Depression als Lebenschance?

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Linus
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Depression als Lebenschance?

Beitrag von Linus »

Vor einigen Jahren begleitete ich einen mir sehr nahestehenden Menschen in der finalen Phase einer Erkrankung. Wenige Tage vor seinem Tod resumierte er über sein Leben und sagte folgendes zu mir:

"Niemand bekommt im Leben das, was er sich wünscht; jeder erhält jedoch das, was er braucht..."

Ich denke, dass sich keiner von uns Depressionen wünscht. Doch welche Bedeutung haben sie für uns auf unserem Lebensweg?
geborgenheit
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von geborgenheit »

Lieber Lothar

Deine Frage ist interessant und ich denke, dass es in der akuten Phase sehr schwer ist, darüber nachzudenken.

Ich habe Depressionen aus der Angehörigensicht über mehrere Jahre miterlebt und mir da natürlich viele Gedanken gemacht.

Für mich ist es so, dass ich schwere Erlebnisse als Chance sehe. Aber erst im Rückblick. Immer, wenn ich mitten drin stand, dann war das Überleben am Wichtigsten. Im Rückblick konnte ich dann erkennen, welche Persönlichkeitsentwicklungen mir diese schwere Zeit gebracht hat. Ich bin überzeugt, dass ich ohne diese schweren Zeiten heute ein anderer Mensch wäre. Ob ich das möchte? Ich glaube nein. Auch wenn es Reaktionsmuster von mir auf Grund der schweren Erfahrungen gibt, die schwer anzunehmen sind.

Soviel zu meinen spontanen Gedanken.

Wie hast Du diese Zeit des Begleitens und des anschliessenden Abschiednehmens erlebt? Es war bestimmt für Dich nicht einfach.

Ich wünsche Dir eine gute Zeit
Geborgenheit
freebird
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von freebird »

Hi Lothar,

wenn ich tief in der Depression steckte, dann hatte ich auch ständig das Gefühl, dass das alles keinen Sinn macht und dieses Leiden ungerecht und unerträglich ist.
Ja, tiefe und schwere Depressionen sind meistens nicht zu ertragen!!!!
Allerdings ungerecht finde ich sie nun nicht mehr.
Ich habe für mich herausgefunden, dass meine Depris - egal ob furchtbar schwer oder auch federleicht (beides kommt bei mir noch heute vor) wie ein Kompass sind. Sie leiten mich und zeigen mir, wo ich wieder einmal zu wenig auf mich selbst und zu viel auf andere geachtet habe. Sie zeigen mir, dass ich Wunden meiner Seele wieder einmal ignoriert habe und die Depris mahnen mich zur Ruhe.

"Wenn Du es eilig hast dann gehe langsam"
dieser Satz ist dann mein Mantra.

Ich sehe die Depression nicht mehr als meinen Feind an, der mein Leben zerstören will. Ich glaube, dass es mein ganz tiefes ICH ist, das mir sagt wenn ich mich wieder einmal verirrt habe.

Liebe Grüße
Corinna
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Linus
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von Linus »

Hallo Corinna,

ich kann das, was Du schreibst, gut verstehen. In ein Geschehen involviert, ist es völlig unmöglich den Überblick zu bewahren. Erst aus dem Abstand heraus gelingt es dann Verständnis für die Dinge zu erlangen. Wir alle sind in unsere individuelle Lebenswirklichkeit involviert. Das gilt letztendlich auch für den Menschen im Zustand von Depression.
Deine Depressionen haben - wie Du erkannt hast - etwas in Dir bewirkt. Sie sind Teil Deines Lebensweges und Deiner Individuation geworden.
Ein solcher Satz, der Dir in schweren Stunden behilflich ist und den Du als Mantra (heiliges Wort) bezeichnest, hat in der fernöstlichen Spiritualität eine hohe Bedeutung. Wenn Du Interesse daran hast, kannst Du in der Literatur vieles über sogenannte >Koans< finden. Das Koan ist ein Satzkonstrukt mit sich gegenseitig aufhebender Aussage. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es eine hermeneutische Bedeutung hat, will heißen, dass es nur derjenige versteht der durch eigenes Erleben Zugang zur hermeneutischen >inneren< Bedeutung des Koans findet. Koans werden im Zen-Buddhismus als Meditationsgrundlage verwendet.
Linus
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von Linus »

Hallo!
Die Thematik Sterben und Tod wird in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert und verdrängt. Wir sind jedoch alle darauf verwiesen, eine eigene, individuelle Einstellung zu diesem Themenkreis zu finden, uns letztendlich auch mit unserer eigenen Sterblichkeit abzufinden.
Ich habe in der Begleitung des schwerkranken Menschen vieles erlebt, das kausal nicht begründet werden kann, das >unerklärlich< ist und das doch eine gewisse Rolle im Leben eines jeden Menschen spielt. Unserem Bewußtsein sind Grenzen gesetzt die zu überschreiten uns im Leben nicht möglich sind. Im Grenzbereich zwischen Leben und Tod verwischen sich diese Grenzen und derjenige, der sich zum Beispiel in einer Sterbebegleitung darauf einläßt, erhält manchmal eine Ahnung von diesem >Anderen<, jenseits rationaler Erkenntnisfähigkeit.

Diese Erfahrung ist mir sehr wertvoll. Ich denke, dass viele Menschen in unserer Zeit sehr oberflächlich leben und dass solche Erfahrungen dazu beitragen können, dem Leben und somit auch dem ANDEREN mehr Achtung entgegenzubringen, auch wenn dieser Andere nicht (mehr) den Idealen entsprechen kann (oder will) die gesellschaftlich eine so große Rolle spielen.
freebird
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von freebird »

Hi Lothar,

äh...mh...grübel!!!
Ich weiß nicht ob ich Dich jetzt richtig verstanden habe?! *amkopfkratz*

1) Also erst einmal weiß ich schon was ein Mantra ist. Ich werfe nicht mit Worten um mich, dessen Bedeutung ich nicht kenne.

2) Ist bei mir angekommen, dass Du vielleicht (ich versuche mich vorsichtig auszudrücken - um keinen Streit oder Missverständnisse aufkommen zu lassen) meinen Beitrag als "Vorwurf" oder "Anklage" verstanden hast? *vorsichtausderwäschekuck*

Dies sollte keines von beiden sein. Ich habe nur von mir und meinen Erfahrungen gesprochen. Die sind mir allerdings auch nicht über Nacht zu gefallen. Die habe ich mir unter viel Tränen, Schweiß und harter Arbeit erarbeitet. Jeder macht andere Erfahrungen und das ist auch gut so. Jeder ist anders gestrickt, kommt aus einem anderen familiären Umfeld, hat andere Lebenserfahrungen gemacht. All das trägt zur Heilung und zum Verständnis der eigenen Depressionen bei. Ich habe ledig versucht im übertragenen Sinne eine Kerze anzuzünden, die vielleicht einen Weg eröffenen kann. Ob jemand diese Kerze sehen möchte und dem Weg folgen möchte oder nicht. Bleibt ganz allein ihm selbst überlassen.

Liebe Grüße
Corinna
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Linus
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von Linus »

Hallo Corinna,

ich habe Deinen Beitrag nicht als Anklage verstanden, wie ich auch meinen Beitrag nicht als Anklage verstanden wissen möchte. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass das, was Du als Mantra benutzt in der östlichen Philosophie als Koan bekannt ist. Ich habe darauf hingewiesen da es Dich vielleicht interessieren könnte.

Insofern ist mein Beitrag ebenfalls ein Licht, das entweder ergriffen werden kann oder nicht.

Gruss
Lothar
sewi
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von sewi »

freebird
Beiträge: 1137
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von freebird »

Hi Lothar,
Hi Sewi,

ehrlich gesagt komme ich bei der Diskussion jetzt nicht mehr ganz mit.

Lothar ich habe Deinen Beitrag überhaupt nicht als Anklage verstanden. Sondern eher die Befürchtung gehabt, Du hättest mich vielleicht falsch verstanden und Dich gekränkt gefühlt und ich wollte Dich absolut nicht kränken. Daher habe ich noch mal "nachgehakt".
Also keine Panik, ich habe Deinen Beitrag nicht als Anklage verstanden!!!!

Sewi,
Der Kommentar, sich für einen Hinweis entschuldigen zu müssen - auch wenn er mit einem Augenzwinkern versehen war - finde ich überflüssig.

Liebe Grüße
corinna
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sewi
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von sewi »

freebird
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von freebird »

Hallo sewi,

bin schon weg!!!!!!!!!!!!!!!!!
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sewi
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von sewi »

Linus
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von Linus »

Lieber Sewi,
die Frage warum manche an Krebs erkrankte Menschen in der finalen Phase ihrer Krankheit nicht depressiv sind ist eine Frage die sich an ein philosophisches Phänomen richtet. Es wird innerhalb der Philosophie zwischen noetischem Wissen und dia-noetischem Sein unterschieden. Der Prozeß der Wandlung von noetischem Wissen das durch den Denkprozeß erlangt werden kann in dianoetisches >Wissen< das sich durch die Integration in das Sein des Menschen auszeichnet, also >verinnerlichte Ratio< ist, wird >phronesis< genannt. Dieses phronetische Sein ist hermeneutisch, d.h. ein Außenstehender kann dieses verinnerlichte, zum Sein des Betroffenen gehörige >Wissen< nicht erfahren, da er selbst außerhalb dieses phronetischen Prozesses steht. Erst derjenige, der selbst eine Situation am >eigenen Leibe< erfahren hat >weiß<. Was nun ein schwerkranker Mensch in seiner finalen Lebensphase >weiß<, ist hermeneutisch, bleibt uns Außenstehenden verborgen.

Ich habe vor einigen Jahren in einer Sterbebegleitung einen Patienten seinen Zustand einem Angehörigen erklären hören, der um eine angemessene Antwort darauf, dass >es< doch wohl schlimm sei, derart krank zu sein nach Worten suchte. Schließlich sagte er daß man in eine Krankheit >hineinwachse<. Die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit, mit dem eigenen Tod ist ein Ab-findungs-prozeß. Was ein betroffener Mensch findet, das entzieht sich jedoch aufgrund seiner Hermeneutik uns außenstehenden Menschen.

Lieber Sewi, ich habe auch eine Frage an Dich:
Ich habe Dir in meinem vorangegangenen Posting mitgeteilt, daß ich es schade finde dass wir aufgrund der Tatsache, dass Du Dein user-profil nicht freigibst nicht in Mailkontakt treten können. Ich beobachte immer häufiger dass Menschen Dinge (zu beantworten) verdrängen, die sie nicht beantworten wollen. Das ist sehr schade, da es zu einer Einseitigkeit der Kommunikation führt. Ich bin da leider recht ratlos. Kannst Du mir erklären, warum Menschen so handeln? Derartiges Verdrängungsverhalten nennt man in der Kommunikationspsychologie einen >Gesprächsblocker<. Ein Gesprächsblocker blockiert den Gesprächsfluß, beendet ein Gespräch und wird von den meisten Menschen unbewußt eingesetzt. Warum nur? Jeder sucht für sich Hilfe, doch niemand ist bereit, dem Anderen einen Schritt entgegenzugehen.

Leider begreifen die meisten Menschen nicht dass wir alle in EINEM Boot sitzen und dass nur im Anderen der Schlüssel auch für das eigene Wohlergehen liegt...
Sanny77
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von Sanny77 »

Hallo,

darf ich mich einmischen? Finde, dass das ein wirklich sehr interessantes Thema ist und habe mich auch während meiner Therapien recht intensiv damit beschäftigt. Am Anfang habe ich mich immer gefragt:"Warum? Warum ICH?" Ich habe immer nach der Antwort gesucht, für was ich bestraft werde, dass ich diese Krankheit habe. Heute denke ich sehr viel anders darüber:
Lothar,Du hast gefragt welche Bedeutungen Depressionen für unseren Lebensweg haben. Ich denke, sie SIND unser Lebensweg. Jeder hat halt einfach seinen Weg im Leben zu gehen. Das ist so, das kann man nicht ändern. Man kann nur entscheiden, WIE man ihn geht (wobei das in einer Depression natürlich schwierig ist, aber es gilt halt für JEDEN - egal, ob krank/gesund, dick/dünn, kurz/lang...).
Ich habe meinen Opa (der mir sehr nah stand und der für mich etwas ganz besonderes war und noch immer ist) in den letzten Monaten vor seinem Tod(die bestimmt nicht sehr lebenswert waren) begleitet. Obwohl ich nun (für mich) herausgefunden habe, dass das nun einmal sein Weg war, quält mich noch immer die Frage, warum dieser so schmerzhaft sein musste? Ich weiss, dass es einen Sinn haben muss, auch dass mich die Suche danach irgendwann wahrscheinlich nochmal komplett verrückt macht. Aber diese Frage stellt sich mir halt immer und immer wieder.

So, hoffe, ihr konntet verstehen, was ich sagen will!?!? Ist immer so schwierig, die richtigen Worte zu finden.

Gruß
Sanny
Gruß

Sanny





Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein.



Simone de Beauvoir
sewi
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von sewi »

sewi
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von sewi »

Linus
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von Linus »

Hallo Sanny,

die Frage nach dem Grund für das Leid in der Welt und insbesondere in unserem eigenen Leben verlangt uns eine Einstellung zum Leben ab mit der wir (weiterhin) leben und irgendwann einmal auch sterben können.

Das, was der Mensch im Leid erfährt ist hermeneutisch, d.h. die Leiderfahrung entzieht sich in der VOLLKOMMENHEIT ihrer Erfahrung dem Außenstehenden bis auf eine rational mitteilbare Annäherung, wie ich bereits in dem Posting über die phronesis beschrieben habe.

Das Prinzip Hoffnung, das uns trotz der Bedrohung von Leiderfahrung am Leben festhalten läßt, ist getragen von dem Gedanken der Sinnhaftigkeit all dessen, was uns widerfährt, also auch auf die Leiderfahrung bezogen.

Ein berühmt gewordener Psychoanalytiker (Erich Fromm) fand heraus, dass die Bereitschaft des Menschen Leid zu ertragen daran gebunden ist ob dem Leid ein Sinn abgewonnen werden kann.

Das, was vielfältig zu unserem Leid beiträgt sind unsere Vorstellungen darüber, wie unser Leben, unser Sein zu verlaufen hat. Dabei steht unsere Fixierung auf das eigene >Ich< und dessen Wohlergehen im Mittelpunkt unseres Interesses und versperrt den Ausblick zum Anderen und auf das Andere.

Dieses >Andere< ist einerseits DER Andere, also der Mitmensch, dessen Bedeutung für das eigene psychische Wohlbefinden in unserer Zeit vom egozentrierten Gedanken verschüttet ist, es ist aber auch DAS Andere, das über die normale Seinserfahrung hinausgeht.

Leiderfahrung wird sowohl in der östlichen Philosophie mit seinen spirituellen Praktiken als auch in den Religionen der westlichen Welt als >Katharsis<, als Reinigungsweg betrachtet. Erst die Auslöschung des >Ich< im Rahmen seiner Überwindung, wie sie im Zen-Buddhismus gelehrt wird, gibt die Erfahrung des Anderen (Seins) preis.
Die Katharsis ist ein Reinigungs- und Wandlungsprozeß der Seele. Ein im Christen- und Judentum bekanntes Bild der Katharsis ist die Hölle.
Leiderfahrung ist >Hölle< aber zugleich auch Initiation, (lat. initare = das Tor zum Verborgenen öffnen) Konfrontation mit, und Einweihung in das >Andere<.

Der Weg durch die >Hölle< des Leides mündet in der Erfahrung des im positiven Sinne >Anderen<. Die christliche Mystik als innere Dimension des Christentums will das Leid als Weg zu Gott verstanden wissen. Sie verbindet die Erfahrung des Anderen mit der Gotteserfahrung des Menschen durch/im Leid. Somit kennt auch das Christentum das Leid als Weg der Reinigung der Seele in Überwindung des >Ich<.

Zwar ist die Erfahrung dieses >Anderen< nicht mitteilbar, doch wandelt es den Menschen. Es gibt Menschen, die nach mit großem Leid verbundenen, schwerwiegenden Schicksalsschlägen ihr Leben völlig anders ausrichten als zuvor. Ihnen ist fortan das, woran die meisten Menschen hängen, plötzlich >nichts< mehr, anderes, was die Mehrzahl der Menschen übersieht, alles.

Leid stelle ich mir wie einen Wirbelsturm vor, der nach außen hin alles zerstört,in dessen Innerem jedoch völlige Windstille, Frieden herrscht. Der Weg des Leides ist der Weg von diesem Äußeren des Wirbelsturms in sein Inneres der Windstille und des Friedens. Nur die Hoffnung und der Glaube an die Sinnhaftigkeit auch des Widrigen können den Menschen Stütze und Halt geben auf seinem Weg vom Äußeren des Sturms in sein Inneres sich selbst nicht zu verlieren.

Es gibt im Sufismus, der mystischen Dimension des Islam, eine sehr schöne Erzählung über die Leidüberwindung. Das Leid wird darin als die Wüste dargestellt, die es zu durchqueren gilt. Die Durchquerung verlangt jedoch die Auflösung des jetzigen Zustandes in Übereignung an ein anderes, tragendes Prinzip. Darin spiegelt sich das Urprinzip des >Stirb und Werde< im Rahmen einer Metempsychosis, einer Wandlung die in einer Metanoia, einer Seinserneuerung mündet. Sein, Krise, Bedrohung durch den Tod, Überwindung durch Wandlung in/durch Vertrauen auf Andere und Auferstehung in veredelter Form in Überwindung der Krise wird darin dargestellt:

Ein Strom wollte durch die Wüste zum Meer. Doch so schnell er auch in den Sand fließen mochte, seine Wasser wurden dabei aufgesogen und verschwanden. Da hörte er eine Stimme, die aus der Wüste kam und sagte: "Der Wind überquert die Wüste, und der Strom kann es auch. Du musst dem Wind erlauben, dich zu deinem Bestimmungsort hinüberzutragen."
"Aber wie sollte das zugehen?"
"Indem du dich von ihm aufnehmen lässt,"
"Aber kann ich nicht derselbe Fluss bleiben, der ich jetzt bin?"
"In keinem Fall kannst du bleiben, was du bist," flüsterte die geheimnisvolle Stimme. "Was wahrhaft wesentlich an dir ist, wird fortgetragen und bildet wieder einen neuen Strom."
Und der Fluss ließ seinen Dunst aufsteigen in die Arme des Windes, der ihn willkommen hieß, sachte und leicht aufwärts trug und ihn, sobald sie den Gipfel des Gebirges erreicht hatten, wieder sanft herabfallen ließ. Schöner und frischer als je zuvor.

(Alte Erzählung der Sufimeister)

Ich hoffe, ich konnte Dir bei Deiner Suche nach einer für Dich annehmbaren Sinnhaftigkeit des Phänomens Leid hiermit ein wenig behilflich gewesen zu sein.

Liebe Grüße

Lothar
Linus
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von Linus »

Hallo Sewi,

ich möchte Deine Vermutung, ich interessiere mich für Sexualität, nicht so stehen lassen, sondern dahingehend korrigieren, dass mich nicht die Sexualität, sondern die ihr zugrunde liegende Dimension des Eros als ihre antreibende Kraft an der Sexualität interessiert.

Es geht mir also weniger um die Fragen nach der Sexualität als Praktik sondern um das Warum im Sinne der Bedeutung von Sexualität für den Einzelnen im Rahmen seiner spirituellen Reifung.

Gruss
Lothar
banshee
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von banshee »

hallo lothar,

vielen dank für den ausführlichen text, ich habe hier vieles in worte gefasst wiedergefunden, das mir oft durch den kopf geht, was mir aber schwer fällt, anderen menschen mitzuteilen. danke!

verena
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Ich meine, es müßte einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen, wenn sie erkennen, daß sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können. (C. Morgenstern)
sewi
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Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von sewi »

Ronja75
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Registriert: 22. Mär 2003, 18:35

Re: Depression als Lebenschance?

Beitrag von Ronja75 »

"Sich selbst hingeben"... für einen Kontrollfreak wie mich eine ziehmlich schwere Aufgabe..

Mal zum thema zurück:
Worin seht ihr die Chance, die in einer Depression steckt?
Ronja
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