ich bin 30, Single, Betroffene und lese auch immer wieder im Angehörigenforum mit. Mir ist es wichtig, euch Angehörigen zu vermitteln, wie „wir“ ticken, damit ihr das Verhalten besser versteht und so besser mit der Situation umgehen könnt. Ich freue mich, wenn ich euch etwas erklären kann, was euch weiterhilft.
Oft taucht hier die Frage zum Verhalten Betroffener auf: „Was ist die Depression und was ist der Charakter?“
Bevor ich euch meine Meinung dazu mitteile, möchte ich euch sagen, dass ich
- niemandem die Schuld für irgendetwas geben möchte
- hier nicht auf einzelne Leute anspielen möchte,
- niemanden persönlich angreifen möchte,
- auch nicht alles pauschalisieren will,
- Probleme nicht verharmlosen möchte und jetzt
-auch kein Pulverfass öffnen möchte
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Eine Zeit lang habe ich hier öfter mitgelesen und -geschrieben, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es mich immer wieder runterzieht. Beim Lesen hier habe ich nämlich langsam den Eindruck bekommen, dass es in Beziehungen mit depressiven Menschen nur Probleme gibt, Beziehungen mit Betroffenen immer kaputtgehen bzw. grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind und dass natürlich die Krankheit der Auslöser ist.
Auch auf anderen Internetseiten habe ich über Beziehungen mit Betroffenen gelesen und der Tenor war fast immer: Geht auf keinen Fall eine Beziehung mit einem Depressiven ein, das ist einfach nur furchtbar! Am besten sucht man gleich das Weite, sobald jemand das Wort „depressiv“ auch nur erwähnt! Gott sei Dank gab es auch ein paar (wenige) Gegenstimmen.
Ich wünsche mir sehr eine Beziehung, aber durch all das, was ich gelesen habe, habe ich den Eindruck bekommen, dass depressive Menschen total beziehungsunfähig, grundsätzlich unfreundlich, egoistisch, untreu etc. pp. sind bzw. von Anderen so gesehen werden.
Und ich muss ehrlich sagen, ich war echt fertig und habe Rotz und Wasser geheult, weil ich nicht mehr wusste, ob ich jemals eine Beziehung haben werde, wenn DAS die grundsätzliche allgemeine Meinung über Menschen mit Depressionen ist. Ich habe mich gefragt: Bin ich wirklich SO schlimm? Wie soll ich jemals jemanden kennenlernen, wenn jeder sofort das Weite sucht oder mich als potenziellen Partner sofort ausschließt, sobald er das Wort „depressiv“ hört oder sich im Internet ein bisschen über die Krankheit informiert und solche Sachen liest? Oder von Anfang an denkt, ich wäre sowieso untreu und egoistisch, weil ich ja depressiv bin? Oder mir ständig misstraut?
Zum Glück habe ich eine Familie, die mich da wieder aufgebaut hat.
Ich möchte euch hier die Schlüsse schreiben, die ich daraus gezogen habe:
1. Ich wünsche mir eine Beziehung und ja, ich habe Depressionen, aber ich bin mit Sicherheit nicht untreu, unehrlich, grundsätzlich unfreundlich, egoistisch, hinterhältig oder sonst was. Das hat nichts mit Depressionen zu tun.
Ich finde, da geht es um Werte, die man entweder hat, für die man sich (bewusst oder unbewusst) entschieden hat und nach denen man lebt oder nicht. Ich würde nicht auf die Idee kommen, mich innerhalb einer Beziehung aktiv nach jemand anderem umzuschauen, mir jemanden warmzuhalten oder fremdzugehen, weil ich davon ausgehe, dass mein Partner das auch macht, wenn er weg ist usw.
Wahrscheinlich ist das leichter gesagt als getan, wenn plötzlich doch jemand Anderes auftaucht, mit dem man plötzlich besser reden kann usw. Wer weiß, vielleicht bin auch ich nicht davor gefeit. Aber ich finde es schon einen Unterschied, ob ich das mit der Treue grundsätzlich locker sehe oder ob mir Treue etc. wirklich wichtig ist. Ich kann mir auch vorstellen, dass sowas mit Erziehung, Prägung, Vorbildern und Erfahrungen zusammenhängt.
2. Nicht alles, was ihr hier oder anderswo lest, ist wirklich depressives Verhalten. Mir fällt auf, dass Schwierigkeiten in Beziehungen oft dann entstehen, wenn
- man nicht (viel) miteinander redet,
- sich denkt, der andere denkt dieses und jenes, und dann so handelt, aber man nicht nachfragt, ob das wirklich so ist, der Andere das wiederum irgendwie interpretiert und sich das Ganze dann hochschaukelt
- sich der eine zu sehr an den anderen klammert,
- Verlustängste bestehen (kann auch Ursache/Folge von Depressionen sein, muss es aber nicht)
- der eine immer seine Interessen den Interessen des Anderen unterordnet
- der eine immer macht, was der Andere sagt
- der eine sich immer anpasst
- jemand keine Hilfe annehmen kann/will, aus welchen Gründen auch immer
- der eine den Anderen bemuttert und ihm alles abnimmt
- man nicht gelernt hat, konstruktiv miteinander zu streiten
- der eine den Anderen bewusst oder unbewusst manipuliert
- der eine vom Anderen oder beide von einander in irgendeiner Weise abhängig sind (gefühlsmäßig, nicht finanziell o.ä.)
- jemand seine Gedanken/Gefühle nicht äußern kann oder „darf“, weil der Andere sie nicht ernst nimmt
- man nicht offen und ehrlich miteinander reden kann
Das hat nichts mit Depressionen zu tun. Diese problematischen Verhaltensweisen können bei gesunden Partnern genauso vorkommen wie bei depressiven. Ich denke, es ist wichtig, schwierige Situationen auch auf solche Sachen abzuklopfen und zu sehen, ob vielleicht (unter anderem) hier der Hund begraben liegt.
3. Nicht jedes „komische“ und unverständliche Verhalten ist depressives Verhalten. Es können auch andere psychische Krankheiten oder Auffälligkeiten der Grund sein. Vor allem auf anderen Internetseiten und Foren wird oft so viel durcheinander geschmissen.
Da wird beschrieben, wie ein Depressiver ist, aber die Symptome/Verhaltensweise lassen sich (bei entsprechender Kenntnis…manchmal auch nur mit ein bisschen Nachdenken und Informieren [bezieht sich nicht auf dieses Forum]) anderen psychischen Krankheiten oder Auffälligkeiten zuordnen. Borderline, Narzissmus, Traumata, Angststörungen, Auswirkungen von Süchten… alles Mögliche wird der Depression zugeschrieben.
Lasst euch nicht blenden von solchen krassen Pauschalaussagen. Viele der beschriebenen Verhaltensweisen muss man differenzierter betrachten. (Auch kann man besser damit umgehen und helfen, wenn man weiß, welche Krankheit wirklich hinter einem Verhalten steckt.)
Ich finde es wirklich schlimm, was teilweise über Menschen mit Depressionen geschrieben wird. Und ganz ehrlich: Wenn ich nicht betroffen wäre und noch keine Ahnung von der Krankheit hätte, und ich würde das alles lesen: Ich wäre auch sofort weg. Oder würde zumindest sehr misstrauisch werden.
Deswegen möchte ich mit meinem Beitrag das Bild von „uns“ Depressiven etwas gerade rücken.
Und auch (v.a. den stillen Mitlesern) sagen, dass nicht jeder Depressive sich so verhält wie hier oder anderswo oft geschildert.
Zudem schreiben ja eigentlich vor allem Leute, die Probleme haben. Aber es geht mit Sicherheit auch anders.
Es tut mir wirklich leid für diejenigen von euch, die viel Energie, Kraft und Verständnis in ihre Beziehung gesteckt und großes Durchhaltevermögen gezeigt haben. Das zeigt viel Liebe und nicht jeder schafft das!
So, ich hoffe, das Pulverfass explodiert nicht
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Liebe Grüße,
DieNeue