Diagnosen und das Problem der Stigmatisierung

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Anne2
Beiträge: 14
Registriert: 24. Okt 2003, 11:17

Diagnosen und das Problem der Stigmatisierung

Beitrag von Anne2 »

Hallo an alle!
Ich möchte gerne ein Diskussionsthema anstoßen, das mich selbst lange beschäftigt hat und meinen Weg aus psychischen Schwierigkeiten heraus nicht unerheblich beeinflußt hat. Das ist das Problem, das psychiatrische Diagnosen stigmatisierend wirken können. Ich habe mich selbst lange mit einer psychiatrischen Diagnose identifiziert. Was ich erlebt habe, will ich hier abgekürzt als "Selbststigmatisierung" bezeichnen. Ich habe mich selbst für psychisch krank eingeschätzt und mich entsprechend verhalten: Es erschien mir notwendig ein Medikament zu nehmen, ich beurteilte alle meine Verhaltensweisen im Licht der Diagnose, ich verurteilte mich selbst als "krank" und begann ganz normale emotionale Reaktionen als "krankhaft" abzuwerten.
Ich erlebt auch Stigmatisierungen von außen. Meine Familie, das war gar nicht böse gemeint von ihnen, sah in mir eine "labile Kranke". Viel schlimmer jedoch war es Bücher zum Thema zu lesen. Dort tauchten immer wieder sehr abwertende Begriffe auf, die in Zusammenhang mit den psychiatrischen Diagnosen gebracht wurden. Auch im Internet ließt sich so manches gesellschaftliche Vorurteil.
Ich merkte, wie durch diesen Prozeß Symptome die Tendenz hatten sich selbst zu erhalten.
Ein weiteres Problem ist, daß in zwischenmenschlichen Konflikten, die "Schuldfrage" ganz anders diskutiert wird: Als "Kranke" war ich oder meine "Krankheit" plötzlich Ursache vieler Konflikte.
Es hat sehr lange gedauert, mich von diesem Denken zu befreien.
Kann das jemand hier nachvollziehn? Habt ihr ähnliches erlebt?
Liebe Grüße, Anne
rea1956
Beiträge: 59
Registriert: 21. Aug 2003, 21:55

Re: Diagnosen und das Problem der Stigmatisierung

Beitrag von rea1956 »

Liebe Anne,
so ganz komme ich nicht mit.Ich komme nur auf die Idee Dich zu fragen,hast Du eine festgestellte psychische Erkrankung?Welche? Oder hast Du Dir die nur eingeredet und glaubst nun selber dran.Gib mir mal dazu eine Info.Vielleicht blicke ich dann besser durch.Entschuldige meine Fragen,aber so ganz fit bin ich leider noch nicht in Psychishen Gebiet.Wenn Du mir Deine Stigmatisierung kurz auch erklären könntest ?
Herliche Grüße Andrea
albert
Beiträge: 1284
Registriert: 13. Feb 2003, 09:52
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Re: Diagnosen und das Problem der Stigmatisierung

Beitrag von albert »

Hallo Anne,
also Selbststigmatisierung?
Auch für mich war es lange sehr drückend, einen Zusammenbruch erlebt zu haben. Ich bin geflohen, habe mich zurückgezogen für mehr als einmal, den Kontakt verweigert und anderes mehr.
Aber ich habe dann wieder angefangen zu arbeiten, auch wenn die Umstände sehr widrig waren und heute noch sind, das war freiberuflich mit Impovisorien und in berufsfremden Branchen. Ich habe mich hineingekniet und habe sogar Freude darin gefunden. Vor allem der freiberufliche Bereich hat mir eigene Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und ich habe das ausgenutzt.
Auch habe ich nicht Halt gemacht mich selber zu fragen, woher, wohin und was, wer bin ich selbst?
Ich habe nach Modellen gesucht, was auf mich zutreffen kann, könnte oder möglich ist. Das war ein Teil der Identitätssuche, ein Teil der Selbstfindung auf dem Weg zu einer Rolle in der Gesellschaft.
Heute tut es mir weh, zu sehen, dass ich immer wieder in die gleiche Situation gerate, nur weil ich meiner Berufung nachgehe und doch weiß ich, dass es keinen anderen Weg für mich gibt.
Insofern finde ich, muss Selbststimatisierung nicht sein.
Ich habe hier im Forum keinen Hehl daraus gemacht und bin dafür auch schon gelöscht worden - bin halt unbequem. Das ist der Preis der Selbstfindung.
Aber was wäre, wenn ich den offiziell gewünschten Weg gegangen wäre?
Dann wäre ich heute ein verklemmter Hochschuldozent, eifersüchtig darauf achtend, dass niemand mir auf die Füße tritt, und ängstlich mich hütend, dass ich anderen auf die Füße treten könnte. Ich würde mich strikt an die Vorgaben der Zunft halten, eine reine Wissenschaft zweckfrei als Biologe zu bearbeiten oder im angewandten Bereich nach den Wünschen der geldbeschaffenden Behörden arbeiten.
Nein, so nicht.
Ich bin den Konflikten nicht ausgewichen und bin zwischen den Gegnern zerrieben worden. Das ist meine Identität: Opfer zu sein, Opfer gewesen zu sein und doch wieder aus dem Abgrund hochgekrabbelt und ein neues Leben angefangen.
Folglich halte ich wenig von Diagnosen, die ein Arzt mir überreicht. Ich habe mich selbst kundig gemacht über meine Schwierigkeiten, warum das so und gerade so schlimm ist mit psychischen Lähmungen, Panikattacken und psychotischen Episoden.
Zu meinem Glück gibt es nur eine adhoc-Diagnose, hat mir keiner verraten, ich habe auch nicht danach gefragt. Die Familie hatte mich aufgefangen, nicht lange gefragt. Wenn mir heute ein Etikett verabreicht würde, müsste ich mich dagegen wehren: anfangen, das Positive sehen, nicht die schlimme Diagnose.
Z. B. dass ich manisch-depressiv bin, bedeutet, dass ich zur Hälfte meiner Zeit imstande bin, mit doppelter Kraft zu arbeiten, dass ich mich sehr intensiv mit einem Thema beschäftigen kann und daraus qualitativ hochstehende Ergebnisse herausbringe. Natürlich brauche ich als Ausgleich dafür eine Erholungszeit, das ist die folgende Zeitspanne, in der ich für depressive Episoden anfällig bin.
Natürlich gibt es negative Aspekte und ich verwende einen großen Teil meiner Zeit, um depressive Schübe rechtzeitig zu erkennen, sowie den Antrieb nicht in unerwünschte Bereiche abgleiten zu lassen.
So sehe ich positive Aspekte in meiner psychischen Erkrankung und ich werde die Gelegenheiten nutzen, um entsprechende Hinweise anzubringen.
Z. B. der Vorwurf, dass ich wissenschaftlich gesinnt bin, "scientific minded".
Meinem Vorgesetzten, der mir das sagte, habe ich vorhalten, dass er nicht lange vorher ein Papier aus meiner Hand erhielt, in dem ich ein Sammelsurium von Fakten zusammengetragen hatte und zwischen den Fakten Bezüge hergestellt habe. Schweigen. Es wird noch der Tag kommen, dass ich ihm erzähle, wie wichtig es für mich ist, in die Praxis geworfen zu sein, um dort mit den Problemen hautnah konfrontiert zu sein. Nur über die intensive Arbeit am Problem kann ich zu Problemlösungen kommen. Den praxiserprobten Ingenieuren und Verwaltungsleuten wird das nicht gefallen, denn dann müssen sie einiges an ihrem Verhalten ändern. Aber ich kann mich in meiner Arbeit nicht nach solchen Leuten richten. Ich habe meinen Brotverdienst, tue was mir gesagt wird, und abends und am Wochenende tue ich meine eigene Arbeit. Sonst schweige ich erstmal. Es werden noch andere Tage kommen, nicht von allein und vom Himmel gefallen, ich bin dabei, das aktiv zu suchen und hart dafür zu arbeiten, dass ich bessere Arbeitsgelegenheiten finde.
Das Forum finde ich ganz gut, weil es Gelegenheit ist, mich an solchen Fragen wie von dir gestellt, mich zu reiben, ein paar Worte zu schreiben und in meiner eigenen Haltung wird mir einiges klarer als vorher.
Das ist auch ein Teil der Maßnahmen, um nicht trotz der widrigen Umstände aufs Neue wieder in eine Depression zu rutschen.
Entschuldigung, liebe Admin, aber so ist das mit der Vorbeugung gegen neue Schübe.
Dir Anne, einen herzlichen Gruß
Albert

PS:
der Begriff "psychische Erkrankung" ist auch so eine Stigmatisierung.
Da gebrauche ich besser das Wort Lebenskrise.
Entschuldigung, ich könnte meine "psychischen Störungen" auch betrachten als ausgelöst durch gewisse Zustände in der Gesellschaft. Ich denke, das ist ein unlösbares Problem. Und ich trage so starke Gegensätze in mir selber, da wundere ich mich, dass ich inzwischen meinen inneren Frieden gefunden habe.
Nix für ungut dafür.
sewi
Beiträge: 1606
Registriert: 15. Feb 2013, 23:02

Re: Diagnosen und das Problem der Stigmatisierung

Beitrag von sewi »

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