An Lothar - Betr. Hermann Hesse

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anonymos
Beiträge: 10
Registriert: 13. Feb 2003, 09:52

An Lothar - Betr. Hermann Hesse

Beitrag von anonymos »

Hallo Lothar,

auch ich habe ein Lieblingsgedicht von Hermann Hesse, welches mir nach einer jahrelangen Depression einen richtigen Aufschwung gegeben hat. Nach fast 4jähriger Therapie habe ich ein ganz helles Licht am Ende des Tunnels und ein irres Kraftgefühl im Bauch.

Stufen

Wie jede Blüte und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jdem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Hemat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden....
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse

Eigentlich wollte ich keinen neuen Thread eröffnen, sondern dieses Gedicht an einen Beitrag dranhängen. Hat leider nicht geklappt.

Anonymos
Linus
Beiträge: 23
Registriert: 17. Feb 2004, 19:32

Re: An Lothar - Betr. Hermann Hesse

Beitrag von Linus »

Hallo Anonymos,

das Gedicht >Stufen< von Hesse gehört auch zu meinen Lieblingsgedichten. Es sagt etwas über die Individuation des Menschen, seine Selbst-, Ganz-, bzw. im religiösen Sinne >Heilwerdung< aus. Dieser lebenslang andauernde, spirituelle Prozeß verläuft nach Hesse stufenweise. Eine Analogie zu diesem inneren Werdungsprozeß findet sich auch in der Evolutionsgeschichte, die sich ebenfalls stufenweise vollzieht. Dabei erscheint mir besonders interessant, dass diese stufenweise Entwicklung >holistisch< ist. Das bedeutet, dass vorangegangene Stufen in die neue Stufe integrativ aufgenommen, also nicht ausgelöscht werden. Von Relevanz ist das in Hinsicht auf die Frage der Kontinuität individuellen Seins nach dem Tod als die auf das irdische Leben folgende, finale Stufe. Sofern der Holismus sämtliche Entwicklungsstufen umfaßt und nicht nur auf rein physische Entwicklungsbereiche beschränkt ist, dürfen wir auf eine Kontinuität wesentlicher Anteile unseres Seins auf einer übergeordneten Stufe hoffen. Die Tatsache, dass auch psychische Entwicklungsprozesse holistische Tendenzen aufweisen spricht dafür, dass der Holismus nicht nur auf die rein physische Entwicklung beschränkt ist.

Das Prinzip des >Stirb und Werde< als Lebensprinzip ist von >tragender< Bedeutung in Hesses Gedicht >Stufen<. Die Kontinuität des Seins in seiner stufenweisen Wandlung, die einem Sterben des Alten aus dem das Neue hervorgeht, unterliegt, wird von Lebensstufe zur Lebensstufe sich wandelnd, weitergetragen, bis schließlich die letzte Stufe des Lebens, diejenige zum Tod, erreicht wird. Hesse begegnet dieser letzten Stufe mit Optimismus. Was für das Leben gilt, das gilt auch über das Leben hinaus, da der Tod am Horizont des Lebens zum Leben selbst gehört. Leben und Tod bilden eine Einheit, die daher beide vom Gesetz der ewigen Weiterentwicklung beherrscht sind.

Entwicklungsstufen können jedoch nicht übersprungen werden. So beschneidet sich derjenige, der eine Flucht in den Tod durch Selbsttötung vollzieht, sich selbst dem spirituellen Reifungsprozeß. Alles, was wir im Leben erfahren, auch die negativen Ereignisse, wandeln uns und haben somit auch ihre Berechtigung, der wir uns nicht entziehen dürfen.

Am Ende dieses Individuationsprozesses, der - wie oben erwähnt - religionsphilosphisch auch als Heilwerdung betrachtet wird, steht bei allem erfahrenen Unheil die Fülle, das Heil, die Glückseligkeit.


Anonym schrieb:
> Hallo Lothar,
>
> auch ich habe ein Lieblingsgedicht von Hermann Hesse, welches mir nach einer jahrelangen Depression einen richtigen Aufschwung gegeben hat. Nach fast 4jähriger Therapie habe ich ein ganz helles Licht am Ende des Tunnels und ein irres Kraftgefühl im Bauch.
>
> Stufen
>
> Wie jede Blüte und jede Jugend
> dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
> blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
> zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
> Es muss das Herz bei jdem Lebensrufe
> bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
> in andre, neue Bindungen zu geben.
> Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
> der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
>
> Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
> an keinem wie an einer Hemat hängen,
> der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
> er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
> Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
> und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
> nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
> mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
>
> Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
> uns neuen Räumen jung entgegensenden,
> des Lebens Ruf an uns wird niemals enden....
> Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
>
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> Eigentlich wollte ich keinen neuen Thread eröffnen, sondern dieses Gedicht an einen Beitrag dranhängen. Hat leider nicht geklappt.
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