Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

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Strohi
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Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Strohi »

Liebe Foristen,

in meiner letzten Therapiestunde vor dem Urlaub (das war Anfang Juli) vereinbarten meine Therapeutin und ich, dass ich bis zum nächsten Gespräch eine schriftliche Zwischenbilanz erstelle unter der Frage, was sich denn meiner Meinung nach seit dem Beginn meiner Behandlung 2012 bis jetzt (positiv) verändert habe.

Nun ist diese "Zwischenbilanz-Therapiesitzung" vorbei (31.8.2021) - und ich bin so ratlos und orientierungslos wie zuvor. Aber der Reihe nach.

Im Urlaub habe ich auch mit meiner Frau gesprochen, vor allem aus dem Gesjchtspunkt heraus, wie sie mich sieht und wahrnimmt, und ob sich von ihrem ersten Bild 2012 bis heute etwas verändert bzw. verbessert habe.

Meine "Zwischenbilanz" beinhaltete diese Punkte:

1. Es gab/gibt keine wirklich spürbare Besserung seit 2012, weil die Depression - vermutlich unter der Einwirkung der ängstlich-vermeidenden, selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung und der Akzentuierung "Zwang" und "Kontrollzwang" - wahrscheinlich zu einer dauerhaften Krankheit geworden ist, die mal stärker, mal weniger stark wirkt, aber immer und durchgängig da ist.

2. Ich fühle mich in meiner "kleinen überschaubaren Welt", die aus meiner Frau und meinen Schwiegereltern besteht, aufgehoben und zufrieden; ich habe kein Verlangen nach Aussenkontakten.
Diese "Abschottung" kommt wahrscheinlich von meinen schlechten Erfahrungen mit anderen Menschen, beginnend bei meinen Eltern und über die letzten ungefähr 30 Jahre mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Betriebsrat und in der Fachabteilung; diese "Begegnungen" waren für mich immer stressig und psychisch belastend, und immer mit Minderwertigkeitsgefühlen sowie dem Gefühl, nicht dazu zu gehören, sondern nur geduldet zu werden, verbunden.
Mit eine grössere Rolle spielte dabei auch, dass ich mich nicht von Anderen abgrenzen kann, nicht "nein" sagen kann. Dies führte dazu, dass ich lieber ganz weggeblieben bin, bevor ich mich verteidigen hätte müssen, weil ich vielleicht eine Aktivität nicht mitmachen wollte. Ich bin so, dass ich viel Zeit für mich zum Nachdenken brauche und ich mich auch immer wieder neu "einstellen", "ausrichten" und "nachjustieren" muss, weil Kontakt mit Anderen für mich, wie erwähnt, Stress auslöst.

3. Meine hauptsächlichen Probleme sind derzeit:

a. die Kommunikation mit meiner Frau, auch und vor allem, weil wir gerade in den letzten beiden Jahren öfters zwar das Gleiche oder zumindest Ähnliches meinen, aber aneinander vorbei reden;

b. ich bekomme Stress, Angst und auch Panik, wenn etwas Unerwartetes, Überraschendes und noch nicht Abgesprochenes auf mich zukommt und ich mich verhaltensmässig einstellen muss;

c. ich bin mit mir und mit dem, was ich in meinem bisherigen 62-jährigen Leben "erreicht" habe, nicht zufrieden; es "nagt" an mir, dass ich Manches nicht erreichen konnte (selbst intensives Nachdenken bringt jedoch nicht an's Licht, in's Bewusstsein, was das sein könnte). Objektiv gesehen, sagt meine Frau, können wir mit dem Erreichten zufrieden sein, weil uns unsere ehemalige Mietwohnung (in einem sechs Wohnungen umfassenden Haus) zwischenzeitlich gehört, wir also ein festes Dach über dem Kopf haben, genügend zum Essen und Trinken haben, ein Auto haben, ein Feriendomizil (feststehender Wohnwagen mit einer kleinen Hütte auf einem gemieteten Platz in einem Campingplatz) haben und unsere (gesetzliche, betriebliche, private) Rente gut zum Leben reicht. Und trotzdem fühle ich mich "unvollkommen", nicht "fertig" ...

d. wenn etwas nicht klappt, mir etwas nicht gelingt (wenn ich zum Beispiel handwerklich etwas tun muss, z.B. jetzt im Urlaub: einen Nagel in einen Holzbalken (= Türrahmen der Hütte am Wohnwagen) einschlagen, oder das schon angesprochene Problem mit der Internet-Verbindung am Campingplatz; siehe den Thread "Bin ich zu doof dafür?" vom 21.8.2021) oder ich mitbekomme, dass ich irgendetwas nicht weiss (z.B. die selbstgestellte Frage im Wohnwagen, wieviel Stromverbraucher ich an eine Stromquelle, eine Steckdosenleiste anschliessen kann ohne dass es damit Probleme gibt) oder nicht "in den Kopf bekomme" (Tarif-"Dschungel" von Mobilfunkanbietern zu Telefon- und Internetflatrates), werde ich sehr schnell ungeduldig, zornig-wütend (oft: auf mich) und auch verbal-aggressiv

e. ich bin nach wie vor unverändert übermässig müde und schläfrig, habe grosse Probleme mich zu konzentrieren und mich zu erinnern, bin nicht belastbar (alles stresst und ist mühsam); in Gegenwart Anderer - auch Bekannten - falle ich schnell in das Gefühl minderwertig zu sein, nur geduldet zu werden, aber nicht dazu zu gehören, und bin auch in der Angst, dass Andere erkennen, dass ich nichts bin, nichts kann und noch nie etwas fehlerfrei getan habe

f. ich habe nach wie vor unverändert - von mir so genannte, so bezeichnete - "Denkstörungen"; z.B. wenn ich im Fernsehen einen Film oder Krimi anschaue, erkenne ich oft nicht, wer denn nun der Mörder ist, worum es in dem Film eigentlich geht und - bei mehreren Handlungssträngen - wie die Zusammenhänge sind. Oder wenn ich lese erkenne ich oft nicht mehr, wo die Story hinführt und was die Autorin, der Autor sagen möchte (ausser sie würden es "haarklein", detailliert und konkret dazu schreiben); ganz schlimm für mich wird es, wenn abstrakt geschrieben wird, da stosse ich sehr schnell an meine Grenzen des Verstehens und Nachvollziehens.

Meine Therapeutin reagierte darauf so:

1. "Ängstlich-vermeidend, selbstunsicher" stehe überall mehr oder weniger deutlich im Mittelpunkt, sei also der Kern der Probleme.

2. Als Strategie verwies sie zunächst und pauschal auf das, was wir zwischenzeitlich in den Therapiestunden besprochen hätten (mein Problem: ich habe mir nur sehr, sehr wenig notiert, und mein Gedächtnis lässt mich im Stich); konkreter sagte sie dazu:

a. ich solle dann aus der Situation versuchen heraus zu gehen, entweder nur gedanklich (durch Ablenkungen von den mich gerade belastenden Gedanken) oder auch tatsächlich körperlich (beispielsweise könne ich in einem belastenden Gespräch oder in einem Gespräch, dem ich nicht mehr folgen könne, sagen, dass ich eine Pause brauchen würde und/oder dass ich das Gespräch unterbrechen und später fortsetzen möchte, weil ich über das Gesagte nun erst einmal nachdenken müsse; bei einem Kritikgespräch könnte ich den Raum, die Wohnung verlassen, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können)

b. ich solle dann versuchen, aus dem (Grübel-) Gedanken heraus zu kommen, um wieder rational denken und überlegen zu können

c. ich solle versuchen, meine Angst vor Widerspruch, vor Meinungsverschiedenheiten, vor Kritik Anderer und auch ggfs. vor einer nötigen Konfrontation mit Anderen einzudämmen und zu verlieren, in dem ich mir klar und bewusst mache, dass das alles normal im Leben und im Zusammenleben mit Anderen sei und es keinesfalls eine Katastrophe wäre

d. ausserdem solle ich versuchen, generelle Vermeidungshaltungen, die nur Ausdruck verschiedener (vielleicht sogar nur eingebildeter) Ängste seien, aufzugeben; auch solle ich mich von Befürchtungen, dass Andere - wie z.B. meine Frau - mich oder ich selbst mich unter Druck setzen könnten, verabschieden und eben trotzdem walken gehen (aber eben nur soweit und so lange ich dies möchte) oder in die Physiopraxis gehen, um dort etwas für meine Ausdauer, Fitness und Kraft zu tun (aber auch hier: nur so wie ich das selbst möchte).

Zwischenzeitlich, also seit dem Therapiegespräch am 31.8.21, sind mir aus früheren Gesprächen noch diese Punkte eingefallen:

- Reparaturen, Veränderungen und Ähnliches in der Wohnung, am Auto und Wohnwagen: selbst in die Hand nehmen, klar (auch ggü meiner Frau) kommunizieren, dass ich mich darum kümmere und mich ggfs. beraten lassen; dabei dann nachfragen, wenn etwas unklar ist (evtl. nach einer Pause/Unterbrechung, falls ich meine Gedanken ordnen muss); helfen lassen, wenn ich es nicht selbst hinbekomme (Beispiel war die nötige Verstärkung des WLAN-Signals zu Hause);

- von Müdigkeit und Schläfrigkeit nicht abhalten lassen, etwas zu tun, und akzeptieren, dass ich nicht hundertprozentig fit und ausgeschlafen bin. Mit Kleinem anfangen und dann steigern;

- immer und immer wieder bewusst und rational (also nicht von belastenden Gedanken und Gefühlen manipuliert) die eigene Situation anschauen;

- versuchen, Bewertungen zurück zu drängen, zu Gunsten von realistischem Blick auf mich selbst, auf mein Entwicklung und auf meine Situation.

Zunächst: vielen Dank für's Lesen und die Geduld dabei.

Die Frage, die sich mir stellt, ist nun, was ich damit anfangen kann, anfangen soll, anfangen muss.
Mein Eindruck ist, dass dies alles situationsabhängige Tipps, Ratschläge und Vorschläge sind, mit denen ich sozusagen meine Oberfläche glänzend-strahlend polieren, jedoch nichts in mir ändern kann.

Liebe Grüsse,
Strohi
DieNeue
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Registriert: 16. Mai 2016, 22:12

Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von DieNeue »

Hallo Strohi,
Strohi hat geschrieben:Mein Eindruck ist, dass dies alles situationsabhängige Tipps, Ratschläge und Vorschläge sind, mit denen ich sozusagen meine Oberfläche glänzend-strahlend polieren, jedoch nichts in mir ändern kann.
Wie kommst du denn darauf, dass du damit nur deine Oberfläche polieren kannst? Klingt für mich bisschen wie die Fassade nach außen aufrechtzuerhalten/zu polieren. Für mich sind vieles einfach Tipps, wie du dir das Leben etwas leichter machen kannst (wie das Rausgehen aus Situationen, beraten lassen [Ich schreib mir übrigens tw. bei Beratungen auch was auf z.B. beim Zahnarzt, Handwerker etc. Sonst vergess ich das und am Ende bin ja ich die Blöde, wenn ich es nicht mehr weiß]).

Liebe Grüße,
DieNeue
Meridian
Beiträge: 512
Registriert: 15. Dez 2019, 11:05

Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Meridian »

Hallo Strohi,

beim ersten Lesen deines Beitrags habe ich mich gefragt, was du eigentlich möchtest, was würdest du gerne verändern und was hältst du vor allem für machbar, für erreichbar an Veränderungen?
Lediglich einen Satz gibt es dazu, nämlich dass du in deiner überschaubaren Welt, in der Familie ganz zufrieden bist (und daran ist ja nichts falsch), aber dann schaust du wieder danach, wie deine Frau dich sieht oder deine Therapeutin, aber ist es denn wirklich realistisch, wie du dich selbst siehst oder einschätzt, wenn du überwiegend das aufzählst, was du nicht so gut kannst, was nicht so gut gelaufen ist.
Genau so gut könntest du vieles auch positiv werten: deine Berufs und Betriebsratstätigkeit, dein Interesse für ganz viele unterschiedliche Themen, deine Offenheit und Nachdenklichkeit, deine Empathie usw.
Und dann ist vielleicht die Frage, die sich dir stellt, nicht mehr, was du mit den ganzen Rat- und Vorschlägen deiner Therapeutin anfangen sollst, sondern: Was will ich eigentlich, was ist mir so wichtig, dass ich es unbedingt noch verändern will und wie könnte ich das erreichen.
Dazu gehört auch, zu akzeptieren, dass manches evtl. so bleibt, wie es ist.

LG, Meridian
Greta1962
Beiträge: 281
Registriert: 21. Sep 2020, 20:13

Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Greta1962 »

Hallo Strohi!

Ich habe deinen Beitrag jetzt eher so empfunden, als wenn du durch das Schreiben dich selbst (und die Reaktion des Therapeuten) sortierst und reflektierst. Denn "helfen" können wir dir ja in der Gesamtproblematik auch schwer.

Vielleicht ist es bei dir eine Art Midlife-Crisis - im Sinne von "so alt bin ich jetzt, was habe ich erreicht?"
Ich persönlich finde das müßig.
Es ist alles so, wie es ist - und in den meisten Fällen sind wir dorthin gekommen, weil wir gewisse Entscheidungen bewusst getroffen haben. Ob die nun immer richtig waren, ob Glück oder Pech dazu gekommen ist ... !? Wer weiß schon, wenn es anders gewesen wäre - es ist ja auch nicht mehr zu ändern.

Ich finde, du kommst hier sehr gut sortiert rüber. Du bist hilfsbereit, gerade auch in diesen organisatorischen Dingen mit Ämtern und Kündigungen usw. (was für die meisten ja echt ein Albtraum ist) ... und glaube mir, das ist schon total viel wert! Da mag sich jemand vielleicht besser mit dem Internet auskennen - aber bei solchen Sachen (also Anträgen bei Ämtern z.B.) die Flucht ergreifen bzw. nur "Bahnhof" verstehen !
Sage also nicht, dass du nichts schaffst!

Insgesamt frage ich mich manchmal, ob es tatsächlich so gut ist, so viel über sich nachzudenken!?
Es ist ja so ein bisschen "in Mode" gekommen - auch durch viele Ratgeber usw. - aber ob das wirklich sinnvoll und zielführend ist!? Oder ob es uns manchmal erst recht auf einen falschen Weg bringt!? Ob es die Gedanken nicht zu sehr belastet und verwirrt und dadurch alles nur noch schlimmer macht!? Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, mir täte Abstand zu mir selbst manchmal ganz gut.
Vielleicht wäre das für dich auch mal einen Versuch wert?
Liebe Grüße von ..... Greta
malu60
Beiträge: 4141
Registriert: 28. Dez 2014, 11:31

Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von malu60 »

Hallo Strohi,hab aufmerksam gelesen,was Du bei Deiner Zwischenbilanz zusammen trägst.
Bin etwas älter und kenne auch dieses aburteilen,ja verurteilen....was alles fehlerhaft an mir ist.

Dein Faxit ist meinem Gefühl nach nicht so,dass nur eine Fassade poliert wird.

Ich finde die Tipps sehr gut,um Herr in der Situation zu bleiben.Den Kontakt zu Menschen
zu entkrampfen,auf sich und seine Grenzen achten,somit den Streß reduzieren.Raus aus Grübeleien tun,was man will/muß,aber selbst bestimmen,wenn,s genug ist.

Danke für Dein Post,ich kann gut damit was anfangen.

Geh ich jetzt in den Vergleich,wobei das ja ganz dumm ist,hast Du sehr viel in Deinem Leben erreicht.Machst Therapie und reflektierst,statt Dich aufzublasen,oder zu betäuben,viele tun das und haben ein Riesenschein-Ego.(Warum sich da nicht vergleichen und für "gut" befinden?

Meine Ergo meint,sie habe tolle,offene Menschen bei ihrer Arbeit unterstützen dürfen.Kranke wären oft dort zu finden,wo Dummheit und Stolz herrschen,oder Betäubung und Verdrängung.

Ich möchte auch etwas leichter leben und bewerten und vergleichen minimieren.So lebt es sich zufriedener.....ich glaub,ich bin schon ganz gut,so wie ich bin.Der Gedanke kommt immer öfter.
Depressionen auszuhalten,zu bearbeiten haben eben auch Kraft gekostet.Mein Gehirn lief heiß in Grübelzeiten und nun sind manchmal Wortfindungsstörungen da oder ich steig in Gesprächen auch schonmal aus,mangels Konzentration....leb ja auch allein und bin nicht so trainiert,mit mehreren Menschen zu reden,als lange ,berentete wenig geübt.L.G.Malu
Leben ist mehr
Strohi
Beiträge: 388
Registriert: 17. Mai 2015, 22:45

Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Strohi »

Hallo DieNeue, Meridian, Greta und malu,

herzlichen Dank für Eure lieben Antworten! Das Lesen hat mir gut getan!!

Ich brauche noch ein bisschen Zeit, um darauf zu antworten; ich hoffe, Ihr habt dafür Verständnis. Grund ist, dass ich nicht 08/15-mässig, sondern konkret antworten möchte
Dieser - mein - Anspruch an mich selbst hat mir im Berufsleben oft Probleme bereitet, weil meine Vorgesetzten der Meinung waren, ich müsse mehr Kundenanfragen beantworten, und solle dafür die Qualität und Ausführlichkeit reduzieren - und das bei einem Unternehmen, das den Kundenservice an allererster Stelle seiner Leitlinien hatte, kräftig damit geworben hat und es in jeder Mitarbeiter:innen-Besprechung besonders betonte.

Bis dahin, liebe Grüsse
Strohi
Strohi
Beiträge: 388
Registriert: 17. Mai 2015, 22:45

Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Strohi »

... es tut mir Leid, ich muss noch immer eine Antwort schuldig bleiben, weil mein Text, den ich im Mail-Programm vorformuliert habe, einfach und mir unerklärlich weg ist ...

Liebe Grüsse
Strohi
Strohi
Beiträge: 388
Registriert: 17. Mai 2015, 22:45

Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Strohi »

Hallo DieNeue, hallo Meridian, hallo Greta, hallo malu,
vielen Dank für Eure lieben Worte, auch für die fragenden und hinterfragenden Worte, die sehr wichtig für mich sind.
Wichtig, weil ich so wahrnehme, nicht alleine zu sein, und wichtig, weil ich aus Vielem Kraft schöpfe und Anstösse bekomme.

Liebe DieNeue,
dass Du Dir in Gesprächen und Beratungen auch was aufschreibst, ermutigt mich, es nun auch zu versuchen. Schreibst Du Dir das während der Gespräche/Beratungen auf oder erst danach?

Liebe Meridian,
das Wichtigste, das ich allerdings nicht mehr ändern kann (und allein das hier so zu schreiben tut weh), ist, dass ich nicht mehr das Gefühl haben kann, wie es sich anfühlt, in jungen Jahren ein Mädchen anzusprechen, mit ihm eine zarte Liebesbande zu knüpfen, verliebt zu sein ... first love zu spüren, durchaus im Sinne des Buches und Filmes "Lovestory" (freilich ohne den dramatischen Hintergrund des Films aus den 1970er-Jahren).
Ich war damals viel zu schüchtern, viel zu gehemmt, hatte viel zu viel Angst davor, dass es - falls es damals, vor rund 45 Jahren, wahr hätte werden können - meine Eltern mitbekommen hätten ...
Ich trage diese Sehnsucht tief in meinem Herzen versteckt, und ab und zu taucht sie ein wenig auf, und macht mich traurig.
Es ist keinesfalls so, dass ich meine Frau nicht geliebt hätte und sie nicht lieben würde; aber unsere Liebe, unsere Partnerschaft, unsere Ehe kam und kommt an diese Sehnsucht nicht heran, es fühlt sich an als wäre die Sehnsucht ein, zwei Etagen tiefer in mir als meine Liebe im realen Leben.

Ob ich das Andere (noch) ändern kann, weiss ich nicht:
1. ich würde sehr gerne die ganze schwere Lebenslast abwerfen, um leichter, fröhlicher, unbeschwerter, spontaner weiterleben zu können.
Es fühlt sich an als würde ich tagein, tagaus den Rucksack tragen müssen, in dem alles, was sich in meinem Leben ereignet hat, passiert und geschehen ist, in schweren Steinen gesammelt ist. Selbst wenn ich sozusagen den Saldo ziehe, also vom Schlechten, Negativen das Gute, Positive, Schöne abziehen würde, wäre der Rucksack noch viel zu schwer.
2. ich würde gerne auch Körperlast, also Übergewicht abwerfen; ich bringe ungefähr 120 kg auf die Waage (ja, nur ich alleine), davon sind mindestens 20 kg, eigentlich ja 30/35 kg zuviel.
Wir machen Intervallfasten; die Ernährungsberaterin in der Praxis meines Diabetologen konnte mir auch keinen Rat geben. Mein Hausarzt und meine Frau sind der Meinung, ich müsse mich mehr bewegen, wenigstens drei Mal pro Woche einen Spaziergang von jeweils mindestens 30/45 Minuten; beide akzeptieren nicht, dass ich das nicht kann.
Warum? Weil ich seit meiner Jugend Probleme mit meinem Körpergeruch habe - ich kann mich nicht riechen, und befürchte immer, dass ich Andere abstossen könnte -, und in meinem Kopf der Gedankengang "Bewegung = schwitzen = riechen" fest verankert ist, und ich es kräftemässig nicht schaffe, nach jedem Spaziergang zu duschen; dass ich hier im Forum so rüberkomme, wie es Einige positiv beschreiben, hat natürlich auch damit zu tun, dass ich Zeit habe, über "dieses und jenes" nachzudenken, Gedanken aufzugreifen, zu notieren, zu prüfen und abzuwägen. In meinem Denken herrscht - vielleicht fälschlicherweise? - der Gedanke vor, dass mir einiges an dieser Zeit fehlen würde, wenn ich mich mehr bewegen, also Spazierengehen usw., würde.
3. ich hätte gerne meine frühere Konzentrationsfähigkeit und mein früheres Erinnerungsvermögen wieder; Beides ist nicht nur altersmässig, sondern auch und vor allem krankheitsbedingt sehr schlecht (dass es im Alter nachlässt, ist klar, ist okay und akzeptiert).
Ich hatte mir meinen Ruhestand, in den ich nun als Erwerbsunfähiger früher als erwartet/geplant gekommen bin, eher so vorgestellt, dass ich Zeit zum intensiveren Lesen habe; da das Lesen wegen dieser Einschränkungen nun nicht nur mühsam (fehlende Konzentration, und wegen der schlechten Erinnerung muss ich mir, auch bei Romanen, viele Notizen nebenher machen, um den Faden nicht gänzlich zu verlieren), sondern auch nur schwer (was ich am Vormittag gelesen habe, ist oft schon am Nachmittag "weg") ist, verdirbt es mir den Spass und die Freude daran.
4. ich wäre sehr gerne deutlich weniger müde und schläfrig; auch dies hat sich durch die Krankheiten sehr stark verstärkt.
5. Alles, wirklich Alles, was ich mache und machen muss, braucht wahnsinnig viel Energie; ich fühle mich sehr oft so als würde ich in einem Schwimmbecken stehen, in dem mir das Wasser bis zum Hals steht. Das Bewegen ist "an Land" oft so mühsam wie im Schwimmbecken, in dem man gegen die Wasserkraft anarbeiten muss. Ich hätte es gerne auch in diesem Sinn wieder leichter.

Würde ich einen Weg, meinetwegen auch nur einen Trampelpfad, heraus erkennen, wäre es vermutlich einfacher für mich. Das war ja schon immer so, sobald ich einen Pfad oder Weg zur Problemlösung erkannt habe, wusste ich schnell, was ich nun tun muss, wohin ich, im übertragenen Sinn, laufen muss. Nur stehe ich - um es mal bildlich zu beschreiben - gerade in einer engen Einbahnstrasse, die auch noch vor einer unbezwingbar erscheinenden hohen Wand endet, ich sitze sozusagen "in der Falle" und sehe keinen Weg, Pfad, der rausführt.

Vielleicht (?) besteht meine allergrösstes Problem auch in dem, dass mir zunehmend bewusst wird, krank zu sein; meine Eltern haben mich doch zum Funktionieren erzogen, nein besser gesagt gedrillt, fast schon "abgerichtet". Wenn sie wüssten, dass ich krank, vor allem, dass ich psychisch krank bin, würden sie nicht nur missbilligend den Kopf schütteln, sondern in mir einen Simulanten sehen, der nur zu faul ist.
Und ich habe am Anfang in den Therapien vielleicht auch zusätzlich den grossen Fehler gemacht, zu wissend rüberzukommen (ich hatte, bevor meine erste Therapie begann, schon Einiges über die Depression gelesen, und früher habe ich ja auch schon das eine und andere Psychologische gelesen), so dass die Therapeuten in meinen Behandlungen Vieles nicht mehr gemacht, angesprochen usw. haben, weil sie gedacht haben "was soll ich ihm das sagen, was er schon weiss?".

Liebe Greta,
ja, das siehst Du schon richtig, ich habe das Schreiben meines Post's auch genutzt, um mich zu sortieren, um diese Zwischenbilanz überschaubar und durchschaubar zu machen, und vor allem auch, um mein Hirn zu entlasten, es also weniger in eine Grübelphase gehen zu lassen.

Nein, an eine "Midlife-Krise" glaube ich nicht, es ist eher die Frustration darüber, dass nichts besser wird, sich nichts bewegt in mir, und ich - wie ich Meridian hier geschrieben habe - keinen Weg, keinen Pfad raus aus den Krankheiten erkennen kann, trotz Tabletten und Therapien.
Wobei Du natürlich auch recht hast. Niemand kann abschätzen und schon gar nicht wissen, wie es denn geworden wäre, wenn alles ganz anders gelaufen wäre. Trotzdem, die ganzen psychischen Belastung hätte ich nicht gebraucht. Und ich hadere ja auch immer noch damit, warum ich denn nun auch noch diese psychischen Krankheiten bekommen musste, wo ich doch schon keine gute Kindheit und Jugend hatte (ich weiss ja, dass das im Sinne von "Ursache und Wirkung" zusammen gehört, aber mein Gefühl will diese rationale Erklärung noch nicht hören, geschweige denn annehmen).

Zum Thema, wie ich rüberkomme, habe ich Meridian hier schon geschrieben und möchte es nun nicht wiederholen.

Ich sehe die Frage, ob wir das Nachdenken nicht einfach sein lassen sollten, weil es ja zusätzlich belastet, etwas anders. Ich sehe zwar auch die Gefahr, dass das Nachdenken - das ja oft auch ein Grübeln ist - die seelische Belastung steigern kann, vermutlich bis zu einem Punkt, an dem es kein Zurück, sondern nur noch Angst und Panik gibt, aber das Gegenteil davon ist ja auch nicht ungefährlich. "Verdrängtes kommt, vielleicht etwas verwandelt, immer zurück", es vergeht nicht, es löst sich nicht in Nichts auf; und auch dieses immer wieder Zurückkommen kann belasten und zu Angst und Panik führen.
Also, ich denke, es führt kein Weg an einer Beschäftigung mit den eigenen Problemen vorbei, es kommt "nur" darauf an, diesen Prozess produktiv zu gestalten, in dem (individuelle) Wege aufgezeigt werden, wie man mit seinen Problemen umgehen kann (ich bin nicht sicher, aber es könnte sein, dass "umgehen" inhaltlich bedeuten könnte, sich eine Meinung zu bilden über das, was traumatisch passiert/geschehen ist, und darauf aufbauend eine Lösung zu finden, entweder das Schicksal bzw. seine Folgen anzunehmen (und zu versuchen, trotzdem das Beste daraus zu machen), die Folgen zu verändern oder sie zu akzeptieren.
(Ja, ich weiss - aus meiner Entwicklung und Situation - nur allzu genau, dass das sehr viel einfacher gesagt/geschrieben ist als es umgesetzt werden kann; aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass daran kein Weg vorbei führt; ich bin ja auch nur ein Sucher ...).

Liebe malu,
es freut mich, dass Du mit meinem Post etwas anfangen kannst (dann dient er nicht mehr nur dazu, meine Gedanken zu sortieren, sondern wirft sozusagen auch noch etwas für Dich ab).

Als ich bei Dir las, ich hätte in meinem Leben viel erreicht, regte sich in mir sofort Widerspruch - das hat mit den uns beiden ja sehr bekannten Selbstzweifeln, mit dem "selbst in Frage zu stellen", mit dem "uns selbst (hart und scharf) kritisieren" zu tun; bei mir kommt hinzu, dass ich auch heute noch - obwohl ich seit Anfang März 2013 nicht mehr im Betrieb am Arbeitsplatz war und obwohl mein Arbeitsvertrag durch einen Aufhebungsvertrag 2015 beendet wurde, weil ich da die zeitlich befristete Rente zugesprochen bekommen habe - in der Angst lebe, dass irgendwann das Telefon klingelt, eine Mail oder ein Schreiben kommt, in dem mir mitgeteilt wird, ich hätte nichts geleistet, weshalb man mir nun die Betriebsrente entziehen würde und auch die DRV informieren und auffordern würde, mir auch die gesetzliche Rente zu streichen.
Rational darüber nachgedacht, ist das natürlich Quatsch, aber ich bekomme es nicht aus dem Kopf, es verfolgt mich genauso wie die -ebenfalls unrealistische - Angst, dass meine Eltern plötzlich vor der Türe stehen und mir Vorwürfe machen würden, weil ich nicht krank sei, ich hätte es nur hinbekommen, die Ärzte und Gutachter zu täuschen, ich sei eben nicht ihr Sohn, weil so hätten sie mich nicht erzogen ....


Nochmals, vielen herzlichen Dank für Eure Antworten, die mir helfen, indem sie entweder unterstützen oder Gedanken anstossen.

Liebe Grüsse
Strohi
Strohi
Beiträge: 388
Registriert: 17. Mai 2015, 22:45

Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Strohi »

Hallo DieNeue, hallo Meridian, hallo Greta, hallo malu,

seit einigen wenigen Tagen denke ich darüber nach und recherchiere, ob das sein kann, was mir mein Gedanke neulich "einflüsterte", nämlich ob meine Probleme mit der fast nicht vorhandenen Selbstzufriedenheit und dem geringen Selbstvertrauen auch (!) damit zu tun haben können, dass ich mich in den vielen Jahren meiner Betriebsratsarbeit immer stärker selbst verleugnet habe.

Ich habe mich selbst verleugnet, weil ich - realistisch? oder nur "eingebildet"? - befürchtete, ansonsten nicht mehr ernst genommen, nicht mehr gewählt zu werden und ohne diese Betriebsratsarbeit schutzlos ausgeliefert zu sein und letztendlich aus dem Betrieb gedrängt zu werden. Um dies nachvollziehbar beschreiben zu können, muss ich ein Stück weit "ausholen".

1. Formale Beschreibung

Politisiert, also für Politik ...
(bitte nicht verwechseln mit Partei-Politik; "Politik ist das Reden, und notfalls auch das Streiten, darüber, in welchem Staat und mit welchen Gesetzen, Bsestimmungen und Normen - kurz: mit welchen "Spielregeln" - wir miteinander leben möchten")
... interessiert, wurde ich im letzten Jahr Schule, vor allem im Geschichtsunterricht, in dem es um die Zeit der Weimarer Republik und um das Dritte Reich ging. Meine Abschlussnote in diesem Fach bei der Prüfung zur "Mittleren Reife" (1,0) zeigt dies deutlich, vor allem im Vergleich zu meinen Noten in den anderen Fächern (viele Dreier, einige Vierer) und meinem Notendurchschnitt (3,4).

Die Berufsausbildung bei einem grossen Konzern der Versicherungswirtschaft begann mit einer Einführungsphase in den ersten zwei Wochen; dort stellte ein Mitglied des Betriebsrats die Arbeit und die Aufgaben dieser Arbeitnehmervertretung vor. Auch unter diesem Eindruck wurde ich Mitglied der Gewerkschaft und der SPD.

Nachdem ich die Ausbildung erfolgreich (als einer der drei Besten im IHK-Bezirk) beendet und anschliessend ein Jahr im Angestelltenverhältnis als Sachbearbeiter in der Leistungsabteilung gearbeitet hatte, kündigte ich, um als Gewerkschaftssekretär (zunächt: zur Ausbildung, nach sechs Monaten: mit eigenem Zuständigkeitsbereich) zu arbeiten. Als ich zu Hause erzählt habe, dass ich gekündigt habe, um bei der Gewerkschaft zu arbeiten, wurde ich zum letzten Mal in meinem Leben von meiner Mutter verdroschen ...

Zwischenzeitlich hatte ich, der noch nie eine Beziehung, gar ein Verhältnis mit einem weiblichen Wesen hatte, meine heutige Frau kennen gelernt (der Ehrlichkeit halber: sie hatte mich angesprochen, und sie hat danach unseren Kontakt aufrecht erhalten, bis wir dann zusammen gezogen sind, uns verlobt und sieben Jahre später auch geheiratet haben).
Dass ich zu Prostituierten gegangen bin, um dort zu suchen, was man dort nicht finden kann, noch bevor wir uns kennenlernten und auch danach, habe ich ihr vor unserer Hochzeit gebeichtet; sie hat mir verziehen und auch geholfen, mein arg strapaziertes Girokonto zu sanieren.

Weil die (hauptamtliche) Gewerkschaftsarbeit jedoch wegen der "ausufernden" Arbeitszeit ("... die Arbeitszeit richtet sich nach den Erfordernissen der Gewerkschaftsarbeit ...", und zwar sowohl was die Länge als auch was die Lage angeht) nicht zu einer jungen Liebe passt - zumal mein Arbeitsort auch ungefähr 100 KM von unserer Wohnung entfernt war - , suchte ich mir einen anderen Job, und war einige Zeit bei einer gesetzlichen Krankenkasse in deren Aussendienst/Mitgliederwerbung tätig.

Dann fand ich die Stellenanzeige eines kleinen mittelständischen Unternehmens der Lebensversicherungsbranche, bei dem ich mich bewarb und dann gut 30 Jahre lang bis zu meiner Arbeitsunfähigkeit, die in die Erwerbsunfähigkeit "überging", gearbeitet habe.
Die ersten fünf Jahre als Sachbearbeiter im Innendienst, anschliessend drei Jahre als Referent für die betriebliche Altersvorsorge (BAV), danach als von der für die Betriebsratsarbeit von der beruflichen Tätigkeit freigestellter Vorsitzender des Betriebsrats, was ich nach sechs Jahren in eine Teil-Freistellung umwandelte, um sowohl als Betriebsratsvorsitzender (60 % der Arbeitszeit) als auch als BAV-Referent (40 % der Arbeitszeit) weiter zu arbeiten, bis zum krankheitsbedingten Ausscheiden.

2. Inhaltliche Beschreibung

Ich habe in meiner Jugend und als jugendlicher Erwachsener politisch gesehen links gedacht, nicht kommunistisch, sondern sozialdemokratisch. Allerdings war mir der sogenannte linke Flügel in der SPD zu abgehoben-theoretisch, der sogenannte rechte Flügel zu pragmatisch und die Mitte einfach nichtssagend; soll heissen, so richtig dazu gehört habe ich nicht. Trotzdem habe ich mich in der Partei engagiert, mitdiskutiert, Wahlkämpfe bestritten; ich hatte verschiedene ehrenamtliche Funktionen auf örtlicher Ebene, also im Ortsverein. (Nur der Vollständigkeit halber, nach dem Ende der Schröder'schen Kanzlerschaft bin ich dann wegen der zahlreichen Verschlechterungen, die er durchgesetzt hatte, ausgetreten, das Fass zum Überlaufen brachte die Rentenreform mit dem Kern, dass die Altersrente nicht mehr mit 65, sondern mit 67 Jahren fällig wird.)

Im Betrieb war ich eines von insgesamt rund 20 Gewerkschaftsmitgliedern (bei ungefähr 300 Beschäftigten), und ich war das einzige Gewerkschaftsmitglied in dem elf-köpfigen Betriebsrat.

Ich wurde 1990 zum ersten Mal in den Betriebsrat gewählt, und in dem Gremium zum Vorsitzenden; sowohl bei meiner ersten Wahl in den Betriebsrat als auch bei allen Wiederwahlen, die alle vier Jahre stattgefunden haben, erreichte ich bei den erhaltenen Stimmen immer, und auch immer mit weitem Abstand vor den anderen zehn Gewählten, die meisten Stimmen. Und trotzdem hatte ich vor jeder neuen Wahl fast schon panische Angst, nicht wiedergewählt zu werden.

Rückblickend betrachtet hat sich meine Haltung schleichend verändert (ich vermute, auf Grund der erwähnten Angst nicht wiedergewählt zu werden). Ich habe mich und meine politische Meinung zunehmend angepasst, und mich damit verleugnet.

Es war von Anfang an, und trotz meines linken Denkens, innerhalb des Betriebsrats so, dass ich kein "rote-Fahnen-Träger", kein "Barrikadenstürmer", kein "Revolutions-Ausrufer" war, sondern immer darauf gedrängt habe, Änderungsvorschläge des Vorstandes und des Personalchefs nicht pauschal und von vornherein abzulehnen, sondern diese ernst zu nehmen, sie anzuschauen und zu prüfen und eine eigene Haltung dazu zu finden und einzunehmen.
Dies wurde von Manchen im Betriebsrat als Anpassung an die Vorstandsmeinung eingeschätzt, und mir wurde ab und zu auch vorgeworfen, bei Gesprächen und Verhandlungen nicht deutlich genug die Meinung des Betriebsrats einzubringen und zu vertreten. Interessant für mich war jedoch, dass die, die in Betriebsratssitzungen sich als "Hardliner" inszenierten, dann in den Gesprächen mit dem Vorstand und dem Personalchef jedoch "mucksmäuschenstill" waren.

Hinzu kam, dass sehr viele der anderen zehn Mitglieder des Betriebsrats das Wort "Arbeit" in dem Begriff "Betriebsratsarbeit" sehr klein geschrieben haben bzw. Anhänger des TEAM-Gedankens waren: Toll ein Anderer macht's.

So war ich in einer blöden Situation. Einerseits gab es in meiner Zeit keinerlei "Kungeleien" mit dem Vorstand - wie es bei meinem Vorgänger üblich gewesen war -, was den Vorstandsmitgliedern überhaupt gar nicht gefallen hat (weil es für sie anstrengender geworden ist), andererseits gab es im Betriebsrat diese zwiespältige Situation. Dies nährte und steigerte meine Ängste. Sogar soweit, dass ich mir selbst unbewusst zum Beispiel "verboten" hatte, in meiner Freizeit Bücher mit politischem Inhalt von bestimmten Autoren zu lesen.

Mir selbst ist diese schleichend-unbewusste Änderung erst durch eine leicht spöttische Bemerkung meiner Frau aufgefallen, die mich irgendwann in den 2000er-Jahren als "konservativen Knochen" bezeichnet hatte.

3. Fazit

Ich frage mich nun, ob diese Selbstverleugnung mit ein Grund sein könnte, weshalb mein (schon wegen der elterlichen Erziehung) geringes Selbstvertrauen so niedrig ist, und ich mit mir und dem Erreichten nicht zufrieden sein kann. Dieses nicht-zufrieden-sein-Können geht soweit, dass ich den Rat (hier im Forum, von meinen Therapeutinnen und von meiner Frau) nicht annehmen kann, ich solle doch wenigstens ein bisschen stolz und zufrieden sein mit mir und mich nicht nur immer so kritisch betrachten.

Wie seht Ihr das denn, kann diese von Angst getriebene Selbstverleugnung, diese Anpassung an die "Mehrheitsmeinung" ursächlich sein dafür, dass das Selbstvertrauen noch niedriger wird und eine Selbstzufriedenheit nicht da ist?
Gibt es denn nach Eurer Meinung - oder sogar nach Eurer Erfahrung - einen Weg, (trotzdem) etwas zufriedener mit sich sein zu können?

Liebe Grüsse und gute Wünsche,
Strohi
malu60
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Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von malu60 »

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malu60
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Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

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DieNeue
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Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von DieNeue »

Hallo Strohi,

es ist unterschiedlich. Beim Zahnarzt neulich hab ich die Zahnärztin gebeten, mir das aufzuschreiben, was sie gesagt hatte. Bei meiner Betreuerin schreibe ich während des Gesprächs manchmal was auf oder wir fassen am Ende nochmal grob das Gespräch zusammen. Beim Psychiater oder anderen schreibe ich mir meist eher hinterher was auf, habe aber immer einen Zettel mit meinen Fragen dabei. Komme mir damit zwar immer etwas doof vor, aber es wurde noch nie negativ kommentiert.
Ich bin zur Zeit am Überlegen, ob ich mir mal ein Notizbuch anlege, wo ich meine ganzen Arztnotizen reinschreibe, aber weiß noch nicht, vielleicht bleibe ich auch bei meinem Zettelhaufen.
Bei Handwerkern schreibe ich mir auch manchmal was auf, meistens löcher ich die dann mit Fragen, während sie arbeiten. ;) Manche sind da aber sehr auskunftsbereit (und auch multitaskingfähig), einer hat mir sogar mal extra was aufgemalt, um zu zeigen, wie die Warmwasserzufuhr in der Wohnung funktioniert.
Mir ist es einfach schon so oft passiert, dass ich irgendwas vergessen habe und die Blöde, die es dann ausbaden muss, bin ja dann immer ich. Ich geh beim Arzt zum Sprechzimmer raus und schon hab ich vergessen, in wieviel Wochen der nächste Termin sein soll oder wie ich die Salbe auftragen soll usw. Dann muss ich wieder fragen oder nochmal anrufen usw. Aber wenns nach dem geht, was ich vergesse, müsste ich mir um einiges mehr aufschreiben. Da ist auf jeden Fall noch Luft nach oben ;)

Liebe Grüße,
DieNeue
Strohi
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Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Strohi »

Hallo,

dass mit der Depression Probleme der Wahrnehmung verbunden sind, weiss ich (dass habe ich bisher in jedem Buch so gelesen, und das haben meine Therapeutinnen mir auch so gesagt).
Der gestrige Abend zeigte mir das deutlich.

Meine Frau hatte gestern Geburtstag, weshalb wir zum Frühstück und zum Abendessen bei meinen 86-jährigen Schwiegereltern waren. Das Frühstück verlief sehr harmonisch, beim Abendessen gab es Streit mit meinem Schwiegervater.

Meine Frau hatte nachmittags einige Frauen, mit denen sie vor Corona immer mittwochs in die Sauna ging, zu einem Sekt eingeladen, darunter auch eine über 80-Jährige.

Von dieser älteren Dame erzählte meine Frau dann beim Abendessen, weil sie sich beim Finanzamt selbst angezeigt hatte und nun zu einer hohen Strafe "verdonnert" wurde. Denn einerseits bekommt sie ihre Rente und auch als Witwenrente einen Teil (ich glaube, das sind noch immer 60 % der Altersrente, die der Ehemann bekommen hatte) der Altersrente, die ihr Ehemann bekommen hatte; andererseits hat sie seit vielen Jahren keine Einkommensteuer-Erklärung dem Finanzamt vorgelegt.
Daraus ergab sich eine Diskussion beim Abendessen, in die dann auch die kommende Bundestagswahl mit eingeflossen ist.

Auf alles, was meine Frau und ich sagten, reagierte mein Schwiegervater, der mit den GRÜNEN und mit allem Ökologischen - und der auch mit all dem, was nicht in sein "Weltbild" passt - auf "Kriegsfuß" steht, mit den Worten "das glaube ich nicht!" - also, dass führende Autohersteller ab 2028 keine Auto's mehr mit Verbrennermotoren verkaufen, dass ThyssenKrupp gerade dabei ist, seine Stahlerzeugung auf ein CO2-freies Verfahren umzustellen usw. usw. kam immer nur der teilweise auch mit spöttischem Unterton gesagte Satz "das glaube ich nicht!" (mit dem spöttische Unterton wollte er sagen "das glaubt ihr doch selbst nicht").

Irgendwann wurde mir das zuviel und ich sagte ihm, dass er nicht immer nur sagen könne, dasscer dieses und jenes nicht glaube. Danach war Stille, seine Gesichtszüge zeigten sein "beleidigt-Sein" deutlich - und ich hatte wieder einmal das Gefühl, der "Buhmann" zu sein, der die familiäre Harmonie gestört hat.

Heute bin ich sehr erstaunt, weil meine Frau mir sagte, ich hätte das gestern aber sehr souverän, sehr bestimmt, ohne Emotion, ohne Angriff rübergebracht.

Depression: auch Wahrnehmungsverzerrung.

Liebe Grüsse
Strohi
DieNeue
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Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von DieNeue »

Hallo Strohi,

du meinst mit Wahrnehmungsverzerrung, dass du gleich gedacht hast, du wärst der Buhmann, weil der andere beleidigt guckt, oder? Oder dass du dein Verhalten anders interpretierst als deine Frau, also dass du dich schlecht fühlst, obwohl andere den Eindruck haben, du wärst in dem Moment total souverän? Letzteres wäre halt einfach der Unterschied zwischen der Fremd- und Selbstwahrnehmung und dass du nach außen hin souveräner wirkst als du dich fühlst, ist in der Situation nicht unbedingt schlecht.

Liebe Grüße,
DieNeue
Strohi
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Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Strohi »

Hallo DieNeue,

so richtig weiss ich nun nicht, wie ich Deinen Post verstehen kann, verstehen soll.

Meiner Meinung nach stimmt nämlich Beides:
ich hatte gleich in der beschriebenen Situation - und auf Grund der beleidigten Reaktion meines Schwiegervaters und auch, weil meine Frau und meine Schwiegermutter still waren und etwas "bedröppelt" dreinschauten - das Gefühl "oh, was hab' ich jetzt wieder angestellt" und war auch mit mir ärgerlich, so im Sinne von "kannst Du Deinen Mund nicht halten!" und "warum schaffe ich es nicht, diesen "Unrat" an mir vorbei ziehen zu lassen?" sowie "lass dich doch nicht so provozieren, du hattest dir doch vorgenommen, die Provokationen eines 'alten Menschen' nicht mehr ernst zu nehmen, du weisst doch, dass er nicht den Intellekt und die Bildung hat, da mitzuhalten".

Und, ich habe mein Verhalten offenbar anders interpretiert als z.B. meine Frau (von meiner Schwiegermutter weiss ich noch nicht, wie sie das erlebt hat und welche Meinung sie dazu hat), was am Tag danach durch die Äusserung deutlich gemacht hat.

Unter dem Blickwinkel "Fremd- und Selbstwahrnehmung", wie würdest Du das nun einschätzen, interpretieren?

Liebe Grüsse
Strohi
DieNeue
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Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von DieNeue »

Hallo Strohi,

hm, so ganz weiß ich grad auch nicht mehr, wie ich das meinte.^^

Ich glaube, das mit der Fremd- und Selbstwahrnehmung meinte ich so, dass die Sichtweisen von deiner Frau und dir verschieden sind, weil dir von außen keiner ansieht, was in dir vorgeht. Wenn die Sichtweisen gleich wären, hätten dir die anderen angesehen, dass du deine Reaktion selbst eigentlich nicht gut fandst (und dann wären die Provokationen bestimmt weitergegangen). Das hätte für mich jetzt weniger was mit Depressionen zu tun, sondern einfach, wie man nach außen wirkt und das ist ja unterschiedlich, manchen sieht man alles an und manchen nicht.
Dass du dir selbst sofort Vorwürfe machst, dich über dich selbst ärgerst, könnte man jetzt eher als negativ verzerrt oder depressiv sehen. Wobei ich mich immer etwas weigere alles gleich als falsche Wahrnehmung einzustufen. Die bedröppelten Reaktionen der Anderen ließen ja auch nicht drauf schließen, dass sie deine Äußerung toll fanden, oder? Von daher ist es ja nur logisch, dass man, wenn man Wert auf Harmonie legt, sich dann erst mal denkt "Sch..., was hab ich jetzt gemacht? Hoffentlich eskaliert das jetzt nicht etc."
Eigentlich hast du ja gut reagiert, finde ich. Du hast den "Unrat" halt nicht an dir vorbeiziehen lassen, sondern irgendwann gestoppt. Fühlt sich halt jetzt blöd an, weil der Schwiegervater beleidigt war.

Vielleicht hat es auch was mit dem zwanghaften Anteil, von dem du, glaube ich, mal geschrieben hast, zu tun, wenn du nur eine Lösung des Problems als richtig ansiehst. Du darfst dich nicht mehr provozieren lassen, darfst ihn nicht ernst nehmen, nur dann bist du mit der Situation richtig umgegangen. Jetzt hast du ihn halt mehr oder weniger abgewürgt und musstest dir seine Provokationen nicht mehr anhören, aber das war laut dir dann "falsch" (sonst würdest du dir ja keine Vorwürfe machen).
Aber eigentlich ist es ja auch gut, wenn er nicht mehr provoziert, anstatt dass du die ganze Zeit auf Durchzug schalten und das Gespräch über dich ergehen lassen musst. Man muss halt "nur" das doofe Gefühl aushalten, dass dem anderen die eigene Reaktion nicht passt und die Stimmung vielleicht im Eimer ist. Das finde ich auch immer nicht so einfach.

Ich finde es immer schwierig, zuzuordnen, was jetzt wirklich depressiv verzerrte Wahrnehmung ist. Mir ist im Gespräch mit gesunden Menschen schon öfters gesagt worden, dass sie manche Dinge genauso sehen oder auch so reagieren würden und ich habe gemerkt, dass es manchmal gar nicht so depressiv ist wie ich dachte.

Du hattest ja auch geschrieben, dass du im Betriebsrat immer der Meinung warst, man müsse sich die Vorschläge der Personalabteilung anhören und konstruktiv zusammenarbeiten. Das ist auf der einen Seite ja auch ein gewisses Streben nach Harmonie, aber gleichzeitig hast du dich ja gegen den restlichen Betriebsrat gestellt und deine Meinung vertreten, so wie ich dich verstanden habe. Das ist ja eigentlich sehr selbstbewusst. Ich habe den Eindruck, dass du dich aber innerlich schnell verunsichern lässt und das Feedback von außen brauchst, um sicher zu gehen, dass dein Verhalten gut ist. (Ist bei mir ähnlich). Aber nachdem du schreibst, dass deine Mutter dich geschlagen hat, nachdem du für dich selbst eine Entscheidung getroffen und gekündigt hast, finde ich das nicht sooo verwunderlich.

Ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen und ich habe nicht am Thema vorbeigeschrieben.

Liebe Grüße,
DieNeue
Gertrud Star
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Re: Zwischenbilanz - und nun? Was tun?

Beitrag von Gertrud Star »

Hallo Strohi,

das war ja sehr viel Input, den ich sehr oberflächlich gelesen habe.

Mir kommen einige Sachen bekannt vor. Beispielsweise bin ich auch eher gewerkschaftsnah, politisch würde ich sagen eher linksgrün und sehr auf soziale Gerechtigkeit bedacht. Das Abwägen und Auseinandersetzen als Betriebsrat mit den Vorschlägen der Geschäftsführer - das kenne ich von einer früheren Bekannten von mir, da gefiel das der Vorsitzenden des BR auch nicht, die war eher kämpferisch. Vielleicht ergänzte sich das auch gut mit den beiden und beides hatte seine Berechtigung.

Was das viele Denken angeht: Du scheinst von haus aus ein sehr nachdenklicher Typ zu sein. Das ist doch ok. Nur manchmal hilft das Auslüften des Kopfes doch ganz gut, geht mir auch. Wenn ich denn mal raus gehe, genieße ich das einfach und wälze da nicht so viele Gedanken hin und her, das tut mir nicht so gut. Es sei denn, es geht um Gedanken um schöne Blumenfarben und Vogelgesang oder den Wind um die Nase, und wie gut sich das anfühlen kann.

Wenn ich auf dem Keyboard übe, denke ich oft hinterher, dass das doch ganz anstrengend gewesen sein muss (habe vor wenigen Monaten angefangen). Wenn mich dabei jemand beobachten würde, würde derjenige vielleicht feststellen, dass ich sehr zufrieden ausgesehen habe, und konzentriert, keine Spur von Überanstrengung. Man würde vielleicht (sofern ich nicht eh schon total geschafft bin) sehen, dass ich es genieße.

Mit meiner Familie bin ich bis auf eine Person auch genauso überkreuz, die sind einfach so und das wird sich nicht mehr ändern.
Deshalb sind wir ja nicht verkehrt auf die Welt gekommen, wie man bei solchen Erfahrungen immer mal wieder vermuten könnte (und was auch unsicher machen kann).

So wie wir auf die Welt gekommen sind, sind wir in Ordnung.

LG Gertrud
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