schwer.
Muschelsammlerin
Beiträge: 206
Registriert: 18. Dez 2016, 18:34

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Muschelsammlerin »

Hallo,
Zwar kann ich nicht wirklich mit gutem Rat dienen,- dieses Thema Transsexualität ist für mich Neuland und ich hatte nie damit zu tun,- aber ich möchte Dir sagen, dass ich Deinen Schmerz und Deine Verwirrung sehr gut nachvollziehen kann. Auch wenn es heute anders gesehen wird,- ich bin der altmodischen Meinung, dass ein Jugendlicher unter 18 nicht so leichtfertig Veränderungen an seinem ,- sicherlich momentan ungeliebten-, Körper vornehmen lassen sollte, die so schwerwiegend sind.
Jedenfalls hätte ich, wenn ich ein Elternteil eines solchen Kindes wäre, sehr große Schwierigkeiten damit.

Ich erinnere mich gut daran, wie ich mit 15 war....auch verwirrt, unsicher, ohne gefestigte Persönlichkeit, denn die brauchte erstmal Zeit zu reifen. Ich mochte meinen Körper auch nicht, fand mich zu groß, zu eckig und häßlich. Mitten in der Pubertät sind doch alle möglichen Gefühlsverwirrungen möglich.
Wahrscheinlich werde ich jetzt gesteinigt, aber mich beschleicht manchmal das Gefühl, dass dieses Thema in den Medien sehr "hochgejubelt" wird und es quasi beinahe eine Art Mode geworden ist, am eigenen Geschlecht zu zweifeln.
Natürlich gibt es Menschen, die sich im falschen Körper gefangen fühlen und ich bin sehr dafür, dass man ihnen hier sowohl psychisch als auch medizinisch Hilfestellung gibt,sich als "richtiger" Mensch zu fühlen....nur denke ich, man muss erwachsen sein, um diese schwerwiegenden Veränderungen , -ich meine damit vor allem OP´s -, vorzunehmen.
Was täte ich an Deiner Stelle? Ich wäre bestürzt, verwirrt, traurig....so leicht könnte ich es jedenfalls nicht wegstecken.Ich würde versuchen, Zeit zu gewinnen. Kann man diese Entscheidung nicht vielleicht noch etwas aufschieben? Reicht es für eine Weile, wenn Dein Kind erstmal äußerlich durch Kleidung, Frisur ,Namen usw. ein Junge ist?
Ich sende Dir mal ganz viel Kraft und hoffe, Dein Kind findet seinen Weg. Alles Gute für Euch!
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Liebe Grüße von der Muschelsammlerin
Delicat
Beiträge: 22
Registriert: 23. Nov 2021, 13:55

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Delicat »

Lieber KT,

zwar kann ich nicht behaupten, dass mein Sohn umgänglicher war, solange er sich noch mit seinem weiblichen Körper identifiziert hat (im Gegenteil war es so, dass er, wie schon erwähnt, zu Beginn der Transformation eine sehr gute Phase hatte), aber das Vermissen kann ich sehr gut nachvollziehen. Wobei ich das in meinem Fall nicht am Geschlecht fest mache, sondern daran, dass da mal eine Person war, die zwar ihre Ecken und Kanten und Probleme hatte, bei der ich es aber nicht ertragen musste, Verzweiflung, Selbsthass, SV etc. mit anzusehen. Was würde ich darum geben, wenn ich das Rad der Zeit zurückdrehen könnte...

Zur Transsexualität noch folgendes aus meiner eigenen Erfahrung:die Ärzte und Psychologen, die dafür bekannt sind, dem Thema offen /positiv gegenüber zu stehen, werden immer weiter empfohlen, so dass es praktisch nicht vorkommt, auf jemanden zu stoßen, der Einwände erhebt oder Zweifel geltend macht. So wird das dann irgendwie zum Selbstläufer. Natürlich würde ich niemandem wünschen, sich mit einem transphoben Arzt oder Psychologen auseinandersetzen zu müssen. Trotzdem wäre kritisches Nachfragen meiner Meinung nach manchmal wünschenswert. Ich weiss nicht, wie die Bestimmungen für Minderjährige sind, da mein Sohn schon volljährig war, als er die Sache angegangen ist, aber ich würde Euch wirklich wünschen, dass man irgendwelche Behandlungen tatsächlich erstmal noch aufschiebt.

Alles Gute
Delicat
Kerntemperatur
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Kerntemperatur »

Guten Morgen Muschelsammlerin, Delicat und alle anderen hier,
in der Klinik, in der mein Kind zur Zeit weilt, hat man beschlossen, sich der Genderproblematik nicht anzunehmen, weil es mit 15 Jahren da einfach noch etwas früh erscheint – vor allem aber, weil es sich dabei nun mal nicht um eine Erkrankung handelt. Und den Ansatz finde ich eigentlich ganz gut. Ja, er wird dort mit seinem männlichen Vornamen angesprochen, ist aber in einer Mädchengruppe untergebracht - das verwendete Pronomen bleibt weiterhin beim "sie".
Spannend finde ich zum einen, dass ich an jedem zweiten bis dritten Fenster der Jugendklinik die Regenbogenflagge und andere Insignien der LGBTQ-Community entdecken durfte – diese Thematik scheint doch eine recht häufige Ursache oder Begleiterscheinung bei seelischen Erkrankungen zu sein.
Vorgestern scheint es dort zu einer triggernden Kettenreaktion gekommen zu sein, die ganze Mädchengruppe war wohl in Aufruhr und scheint sich gegenseitig aufgeschaukelt zu haben. Gestern bekam ich von der behandelnden Ärztin einen Anruf, dass mein Kind sich wohl erneut selbst verletzt hat und außerdem behaupte, Stimmen zu hören und Schatten zu sehen. Jetzt wird also nochmals an der Medikation geschraubt, um zumindest diese Überagitiertheit in den Griff zu bekommen. Ein Wochenendbesuch zuhause wurde aber zumindest schon mal untersagt, das war der Klinik zu heikel.
Was macht das ganze mit mir? Natürlich war ich nach dem Telefonat erst mal einigermaßen in Aufruhr. Es ist für mich extrem schwer erträglich, dass mein Kind hier gerade eine innere Hölle durchmacht und ich keine Möglichkeit habe, ihm da zu helfen; ja, ich weiß, mit meinem Verständnis und meiner Unterstützung, meinem Wohlwollen und meiner Akzeptanz nehme ich ihm viel Druck von den Schultern. Aber ich kann es nicht gesund und glücklich machen, und das zerreißt mich innerlich.
Ich habe meinen Therapeuten, den ich eigentlich seit letztem Jahr nicht mehr zu brauchen glaubte, angeschrieben und um einen Gesprächstermin gebeten – ich denke, dass ich nicht versuchen muss, das alles allein hinzubekommen, da ist professionelle Hilfe sicher ein guter Rat.

Wisst Ihr, was der Irrwitz ist? Ich habe selbst lange Jahre an Depressionen gelitten und diese Hölle durchgemacht, bis hin zu suizidalen Gedanken. Es hat mich über zwanzig Jahre meines Lebens gekostet, ein stabiler und zufriedener Mensch zu werden. Ich habe meine Erfüllung darin gefunden, meine Altruistische Ader in gesunden Bahnen auszuleben, ich bin in die Feuerwehr eingetreten, um meinem Tun und Handeln Sinn zu verleihen und habe mich entschlossen, eine Ausbildung zum Notfallseelsorger zu beginnen (in zwei Wochen geht es los). Ich war der Meinung, dass ich in meinem Leben genug Sche**e erlebt habe, um mitfühlen zu können, wie es Menschen in Notlagen ergeht, ich weiß wie es ist und was geschieht, wenn man nicht rechtzeitig die passende seelische Hilfe und Unterstützung bekommt und wie sehr es das restliche Leben beeinflussen kann. Und jetzt kommt mein Kind und erteilt mir, bevor die Ausbildung beginnt, die heftigste Lektion seit langem. Man könnte es als Ironie des Schicksals bezeichnen.
Nein, ich lasse mich nicht irritieren.
Herr Rossi
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Herr Rossi »

Hallo KT.

Deine Tochter (?) trifft es jetzt natürlich doppelt hart. Nicht nur der zweifel am eigenen Geschlecht, sondern auch noch die Pubertät. Da würde ich jetzt auch nicht durch wollen.

Ich glaube gar nicht mal, dass diese Gendergeschichte eine Modeerscheinung ist. Nur früher konnte man damit nicht an die Öffentlichkeit gehen, weil sie einen sonst zerfetzt haben. Mittlerweile ist es ein wenig leichter geworden, vielleicht liegt es daran.

Leider kann ich dir in dieser recht speziellen Situation keinen Rat geben, außer dem, durchzuhalten. Die Pubertät wird vorbei gehen, und dann hast du dein Kind wieder.
Das Thema OP ist ja noch ein Stück weit entfernt, schon deshalb, weil sie noch zu jung ist.

Ich drück dir die Daumen. Und ich finde es toll, wie du mit dem Thema umgehst!

Herr Rossi
Kerntemperatur
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Kerntemperatur »

Herr Rossi hat geschrieben:Hallo KT.

Deine Tochter (?) trifft es jetzt natürlich doppelt hart. Nicht nur der zweifel am eigenen Geschlecht, sondern auch noch die Pubertät. Da würde ich jetzt auch nicht durch wollen.

...

Ich drück dir die Daumen. Und ich finde es toll, wie du mit dem Thema umgehst!

Herr Rossi
OT: Ich wünsche mir einen Like-Knopf für Eure Antworten!
Herr Rossi
Beiträge: 166
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Herr Rossi »

Hallo KT.

Vielleicht lehne ich mich hier zuweit aus dem Fenster, aber ist bei deiner Tochter mal in Richtung ND untersucht worden?
Ich habe etwas gegoogelt und es scheint eine beeindruckend hohe Zahl an ND in der Geschlechterproblematik zu geben.

Nur mal so am Rande erwähnt.

Grüße

Herr Rossi
Delicat
Beiträge: 22
Registriert: 23. Nov 2021, 13:55

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Delicat »

Herr Rossi hat geschrieben:Vielleicht lehne ich mich hier zuweit aus dem Fenster, aber ist bei deiner Tochter mal in Richtung ND untersucht worden?
Ich habe etwas gegoogelt und es scheint eine beeindruckend hohe Zahl an ND in der Geschlechterproblematik zu geben.
Hallo Herr Rossi,

angeblich gibt es ja keine dummen Fragen, also traue ich mich einfach mal: was bedeutet ND? Neurodiversität?

Danke.
Delicat
MeinName
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von MeinName »

Hallo,
auch ich halte mich von Ratschlaegen fern und stelle lediglich eine Frage in den Raum:
Da die Geschlechterrollenfindung und Selbstfindung von heranwachsenden, sehr jungen Menschen, noch ganz am Anfang steht, koennte es nicht auch lediglich ein Zeichen dafuer sein, dass Deine Tochter sich selbst sucht, nach ihrer Weiblichkeit, dem Frausein, der weiblichen Leiblichkeit und Selbstliebe?

Was aktuell an wirren Ideologien in den Medien kursiert, kann allerhand Schaden bei der Entwicklung zur Frau oder zum Mann verursachen. Ich beobachte das mit Sorge.
Gertrud Star
Beiträge: 3441
Registriert: 30. Jun 2014, 19:09

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Gertrud Star »

Hi,

das halte ich nicht für unmöglich, dass ND neurodivers heißt und da einige Menschen mehr als üblich dabei sind, die auch trans sind oder dies auch nur meinen.

Ich sage das mal vor dem Hintergrund, dass es bei mir ein ähnlich gelagertes Problem gibt, wo ich mich wo zugeordnet habe, das allerdings dann mal von jemandem aktiv hinterfragt wurde und dann eine andere Problematik auftauchte, die viel wahrscheinlicher ist.
Bei mir entstand diese "Zusatzsache" in einer sehr stressigen Zeit, wo ich mit meinen Lebensanforderungen aufgrund Überschuldung und den daraus entstehenden Lebensproblemen völlig überfordert war. Später im Zusammenhang mit dem Verweilen im psychiatrischen Versorgungssystem entstand noch ein weiteres zusätzlches Ding, was ich dann als Therapieschaden bezeichnen würde.

Vor wenigen Jahren las ich mal einen Artikel über Transmenschen, die sich wieder rückorientierten, weil sie einen Irrtum bemerkten. Sie hätten sich im Nachhinein ein aktives Hinterfragen gewünscht, und dem kann ich mich nur anschließen. Sie alle schrieben, sie waren sehr von dem aktuellen Diskurs in den Medien beeinflusst.

Es gibt Fälle, wo man sich als Betroffener und Behandler damit auseinander setzen muss.
Es gibt aber auch Fälle, da geht es jemandem so schlecht, dass erstmal die Krankenbehandlung vorrangig ist, der "Rest" dann allerdings nicht ausgespart werden darf.

Aber: Randgruppen in der Psychiatrie und Psychotherapie, da stehen wir immer noch total am Anfang.

Das nur als Denkanstöße.
Ich weiß, ich bin da nicht die Allwissende und auch nicht unbedingt politisch im Mainstream.

Alles Gute
Gertrud
Herr Rossi
Beiträge: 166
Registriert: 2. Sep 2018, 08:19

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Herr Rossi »

Hi.

Tschuldigung.
Ja, mit ND meinte ich neurodivers.
Es gibt offenbar Studien, dass es 5 - 7 mal mehr neurodiverse Menschen es in dieser Gruppe gibt.
Außerdem haben diese Menschen psychisch gerne mal so einen Druck, dass es in einer massiven Depression enden kann.
Und wenn, wie in diesem Fall, auch noch das sehr junge Alter und die Pubertät dazu kommt, hat man natürlich das volle Programm.
Ich bin mir nicht sicher, ob zuerst der mediale Hype oder der Zweifel da war. Das ist irgendwie wie zuerst Ei oder Huhn. Aber es hat durchaus einen Grund, warum in diesem Alter noch nicht an eine OP oder so gedacht wird.

Grüße

Herr Rossi
Delicat
Beiträge: 22
Registriert: 23. Nov 2021, 13:55

Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Delicat »

Hallo,

auf meinen Sohn trifft neurodivers zu, deshalb habe ich nachgefragt. Massive Depression leider auch, und dass Randgruppen es in Psychiatrie und Psychotherapie schwer haben, kann ich auch nur bestätigen.

Mit 21 strebt mein Sohn jetzt eine erste geschlechtsangleichende OP an, allerdings sind die Hürden für die Kostenübernahme durch die Krankenkasse ziemlich hoch. Hat mich überrascht, weil alles andere in dem Zusammenhang fast ein Selbstläufer war. Wir werden sehen.

LG
Delicat
Kerntemperatur
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Kerntemperatur »

Guten Morgen Ihr alle,

ND ist definitiv zumindest eine Betrachtung wert – diese Thematik ist mir allerdings tatsächlich noch kein Begriff gewesen, da muss ich mich also erst mal einlesen, bevor ich mir darüber ein Urteil bilde.

Momentan bin ich auf folgendem Standpunkt:
Meine Tochter ist, was ihre körperliche Reife angeht, eher ein "Spätentwickler", sprich, ihre äußeren Geschlechtsmerkmale haben noch nicht den altersüblichen Entwicklungsstand erreicht, also das Brustwachstum ist als deutlich "unterdurchschnittlich" zu bezeichnen, ihre Menstruation kommt dann, wenn sie gerade mal Lust hat (also in aller Regel nicht) und auch sonst hat sie kaum "frauliche Attribute" vorzuweisen. Aber: als "Kann-Kind" wurde sie schon mit 5 Jahren eingeschult und ist heute, in der 10. Klasse, noch immer die zweitjüngste ihrer Jahrgangsstufe. Sie geht mit Mädchen in eine Klasse, die im Gegensatz zu ihr wie erwachsene Frauen daherkommen, die deutlich älter sind (z.T. 17, fast 18 Jahre alt), körperlich deutlich weiter entwickelt, die ganz andere Interessen haben und sie dementsprechend dann auch als "die Kleine" schon mal links liegen lassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Umstände in ihr eine gewisse Abwehr- oder Trotzreaktion hervorrufen, vor allem aber auch zu Gefühlen der eigenen Abwertung u.ä. führen.

Kognitiv ist sie deutlich reifer als es ihre körperliche Entwickung vermuten lässt, emotional ist sie ja eigentlich eine ganz normale pubertierende Jugendliche. Die Tragweite dieser Diskrepanz wird deutlich, wenn man ihren (mehrfach getesteten) IQ von 133 daneben stellt – sie hat als fast-Jüngste der Klasse erwachsenere Interessen und Einstellungen als die die deutlich älteren Klassenkamerad:innen. Mit Lippenstift und Modetipps konnte sie noch nie etwas anfangen, stattdessen diskutiert sie halt leidenschaftlich und mit viel Verve über gesellschaftspolitische Themen – Spiegel statt Bravo, sozusagen.

Sie hat beschlossen, als Junge zu leben. Das werde ich vorläufig mitspielen, ich will ihr das Wissen vermitteln, dass ich sie ernstnehme und dass sie in mir immer einen vertrauensvollen Ansprechpartner hat. Für solche Dinge wie Hormonbehandlungen, geschlechtsangleichende Operationen, Geschlechtsänderungen beim Standesamt usw. ist es noch viel zu früh, hier spielt die Zeit quasi auf unserer Seite. Sollte sie sich im Laufe der Jahre wirklich in der Jungen-/Männerrolle wohlfühlen, werde ich sie bei allen Schritten unterstützen; bis dahin aber werd ich mich darauf beschränken, einfach an ihrer Seite zu sein und sie zu beschützen, solange das nötig ist.

LG Kerntemperatur
MeinName
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von MeinName »

Hallo,

jeder Mensch ist ein Original, einzigartig. Dies abseits von Geschlecht, IQ, EQ, Beruf ect. Im Eigentlichen braucht es ein ganzes Leben, um irgendwann als Schmetterling aus seiner Puppe zu entschlüpfen, dies als Metapher des Menschen hier auf Erden sangedacht. Dass jeder dabei ein eigenes Schicksal durchläuft, soll uns eher ermutigen, denn wenn Vergleiche gezogen werden, wird die Individualität und Einzigartigkeit eines Menschen verneint, ob alt oder jung. Den Norm-Menschen gibt es nicht.

Welche Träume und Herzenswünsche hat Deine Tochter, und was fasziniert Sie?
Übrigens, es kommt nicht auf die Grösse der Brüste oder Rundungen einer Frau an, zwei meiner Freundinnen waren extrem flachbrüstig und eher nicht rundlich an Figur, beiden wurden Mütter von drei Kindern und stillten auch.

Dass sich Deine Tochter auf die Klinik freut, kann ich gut nachfühlen. Alles Gute Deiner Tochter!

Und da ist noch der Papa, dem das sehr nahe geht, ja? Zwei "Baustellen", da braucht es viel Geduld und Zuversicht. Ich lese viel Zuversicht aus, in und zwischen den Zeilen

Herzlich
MeinName
Gertrud Star
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Gertrud Star »

Das ist doch wunderbar mit dem hohen IQ deines Kindes. Ich freue mich sehr darüber und vor allem, dass das per Test sogar festgestellt wurde, letzteres ist nämlich nicht unbedingt üblich, wenn man einmal die psychischen Diagnosen "verpasst" bekam.
In meiner Herkunftsfamilie kommen auch IQs dieser Größenordnung vor, wobei mein eigener IQ wegen Jahrzehnten Unterforderung und Krankheit und Armut nicht mehr ermittelbar ist sondern nur noch total grob geschätzt werden kann anhand meines früheren Lebens vor der Überschuldung, Anlerntätigkeiten und Krankheit.

Ich war auch so ein eher kleines etwas spät entwickeltes Mädchen mit höhrem IQ, welches aber so aufwuchs, dass das nie eine Rolle spielen durfte. Ich wohnte sehr ländlich und war ein Kind in den 70er Jahren, in einer überforderten Familie eher aus der Arbeiterschaft, wo man nicht stolz auf solch einen IQ und Abitur- und Studienwunsch sein sollte.

Dementsprechend wichtig finde ich es, dass auch die Mädchen mit solchen IQs stolz auf sich sein dürfen und dass man diesen das auch vermittelt.

Mir wäre vieles erspart geblieben, hätte ich es gelernt stolz auf mich sein zu dürfen: Ich hätte mich besser durchsetzen können, eine bessere Meinung von mir gehabt. Ich wäre wahrscheinlich nicht in der. Überschuldung gelandet mit samt dem Rattenschwanz, den das nach sich zog mit Arbeiten in Anlerntätigkeiten und noch schlimmeren Krankheiten.
Auch in Bezug auf Psychotherapie hätte es dann anders laufen können aus oben genannten Gründen.

Vielleicht wäre der Verein Mensa etwas für deine Tochter. Die machen auch viel mit Jugendlichen und es sind auch Mädchen dabei.
Und vielleicht auch mal selber den IQ testen lassen? Denn der kommt ja nicht von irgenwoher ;)

LG und viel Glück euch beiden.

Lesetipps:
Katharina Fietze "Kluge Mächen"
James T. Webb "Doppeldiagnosen Fehldiagnosen bei Hochbegabung"
Kerntemperatur
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Kerntemperatur »

Gertrud Star hat geschrieben:Das ist doch wunderbar mit dem hohen IQ deines Kindes. ...

Vielleicht wäre der Verein Mensa etwas für deine Tochter. Die machen auch viel mit Jugendlichen und es sind auch Mädchen dabei.
Und vielleicht auch mal selber den IQ testen lassen? Denn der kommt ja nicht von irgenwoher ;)

LG und viel Glück euch beiden.
Liebe Gertrud,
danke für Deine aufmunternden Worte. Ich denke, das Thema mit dem hohen IQ (in der Klinik ist der Umstand bekannt) gehen wir an, wenn sie wieder zurück ist. Das ist halt auch eine zusätzliche Baustelle, die aber durchaus mit den anderen zusammenhängen kann. Leider ist das oftmals mehr Fluch als Segen – aber das müssen wir abwarten.
Was meinen eigenen IQ angeht – ja, der wurde auch getestet, sowohl in der Jugend (auch ich war kein "problemloses" Kind), als auch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Ich geh' mit dieser Zahl nicht hausieren, so hoch wie der meiner Tochter war er aber nicht. Aber er scheint dazu geführt zu haben, dass ich (für meine Begriffe zu spät eingeschult) schon in der Grundschule mehr an Langeweile litt als an Überforderung.
Ich sehe bei meiner Tochter aber eben eines: Kognitive Fähigkeiten und die daraus erwachsenden Vorteile gehen leider nicht zwangsweise Hand in Hand mit emotionalen Fähigkeiten oder seelischer Stabilität. Glaub mir, ich hab mir schon oft Gedanken darum gemacht, ob ihre Persönlichkeit vielleicht Merkmale des Autismusspektrums besitzen könnte – aber letztlich komme ich immer wieder zu dem Punkt: Nein. Hat sie nicht. Braucht sie auch nicht.
Saskia1972
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Saskia1972 »

Lieber KT

Das Thema Depression und Selbstverletzungen kenne ich leider von meiner ebenfalls 15-jährigen Tochter her sehr gut. Sie war immer ein sehr fröhliches Kind gewesen, mit 13 änderte sich das dann ganz plötzlich und ohne erkennbaren Grund. Sie musste dann wegen Suizidalität sogar in eine Klinik, wurde mit einem Neuroleptikum und einem Antidepressivum behandelt. Das bewirkte keine Besserung. Sie hörte Stimmen, litt unter massiven Stimmungsschwankungen und Spannungszuständen. In der Klinik übernahm sie dann noch Verhaltensweisen der anderen, manchmal schaukelten sich alle gegenseitig hoch, es war schrecklich.
Da meine Schwester unter einer Zöliakie leidet, klärten wir das dann ab, als meine Tochter endlich wieder daheim war (sie war überhaupt noch nicht stabiler, aber sie wollte unbedingt heim und in der Klinik ging es ihr immer schlechter.) Meine Tochter hatte keine der „typischen“ Symptome für Zöliakie wie Durchfall oder Bauchschmerzen. Aber meine Schwester hatte uns erzählt, dass sie, wenn sie versehentlich Gluten erwische, jedesmal ca. 24 Stunden später vorübergehend in depressive Zustände komme. Die Klinik hielt es dennoch nicht für nötig, Zöliakie abzuklären. Die Blutanalyse und die anschliessend Biopsie wies dann bei meiner Tochter Zöliakie nach. Ich begann dann zu recherchieren und fand anhand medizinischer Fachartikel heraus, dass Zöliakie, eine Autoimmunkrankheit, (in seltenen Fällen) zu plötzlichen Wesensveränderungen, Depressionen, Stimmungsschwankungen und psychotischen Symptomen führen kann. Der Gesundheitszustand meiner Tochter verbesserte sich mit der Umstellung auf die strikt glutenfreie Diät, und dies parallel zur Normalisierung ihrer Antikörperwerte. Die Selbstverletzungen hörten auf, die psychotischen Symptome verschwanden plötzlich, sie war wieder fröhlich. Alle Medikamente konnten ohne Probleme ausgeschlichen werden. Sie war allerdings noch nicht sehr belastbar und litt ab und zu unter Panikattacken. In dieser Phase fühlte sie sich plötzlich genderfluid, wollte anders genannt werden, fand es dann aber ok., dass wir als Familie sie weiterhin mit ihrem Mädchennamen ansprachen, während ihr Freundeskreis den neuen Namen benutzte. Das Thema Homosexualität, nonbinary, trans, etc. war in ihrem Freundeskreis das grosse Thema, vielleicht auch gefördert durch gewisse soziale Medien. Da bei meiner Tochter aber nie das Thema aufkam, sie wolle nur noch ein Junge sein, hat sich die Frage einer Hormontherapie zum Glück nie gestellt. Nach ungefähr einem halben Jahr war das alles irgendwann kein Thema mehr. Die millimeterkurzen Haare liess sie sich wieder wachsen, den zusätzlichen Namen benutzt sie nicht mehr.
Ich weiss, dass eine somatische Krankheit bei Jugendlichen wohl eher selten die Ursache für psychische Symptome ist. Aber ich habe auch schon von einem Mädchen gehört, bei diesem hatten Hormonstörungen zu Depressionen geführt. Die Situation Deiner Tochter hat mich ein wenig an meine Tochter erinnert, und wenn die SV und die Depression mit einer somatischen Krankheit Zusammenhängen könnte, wäre es gut, das herauszufinden.
Bei meiner Tochter war die Frage nach ihrer Geschlechtsidentität Ausdruck einer schwierigen Selbstfindung und einer schwierigen Zeit, und es war vorübergehend. Wenn diese Frage bei Deinem Kind bleibt, dann ist es natürlich wichtig, dass Du es darin weiterhin so gut unterstützt!
Ich hoffe, dass es Deinem Kind bald wieder gut geht!
Alles Gute
Gertrud Star
Beiträge: 3441
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Re: Meine Tochter (Achtung, Triggergefahr! SV)

Beitrag von Gertrud Star »

Hallo,

ich melde mich dann auch nochmal zu dem Thema, obwohl ich ja schon älter bin, bin Mitte 50.

Ich gehöre zu den Mädels, die schon in der Schule immer sehr gut waren, egal ob es zuhause Stunk gab. Mein Traum war das Abitur und dann ein Studium. Ich komme aus der DDR und das aus einer sehr ländlichen Gegend. Mit der Familie war es nicht einfach, weil diese keine Tradition diesbezüglich hatte und meinen Abiturwunsch gar nicht vernahm. Ich machte trotzdem Abi und studierte. Nachdem ich in der Jugend oft deswegen zu hören bekam, dass aus mir nie etwas wird und mich keiner will und ähnliches, schaffte ich es trotzdem gut bis zum Ende des Studiums.
In der Familie wurde ich vorher völlig unbeabsichtigt zum schwarzen Schaf gemacht, und das hat sehr viel mit der Intelligenz und den daraus erwachsenden Wünschen zu tun (passte aber nicht zu den Erfahrungen damals und den Erwartungen an ein Dorfmädel).

Mitten im Studium starb mein Vater sehr jung.
Ich meine, spätestens damals wurde ich dann depressiv, denn er war der Einzige so intelligente Mensch, den ich kannte und der auch studierte. Ich wurde dann sogar ins Ausland geschickt für ein Austauschsemester. Während ich dort war, ging die deutsche Grenze auf.
Und die Unsicherheit ging los.
Ich hatte etwas studiert, was man in Westdeutschland nicht brauchen konnte, nämlich Ingenieurswesen in einer Branche, die durch die deutsche Wiedervereinigung weg war. Ein halbes Jahr nach meinem Studium war ich dann arbeitslos in einer Gegend mit wahrscheinlich 30 Prozent Arbeitslosenquote, im Rahmen von Massenentlassungen.

Durch einen Fehler und den Übereifer eines anderen Menschen landete ich in einer Überschuldung und Anlerntätigkeit in Vollzeit samt Fern- und Tagespendeln. Darüber wurde ich richtig depressiv.
Ich begann als junge Frau nachzudenken, womit das wohl zu tun hat. Ich "infizierte" mich irgendwie mit einem Traumathema und interpretierte eine frühere Begebenheit völlig falsch, und hielt diese doofe Zeit irgendwie durch. Am Anfang dieser Zeit bekam ich keine Periode mehr. Keiner hatte eine Erklärung, und ohne Hormone von außen kam die Periode auch nicht wieder.

Diese Anlerntätigkeit machte ich im wesentlichen 6 Jahre lang, bis ich wieder gekündigt wurde. Zwischenzeitlich machte ich Therapie und war auch in einer Klinik. Auch regelmäßig Psychiaterbesuche und Tabletten zählten dazu.
Am Ende hielt ich es kaum mehr aus, musste aber der Schulden wegen...
Ein Intelligenztest oder ähnliches wurde bei mir nicht gemacht und dementsprechend kam es auch nie wirklich zu einer Verbesserung des Zustandes, weil niemand merkte, wen er vor sich hat. Ich war Hilfsarbeiterin, psychisch krank, Frau, etwas klein und pummelig und hatte eine praktische Kurzhaarfrisur. Da denkt niemand mehr an Intelligenz. Ich war allen ein Rätsel,

Einzig wegen der notwendigen Umschulung wurden mal Tests gemacht, mir aber kein Ergebnis mitgeteilt. Ganz so als ob ich von einem anderen Stern käme.
Führte ich doch inzwischen das Leben von einer, wo man annimmt, sie hätte nicht mal die Hauptschule ordentlich geschafft. Frühere Schulnoten sagte man mir, wären irrelevant.

Die Umschulung schaffte ich natürlich nicht mehr. Ich war ja auch nicht therapiert, und Vollzeit mit Fernpendeln ein drittes mal im Leben war auch sehr ungünstig.

Danach wurde ich eher nur noch mit Sozialhilfe im psychiatrischen System verwahrt mit regelmäßigen Arztbesuchen und eine Therapie versuchte ich auch noch 2mal, gelang wieder nicht.
Mit Hartz IV (da war ich dann schon 40 Jahre) bekam ich noch zusätzlich somatische Probleme.
6 Jahre lang wurde ich von Gutachter zu Gutachter geschickt, wegen der Feststellung meiner Erwerbsfähigkeit. Weder die DRV noch das JC wollten zahlen. Mit Anfang 40 wurde ich in Rente geschickt.

Vorher hatte ich noch paarmal so Interpretationsversuche von Ereignissen (siehe oben), die schief gingen und mich tiefer in die Krankheit rissen.
Auch das Thema sexuelle Identitiät kam ganz ernsthaft auf, über lange Zeit. Weil, irgendwas muss ja sein, wenn ich so lange in dem psychiatrischen Versorgungssystem festhänge und sich auch im Leben nix tut, obwohl ich doch so intelligent bin und auch motiviert.

Erst als ich um die 50 Jahre war, kam meine Nichte an mit ihrem IQ-Ergebnis, was tatsächlich im Hochbegabungsbereich liegt. Ich informierte mich darüber und merkte dann beim Lesen und auch durch Gespräche mit einer Person (die damals schon länger dauerten), dass bei mir etwas in der Richtung sein könnte. Heute würde ich sagen, obwohl ein IQ-Test bei Mensa nur noch einen Durchschnittswert zeigte, dass ich (gefühlt) früher mal recht nahe an der Hochbegabung (nach dem Mensa-Kriterium) lag (nach neueren Definitionen sicher in diesem Bereich).

Plötzlich klärte sich alles auf. Die Probleme in der Pubertät, die immer guten Schulnoten, das Angeschreie daheim, die Probleme wegen Hilfsarbeiten, die daraus sich verfestigten psychischen Probleme und auch die ausgebliebene Periode. Ich war als junger Mensch schon sehr erschöpft und verletzt und unsicher.
Der Mensch, mit dem ich regelmäßig redete, vermutete zuerst, ich wäre völlig falsch einsortiert mit der Krankheit und wäre nur hochbegabt.

Das einzige, was ich in psychiatrischen und psychologischen Praxen zu hören bekam dazu war:
Schulnoten sind irrelevant.
Gibt es in ihrer Familie Manien oder Psychosen?
Auch solche Menschen wie Sie sind liebenswert.
Bei einer Therapeutin, die aber keine freien Plätze hatte, sah ich an den Augen trotz Corona-Maskierung, was sie fühlte und an ihren Worten vernahm ich, dass sie schonmal etwas von Hochbegabung hörte.
Und mit meiner Frauenärztin konnte ich über die Amennorrhoe reden, nachdem ich selbst anhand von einem Zeitschriftenartikel über Hochleistungssportlereinnen und eine Fernsehsendung über weibliche KZ-Häftlinge sowie Infos über Anorektikerinnen darauf gekommen bin, dass ich in jungen Jahren schon völlig überlastet war.

Jetzt stehe ich mit verschlimmerten psychischen Krankheiten da, immer noch ohne Sozialleben, in der Sozialhilfe festhängend, und nach wie vor ohne verwertbaren Berufsabschlusss.

Bei mir ist das alles sehr unglücklich gelaufen.
Gut, das hat auch etwas damit zu tun, dass ich nicht zu den jüngeren Generationen gehöre und mit der deutschen Wiedervereinigung schon "verloren" habe.
Es hat aber auch mit sozialer Ungerechtigkeit zu tun und mit dem Unwissen über Hochbegabung.
Dass das Problem mit den sexuellen Identitäten aufkam, ist Folge von Therapie (Therapiefehler kann man dazu nicht wirklich sagen, denn das Thema Hochbegabung kommt ja gar nicht in der Ausbildung der entsprechenden Berufsgruppen vor). Eher ist es auch ein finanzielles Problem von mir und dem Kassensystem, sonst wäre sorgfältiger diagnostiziert worden und der IQ-Test früher aussagekräftiger gewesen.
Es ist aber auch ein Folgeproblem der Überschuldung, denn ansonsten wäre ich nicht ohne Ausbildung in einen völlig ungeeigneten Job (denn Lagerist ist auf Dauer für Menschen mit sehr hohem IQ oft ungeeignet, zumindest wenn man nix erklärt oder schwerkrank ist) .. Also man kommt krank, alleine, überschuldet in ein nicht besonders geeignetes Arbeitsumeld und muss damit klar kommen.
Schlicht gesagt, ich komme in der Vorstellungswelt der meisten gar nicht vor.

In ein paar Jahren bin ich in Altersrente, die ich wahrscheinlich in Sozialhilfe verbringen werde, denn die Rente ist sehr niedrig.
Deshalb freue ich mich immer, wenn bei jungen Menschen schon das Thema IQ mit aufgegriffen wird und nicht so völlig untergeht wie bei mir, und dann zu noch viel mehr Folgeproblemen führt.
Meine Nichte macht scheinbar jetzt ihren Weg, nachdem sich ihre Eltern lange gegen sie gestellt haben mit ihren Vorstellungen, die in der heutigen Zeit nur noch zu schlechten bis maximal mittelguten Realschülern passen. Sie hat auch eine schwere Last mitbekommen.

Uff eigentlich wollte ich jetzt nicht soviel schreiben, ist ja für jüngere Leute nicht so interessant und hilfreich und auch nicht für Leute, die sozial nicht so sehr weit unten angesiedelt sind.
Ich lass es mal so stehen.
Und wünsche alles gute.
Gertrud
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