Ich finde dieser Text eröffnet eine Sichtweise auf die Eigenschaft einer Depression, die viel treffender und auch leichter verständlich ist - sowohl für Depressive, als auch für Dritte im Umgang mit Depressiven:Kein Schrei nach Hilfe
Ein Therapeut stellte im Wartezimmer seiner Praxis ein Schild auf, das vermutlich einige Leben gerettet hat:
Ich mag den Ausdruck: »Ein Schrei nach Hilfe" nicht. Er vermittelt einen falschen Eindruck. Wenn jemand zu mir sagt, "Ich denke über Suizid nach, ich habe sogar schon einen Plan. Ich brauche nur einen Grund, es nicht zu tun", dann ist Hilflosigkeit das Letzte, was ich sehe.
Ich denke dann: Deine Depression macht Dich schon seit Jahren fertig. Sie schimpft Dich schon so lange hässlich, dumm und armselig, dass Du vergessen hast, dass es nicht wahr ist. Du siehst das Gute in Dir nicht und hast keine Hoffnung mehr.
Aber dennoch bist Du hier. Du bist zu mir gekommen, hast an meine Tür geklopft und gesagt: "Hey! Es ist gerade echt nicht einfach, am Leben zu bleiben! Gib mir etwas, womit ich kämpfen kann! Selbst wenn es nur ein Stock ist! Gib mir einfach einen Stock und ich kann am Leben bleiben!"
Was ist daran hilflos? Ich halte das für unglaublich. Du bist wie ein Soldat, der seit Jahren hinter den feindlichen Linien festsitzt. Deine Munition ist aufgebraucht, die Waffe hast Du auch verloren, Du bist am Verhungern und hast Dir wahrscheinlich noch irgendeinen fiesen Dschungel-Virus eingefangen, der Dich von gigantischen Spinnen halluzinieren lässt.
Und dennoch sagst Du: "Gib mir einen Stock. Ich werde hier draußen nicht sterben!"
»Ein Schrei nach Hilfe« lässt es klingen, als sollte ich Mitleid mir Dir haben, aber Du brauchst mein Mitleid nicht! Du hast den Willen zu überleben! Genau dieser machte den Menschen zur dominanten Spezies.
Ohne eine Garantie auf Erfolg bist Du bereit, Dich durch hunderte Kilometer lebensfeindlichen Dschungels zu kämpfen, mit nichts weiter als einem Stock, wenn Du dadurch die Chance hast, in Sicherheit zu gelangen.
Alles was ich tue, ist Stöcke verteilen. Du bist derjenige, der am Leben bleibt!
Depressionen sind kein "bloßes Leiden". Depressionen sind Ausdruck des inneren Kampfes den ein depressiver permanent führt; 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, monatelang manchmal jahrelang. So wie der Soldat in dem Text. Depressionen sind eher vergleichbar mit einem körperlich schwer kranken Menschen, dessen Körper z.B. gegen ein lebensgefährliches Virus kämpft. Dieser schwerkranke Mensch liegt den ganzen Tag im (Krankenhaus-)Bett und "ruht" körperlich, damit er alle Energie auf den Abwehrkampf verwenden kann.
Ein Depressiver kämpft ebenfalls rund um die Uhr einen Abwehrkampf gegen einen nicht greifbaren inneren Feind. Jeder der rund um die Uhr kämpft, wäre ständig erschöpft und müde und bräuchte viel mehr Ruhe und Zeit, die in der Regel im Bett verbracht wird. Das ist der Grund warum Depressive am liebsten im Bett liegen und "nichts tun". Denn ihr Inneres tut dagegen extrem viel. Es kämpft. Und dieser innere Kampf führt zu starker geistiger Erschöpfung, weshalb ein Depressiver ein viel stärkeres Bedürfnis hat "sich auszuruhen" als ein Nicht-Depressiver. Jedoch ist das Bedürfnis vergleichbar mit einem körperlich Erkrankten, der auch keine Kraft hat groß etwas zu unternehmen und daher überwiegend im Bett bleibt.
Außenstehende, denen die Depression auf diese Weise beschrieben wird, reagieren instinktiv richtig. Sie erkennen den Erschöpfungszustand und seine Folgen an, weil sie ihn nunmehr eher nachvollziehen können. Sie zeigen viel eher Verständnis für die Situation eines Depressiven. Ja sie zeigen evtl. sogar Respekt und Achtung vor dem Verhalten von Depressiven, die trotz ihres auslaugenden inneren Kampfes, versuchen darüber hinaus ihren Alltag, Ihren Job oder sonst welche Aktivitäten aufrechtzuerhalten, obwohl sie dies ein x-faches an Kraft kostet, im Vergleich zu Gesunden. Und genau das vorgenannte ist auch der Grund, warum Depressive meistens keine/wenig Motivation haben für eben jene Aktivitäten. Sie haben schlicht "keine Kraft mehr", um neben ihrem inneren Kampf noch Energie für Derartiges aufzubringen.
Da man als Außenstehender sehr wenig tun kann, um Depressiven zu helfen, ist es um so wichtiger Depressiven zu zeigen, dass man ihre innere Erschöpfung versteht und vollstes Verständnis für ihre Gefühle und Verhalten hat und man ihnen beisteht und (metaphorisch oder tatsächlich) ihre Hand hält als Zeichen der Verbundenheit.