Welchen Sinn hat Depression?

ben1
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Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von ben1 »

Hallo Kroki

Vielen Dank für Deinen Beitrag. Genau das war meine Hoffnung, als ich den Thread eröffnet habe. Es geht nicht darum, die Depression zu Glorifizieren - die ist oft eine so tiefe, einschneidende Lebenskrise, das genau dann, wenn man mittendrin steckt (Grüße und Dank an BeJu) da keinerlei Sinn oder keinerlei Potential gesehen werden KANN (das ist keine Schwäche, das ist so - das war bei mir so und das ist mit Sicherheit auch bei ganz vielen anderen Betroffenen so).

Und meine Hoffnung ist einfach nur, das alle die, die mittendrin stecken, da ein kleines Licht am Horizont sehen, ein Schimmern, ein kurzes Aufblinken, das da noch was kommen könnte (und kommt!!), dass das Leben wieder lebenswert macht, und das da schon viele Menschen diesen Weg gegangen sind. Und dieser Gedanke "Ja toll, so viele haben es geschafft, sich damit zu arrangieren - ich bin einfach zu blöd dafür" ist auch eine völlig zum Weg passende Station, die durchlebt werden muss. Diese absolute Hoffnungslosigkeit, dieses völlig am Boden liegen (Danke für die sehr plastische Schilderung, Kroki) gehört dummerweise zur Krankheit. Aber es geht weiter ...

Ich hab mal geschrieben, die Depression stellt den 100-Meter-Läufer vor die Aufgabe, Marathon zu laufen. Und das ist ein großes Um- und Neulernen. Ich darf (muss?) mich neu kennenlernen, um in diesem Leben zu bestehen. Ich darf (muss?) meine eigenen Werte erarbeiten. Ich darf (muss?) mich meinem Lebenskonzept stellen und darf (muss?) mich als verantwortlich für mein Leben (mit all den Rucksäcken, die ich nun mal dabei habe) fühlen dürfen. Ich darf (muss?) eigene Grenzen setzen (und die Konsequenzen tragen), darf (muss?) eigene Ziele für mich finden und ich darf (muss?) die Kriterien für ein für mich lebenswerte Leben finden.

Wow, was für eine Aufgabe! Die kann man nicht in 2 Wochen, 2 Monaten oder 2 Jahren lösen. Aber man macht sich auf den Weg, erkennt, das man immer neu Antworten auf dieses Leben finden kann/muss/darf. Dieser Prozess hört nicht auf, man kommt nicht an, aber man wird immer echter und echter und echter. Man lernt aus jeder Erfahrung, aus jedem "Fehler", man bleibt in Bewegung.

Und dennoch: Es lohnt sich!

Vor der Depression lief mein Leben auf "Autopilot" - alles war geregelt, alles war "klar", richtig und falsch waren völlig "logisch" definiert - und plötzlich merkte ich, das da nicht ich fahre, sondern das ich da gefahren werde. Also hab ich mich mit großer Angst selbst ans Steuer gesetzt - erst nur mal, um alle Instrumente kennenzulernen, die es da gibt. Und dann hab ich in Schrittgeschwindigkeit erste zarte Fahrversuche unternommen. Und nach und nach kommt man selber in Fahrt - immer mal wieder von einem Fahrlehrer begleitet (das muss nicht immer ein Thera sein - man kann sich auch von anderen Fahrern wertvolle Sachen abschauen). Man kriegt ein Gefühl fürs Fahrzeug (wann braucht das eine Pause, weils sonst überhitzt? Wann muss man tanken oder auch mal die Reifen wechseln) und bewegt sich genau so (un)sicher wie auch alle anderen auf diesem Weg, der nun mal unser Leben ist.

Ich spreche gerne in Bildern - vielleicht versteht der eine oder andere, was ich meine

Wünsche Allen alles Beste

Ben
Musikant
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Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von Musikant »

Hallo Ben, hallo zusammen,

einen Sinn hat die Depression für mich als solche nicht. Ich sehe es vielmehr so, dass ich ihr einen Sinn geben kann - oder auch nicht, denn ich kann das ja auch sein lassen, da habe ich die freie Wahl.
Es ergibt sich also nicht nur die Möglichkeit, etwas einen Sinn zu geben, sondern ich habe es auch noch selbst in der Hand, wie dieser Sinn aussehen soll. Wenn ich mich also darauf einlasse, kann ich den Sinn der Depression z.B. als 'Sprungbrett' betrachten, oder auch als 'Meilenstein' in meinem Leben, ab dem ich - weil die Not so unerträglich groß geworden ist - wieder anfange, selbst zu handeln und mich zu bewegen.

Ben, Du schreibst, dass die Aufgabe, sein Leben neu zu gestalten und es lebenswerter zu machen, 'nicht in 2 Wochen, 2 Monaten oder 2 Jahren' gelöst ist. Das ist aber ganz schön abschreckend ... und ganz schön wahr.
Tatsächlich kann es sogar 'schön' wahr sein; das hängt von Dir, von mir und von allen ab, die sich an die Aufgabe machen.
Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, mach' Zitronenlimonade draus!
ben1
Beiträge: 1379
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Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von ben1 »

Lieber Musikant

Danke für Deine sehr reflektierte (und ich denke auch mutmachende) Sichtweise! Ich habe nochmal mein Posting gelesen und hab auch erkannt, dass das abschreckend wirken kann - dann lass mich ergänzen - bzw, wieder ein Bild bemühen (ich kann da oft mehr damit sagen, als mit bloßen Worten)

Die Depression machte mich vom (scheinbaren) Eigenheimbesitzer (alles fest, alles sicher, alles verankert) zum Wohnmobilnutzer. Ich habe erkannt, das (neben ein paar überdauernden, grundsätzlichen Werten die ich mein eigen nenne) meine Aufgabe im Leben ist, beweglich zu werden und zu bleiben. Ich hab erkannt, das ich mit meinem Wohnmobil gestrandet war - es hat nicht mehr den Zweck erfüllt, für den es erfunden wurde.
Der Weg ist das Ziel (mein Gott, eine solch abgedroschene Phrase) aber es ist in meinem Weltbild nicht mehr wichtig, anzukommen (im Sinne von "jetzt passt alles - und zwar für alle Zeiten"), sondern solche Momente des Ankommens (die es durchaus gibt), wie der Camper zu nutzen, sich daran zu erfreuen, zu rasten und zur Ruhe zu kommen, aber gleichzeitig zu wissen, dass das Leben Bewegung ist und auch neue Aufgaben auf mich warten, die ich heute weder benennen, noch lösen, noch umgehen kann.

Du sprichst sehr richtig die Deutungsmacht an, die ich gegenüber der Depression habe. Ich kann ihr einen Sinn geben - muss aber nicht. Und beide Alternativen sind denk- und lebbar. Wenn ich es aber schaffe, der Situation einen gewissen Sinn abzuringen (und sei der auch noch so weit hergeholt), liefert das neue Energie (die wir genau dann unbedingt benötigen). Das war Ziel des Threads.

Danke für Deine starken Worte (Sprungbrett, Meilenstein) - ich hätte es nicht besser sagen können!

Alles Gute

Ben
Musikant
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Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von Musikant »

Lieber Ben,

vielen Dank für Deine Zeilen.
Abschreckend finde ich vor allem, dass viele nicht bereit sind, in ihrem Verhalten mal andere Wege auszuprobieren. Natürlich sind die antrainierten Verhaltensweisen in der Depression (und auch davor) sehr stark und zusätzlich soll auch noch über einen langen Zeitraum gearbeitet werden ... das sind wahrlich keine guten Argumente, mit denen ich der Depression etwas entgegensetzen soll.
Muss ich mich denn immer und immer wieder bewegen und aktiv sein um etwas zu verändern? Kann ich nicht einfach mal meine Ruhe haben und alles bleibt dann eben so wie es ist? Und warum muss ich was Neues ausprobieren und einen anderen Weg gehen, den ich ja überhaupt nicht kenne?

Weil es an dieser Stelle gut passt:
Wo kämen wir denn da hin, wenn alle sagten 'wo kämen wir denn da hin?' und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man denn ginge? (nach Kurt Marti, glaube ich)


Bei mir war (um wieder auf das Thema zu gelangen) glücklicherweise die Not so groß, dass sich etwas ändern musste. Das meine ich tatsächlich so, wie ich es geschrieben habe.
Heute mache ich immer noch Fehler und ich bin immer noch auf dem neuen, anderen Weg und ich weiß auch nicht, ob ich jemals ankomme ...

So, und jetzt ziehe ich meine Sportsachen an. Und wenn ich sie schon mal anhabe, dann kann ich auch auf den Ergometer gehen, denn sonst lohnt es sich ja nicht, sich extra umgezogen zu haben.
Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, mach' Zitronenlimonade draus!
BeJu
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Registriert: 16. Feb 2013, 22:09

Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von BeJu »

So, da sich gerade mal der graue Schleier geistiger Vernebelung hebt, will ich meine Gedanken zum Thema - vielleicht etwas wirr- mitteilen.

Mir will sich einfach kein richtiger Sinn in der Depression erschließen. Sinn verstehe ich jetzt mal als Nutzen. Wieso sollte dieses abgrundtiefe Leiden irgendeinen Nutzen haben? Ich bin davon überzeugt, dass ich unweigerlich aufgrund meiner Erkenntnisse, die ich evt. durch die Botschaften in und aus einer depressiven Phase gewonnen habe, kein besseres oder anders formuliert, ein näher an meinen ureigenen Bedürfnissen und deren Realisierung ausgerichtetes Leben, führe. Oder heißt das jetzt im Umkehrschluss, dass ich immer noch nicht genug Erkenntnisse gewonnen oder nicht genügend für deren Umsetzung in Richtung Heilung getan habe?
Hätte ich nie Depresionen bekommen, würde ich heute genauso leben, wie jetzt, nur eben ohne diese alle Sinne umfassende bodenlose emotionale Verzweiflung und Blockiertheit im Denken und Handeln.
Meine Depressionen sind wie ein implodierender Schwamm, der mein Ich in sich aufsaugt und komplett zu vernichten droht. Ich war schon das ein oder andere Mal in meinem Leben über einen längeren Zeitraum weit über das erträgliche Maß hinaus abgrundtief verzweifelt.
Mein Hirn schaltet dann auf Turbodenken, ergebnislos, komplett fehlerbehaftet und in den Wahnsinn treibend. Ich verstehe mein quälendes Denken als konsequente, aber sehr schmerzliche Suche nach dem Ausweg. (Welche Verschwendung quantitativer kognitiver Höchstleistungen. Ich stell mir immer vor, was ich wohl mit der Energie, die ich in einer Depressiven Phase an fehlgeleiteten Denkleistungen aufbringe, alles sinnvolle, produktive leisten könnte.)

Depressionen Sinn geben ist eine nachträgliche philosophische Rechtfertigung menschlichen Martyriums, oder psychologisch gesehen: dem Menschen kann durch Depressionen Weisheit im Sinne der Selbstfindung zu Teil werden, dafür muss er allerdings den hohen Preis des Leidens tragen. Und genau das will mir einfach nicht in den Sinn!?

Indem ich meiner Depression keinen Sinn gebe, schließe ich nicht aus, dass sie für andere sinngebend sein kann. Ich glaube auch zu ahnen, was andere ihrer Depression abgewinnen können. Dies kann ich ansatzweise dann auch , wenn es mir „nur“ nicht gut geht, weil ich gerade an meinem Leben vorbei lebe, aber dann bin ich traurig oder deprimiert - aber eben nicht depressiv. Für mich ein riesiger Unterschied.

Aber wobei ich bleibe ist: ich lebe lieber ein Leben haarscharf oder sogar ein bisschen weiter von meinem ureigenen malerischen treffsicheren ICH entfernt (sozusagen im Eigenheim) als ein Leben ( im Wohnmobil ) das mich über gute Zeiten ausmacht, aber immer und immer wieder auch in den Abgrund blicken lässt.

... jetzt habe ich wohl zu kompliziert gedacht, oder kann das irgendwer verstehen und nachvollziehen? Na, ja muss ja auch nicht.

Und zu guter Schluss bleibt auch in mir die tiefe Hoffnung: tiefer Schmerz muss auf Dauer Heilung bringen!
BeJu
Kroki
Beiträge: 814
Registriert: 15. Mär 2004, 17:50

Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von Kroki »

Liebe Manu,

danke für Deine positive Rückmeldung!

Herzliche Grüße an Dich :hello:

Kroki
fatrate
Beiträge: 176
Registriert: 30. Jul 2017, 08:26

Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von fatrate »

:arrow:
Zuletzt geändert von fatrate am 27. Aug 2019, 05:54, insgesamt 1-mal geändert.
Waldbär
Beiträge: 120
Registriert: 1. Mär 2018, 09:38

Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von Waldbär »

Hallo,

ich möchte hier ein Zitat von C.G. Jung anführen:

Die Depression ist eine Dame in Schwarz. Steht sie vor deiner Türe, so bitte sie herein und höre was sie zu sagen hat

Liebe Grüße,
Waldbär
suchenachsonne
Beiträge: 7
Registriert: 10. Mär 2018, 22:09

Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von suchenachsonne »

Die Sinnfrage habe ich mir auch schon oft gestellt.
In den schlimmsten Phasen, da gibt es nur Dunkelheit und Verzweiflung; in diesem Gefühl der Ausweglosigkeit kann ich keinen Sinn erkennen, denn ein Sinn ist für mich gewissermaßen "weiterführend".

Da ich jedoch das Glück habe, zwischen meinen Episoden lange symptomfreie Phasen zu erleben, versuche ich, der Verzweiflung einen Sinn anzutackern, nämlich die Tatsache, dass ich in diesen Zeiten Schönes und Besonderes wahrscheinlich sehr viel tiefer genießen kann als ich das könnte, wäre ich gesund. Ich habe gelernt, Freude zu schätzen und Gefühle der Leichtigkeit mit geradezu kindlichem Vergnügen zu feiern.
Ebenso bin ich dankbar, dass mir die Krankheit ermöglicht, meine Empfindungen in der Kunst auszudrücken, in Phasen in denen meine Sprache versagt.

Ich versuche mir zu sagen, bei allem Schmerz, dass wir Depressiven mit unserer Empfindsamkeit (auch wenn wir Schlimmstes empfinden!!!) eine gewisse "Weichheit" in die Gesellschaft einbringen, eine Verletzlichkeit und Empathie, die im Grunde auch sehr bereichernd sein kann.

Und zu guter Letzt: Es ist unglaublich, wie viele auch nach Jahrhunderten noch beeindruckende und faszinierende Kunstwerke von Menschen mit schweren Depressionen und sonstigen psychischen Erkrankungen geschaffen wurden.
marie711
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Registriert: 14. Mär 2018, 13:08

Re: Welchen Sinn hat Depression?

Beitrag von marie711 »

Ich sehe in meiner Depression die Change mich besser kennenzulernen und mein Leben zu verändern.
Ich habe die Möglichkeit an mir zu arbeiten und vielleicht mehr zu wagen als ich es sonst getan hätte.
Es ist ein langer und schwerer Weg aber nur so kann man lernen. Ohne die Depression hätte ich über manche Dinge nie nachgedacht. Sie hat mich mit manchen Menschen wieder näher zusammen gebracht und ich kann Hilfen in Anspruch nehmen die ich sonst wahrscheinlich gebraucht aber ohne diesen Ausbruch nie bekommen hätte.

Es fühlt sich oft richtig scheiße an und ich frage mich nur, wann ich endlich wieder daraus komme und mein Leben in die Hand nehmen kann aber ich denke mir immer - das Geschenk einer Kriese zeigt sich erst wenn wir durch sie gegangen sind.
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