Boah, meine Grenze ist erreicht

julcas
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Mosaic,

Ja, es gibt einen Therapievertrag, den ich aber nicht gelesen habe. Ich sprach meinen Freund vor einiger Zeit darauf an, weil ich hier im Forum las das es üblich ist bei unentschuldigt versäumten Terminen eine Rechnung zu bekommen. Er wusste es auch nicht, wollte aber mit der Psychologin darüber reden. Ob er dies getan hat weiß ich nicht.

Nein, ich denke du bist keine Haarspalterin. Ich habe schon einen hohen Anspruch an mich selbst, ein Kontrollbedürfnis - ich weiß nicht recht. Ja wenn ich darüber nachdenke, liegst du wahrscheinlich damit auch nicht falsch. Wobei mir nichts daran liegt meinen Freund zu kontrollieren. Mein eigenes Leben kontrolliere ich gern selbst.

>Wenn dein Freund traurig ist und du mitfühlst, bist du auch traurig. Wenn er wieder was nicht geregelt hat, was aber wichtig gewesen wäre, bist du wütend. Wenn es ihm etwas besser geht, freust du dich.>

Das unterschreibe ich voll und ganz.

> Mein Eindruck ist, dass du dich vielleicht nicht traust, die Gefühle zuzulassen, weil sie sich so schnell abwechseln - so lese ich es aus deinen Beiträgen - und das schwer aushaltbar ist. Es sind ja auch keine einfachen Gefühle... oft treten gegensätzliche Gefühle gleichzeitig auf:>

Ich bin nicht sicher, ob es so einfach ist. Gefühle zulassen ist okay, doch manchmal fühle ich mich wahrlich wie in der Achterbahn mit meinen Gefühlen.
z. Bsp. hat er mir am vergangenen Freitag erzählt, das er diese Woche in seine Wohnung möchte, weil er ja einige Dinge zu erledigen hat. Okay, mir tut der Freiraum in der Woche ganz gut. Das sagte ich ihm schon oft. Nun ist es so, das er nicht einen Tag in seiner Wohnung war. Jeden Abend erzählt er mir, morgen früh fahre ich und wenn ich am Nachmittag meine Hunde nach Hause bringe ist er völlig fertig (vom schlechten Gewissen zerfressen) noch da.
Auch heute war es so. Ich habe vorhin das Gespräch gesucht und habe versucht in der Ich Form mit ihm zu reden, um ihm klar zu machen wie ich mich fühle. -übergangen, nicht ernst genommen, ausgetrickst -
Er wird es ändern. Das war alles was er sagte.
Wie fühle ich mich dabei? Das ist für mich eine Aussage wie: morgen früh fahre ich in meine Wohnung. Weisst du was ich meine ? Er sagt nicht, ich werde versuchen es zu ändern, sondern er legt sich fest. Wir haben vorhin darüber geredet, das er sich nicht festlegen muss, wenn er sich nicht sicher ist, ob er dieses oder jenes auch tut.

Ich habe manchmal den Eindruck, er sagt was ich seiner Meinung nach hören will, und hat dann seine Ruhe.
Dieses Gefühl macht mich nicht glücklich.

Ja, ich liebe mich selbst. Ich versuche in meiner Freizeit Dinge zu tun, die mir gut tun. Mit meiner Freundin unternehme ich recht viel. Von Kino, über Theater, Konzerte, Ausstellungen, Partys, im Sommer auch einfach mal draussen sitzen. Ich liebe es mit meinen Hunden zu laufen und zu kuscheln. Ich lese gern ein gutes Buch.

Ich habe mich darauf eingestellt, das mit meinem Freund (seit mindestens 1 Jahr) nichts geht. Wir haben ewig nichts zusammen unternommen. Ich frage ihn immer, ob er mitkommen möchte, doch er lehnt ab. Okay, ich weiß ja er ist krank und hätte keinen Spass. Er sagt, das wäre für ihn wie Spießrutenlaufen. Natürlich vermisse ich ihn bei den Unternehmungen. Doch ich achte auf mich und wenn er nicht mit will, gehe ich auch allein.

Ohje, das ist ja ein Roman geworden. Danke fürs lesen.

lg julcas
bigappel
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von bigappel »

Liebe Julcas,

ich vermute mal, dass ich nachvollziehen kann, was Du spürst, weil es mir auch schon oft so gegangen ist.

Das hat meines Erachtens gar nichts mit unserem im Jetzt sein zu tun. Für mich wenigstens nicht.

Wenn ich es richtig verstanden habe, so fehlt es Dir bei Deinem Freund daran, dass er authentisch ist, dass er eine Richtung hat, eine Meinung, einen Weg, den er einhält.

Jedenfalls kenne ich das von meinem Lebensgefährten und auch mich, verwirrt dies, weil ich nichts greifen kann, woran ich mich halten, wonach ich mich richten kann.

Ich versuche es mal mit einem Beispiel:

er nimmt von sich aus zu etwas Stellung, einem für mich sehr wichtigen Thema.
Ich nehme ihn ernst, glaube ihm und denke zu wissen, woran ich bei ihm bin.

Dabei gehe ich davon aus, dass zwei erwachsene Menschen, die mit über 40 Jahren in der Lage sind, durchaus auch die Konsequenzen von Entscheidungen oder Meinungen vorab bedacht zu haben oder wenigstens grob überlegt zu haben.

Oft, entpuppt sich dies aber als nicht wahr und ich bekomme zu hören bei ganz massiv wichtigen Dingen: och, da hab ich mir gar keine Gedanken drüber gemacht, das das Konsequenzen hat.

Oder er ändert seine Meinung.

Ich habe sogar erlebt, dass er während der Tagesklinik Charakterzüge, die er mir immer als ablehnend dargestellt hat, plötzlich gut und amüsant fand.

Ich empfinde dies als verwirrend; selten zu wissen, ob gerade momentan das, was er sagt auch wirklich seine Meinung ist.

Natürlich kann man Dinge überdenken, Meinungen ändern, aber nicht andauernd und man sollte doch wohl Lebenswerte und Ziele in seinem Leben haben und diese benennen können. Oder für was lebt man sonst.

Liebe Julcas, ich empfinde Dich als sehr nette, liebenswerte Frau, die sehr wohl ihren Wert kennt und schätzt. Aber es ist nicht einfach mit einem Menschen zu leben, bei dem man oft nicht weiss, ob er authentisch ist.

Du kommst mir sehr authentisch vor und Deine direkte, liebevolle Art mag ich sehr.

Ich bin momentan zeitlich sehr eingespannt und werde daher mal ein Forumspäuschen einlegen, wollte Dir aber nochmal von Herzen alles, alles Liebe wünschen, liebe Julcas.

Bis demnächst;
von Herzen

Pia
Ein Tier zu retten, verändert nicht die Welt, aber die ganze Welt ändert sich für dieses Tier.
julcas
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Blümli,

du mischst dich doch nicht ein, im Gegenteil, ich freue mich über deine Sicht der Dinge.

> Und dadurch gerate ich, so wie Du es glaub ich auch von Dir beschreibst, in ein totales Gefühlschaos und ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich wirklich will, welches Gefühl im Moment wirklich da ist, oder was ich mir "nur einrede", oder besser gesagt, in dem ich vielleicht hängengeblieben bin.>

Das ist ein sehr interessanter Gedanke, mit dem ich mich ganz bestimmt beschäftigen werde.

>Ich lande nach langen " Irrgängen" wieder mal bei ein und der selben Wichtigkeit... das JETZT zu spüren und zu (er)-leben.>

Liebe Blümli, das ist wohl der Schlüssel um das Gefühlschaos zu entwirren.. Das Jetzt spüren und (er)-leben.

Manchmal gelingt mir das ganz gut, doch gerade merke ich, das ich im Moment nicht dazu in der Lage bin. In meinem Kopf geht vieles durcheinander. Das Gefühlschaos ist da, ich weiß nicht was ich wirklich will, welches Gefühl wirklich da ist, oder in welchem Gefühl ich hängengeblieben bin. Irgendwie passt mein Thread Titel wohl noch immer.

Ich will das nicht. Ich will kein Gefühlschaos in meinem Kopf und doch ist es da. Wie hast du dein Gefühlschaos in den Griff bekommen?

lg julcas
julcas
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Liebe Pia,

du triffst den Nagel auf den Kopf. Ich hätte es nicht besser formulieren können, oder besser gesagt, du hast es für mich treffend formuliert.

Ich lese immer sehr, sehr gern von dir, weil ich glaube, das es die ein oder andere Parallele gibt.

Ich habe vorhin gedacht, diese Krankheit und unsere Situation fordert soviel Flexibilität von mir, die kann ich gar nicht leisten.
Dieses nicht wissen was ist nachher, was ist morgen.

Als ich heute abend nach Hause kam, empfing mich mein Freund mit den Worten: Schatz ich habe uns etwas zu Essen gekocht. Schön, darüber freue ich mich wirklich sehr, doch der Rest der Woche? Absprachen, sich um seine Dinge kümmern? Ich kann so schnell nicht umschalten - Gefühlschaos.

Liebe Pia, ich wünsche dir und deinem LG Alles Liebe und das du bald wieder etwas mehr Zeit und Ruhe hast. Dann freue ich mich sehr wieder von dir zu lesen. Bis dahin werde ich immer mal wieder an dich denken.

lg julcas
rosecottage
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von rosecottage »

Hallo julcas,

Du schreibst:
"Das ist für mich eine Aussage wie: morgen früh fahre ich in meine Wohnung. Weisst du was ich meine ? Er sagt nicht, ich werde versuchen es zu ändern, sondern er legt sich fest."

Ja, ich denke, ich weiß was du meinst. Wahrscheinlich sagte er wirklich etwas, von dem er meint, du würdest es hören wollen, um dann seine Ruhe zu haben. Vielleicht glaubt er in diesem Moment aber auch daran, dass er es schafft.
Das ist alles völlig unbefriedigend für dich.

Mir persönlich würde da nur helfen, für mich selbst zu klären, was ich aushalten kann und was nicht. Im Threadtitel schreibst du, dass deine Grenze erreicht ist. Ich weiß, damit war eine andere Situation gemeint, aber du kannst dir ja für jede Situation eine Grenze stecken.

Also z.B., wie oft in der Woche kannst du es aushalten, dass er sagt er geht in seine Wohnung und bleibt dann aber?
Und wie reagierst du, wenn deine Grenze erreicht ist? Bist du wütend, lässt ihn aber bleiben oder verlangst du, dass er dann geht?

Ich weiß nur, wie ich reagieren würde - aber meine Grenzen sind viel schneller erreicht als deine, deshalb nützt es dir nichts, wenn ich dir schreibe, wie ich reagieren würde.

Ihr habt darüber gesprochen, dass er sich nicht festlegen muss - ich weiß nicht wie dieses Gespräch ausgegangen ist, aber ich fände es wichtig, dass er lernt sich festzulegen und es in die Tat umzusetzen - zumindest, um deine Grenzen nicht zu überschreiten.

Das klingt sehr traurig, dass ihr so lange nichts gemeinsam unternommen habt. Es ist natürlich schön und wichtig für dich, mit deiner Freundin etwas zu unternehmen und deine Hunde zu haben usw. - dennoch kommt bei mir die Frage auf, woher du die Energie für diese Beziehung nimmst - traue mich kaum zu fragen und du musst natürlich nicht antworten...

Liebe Grüße
mosaic
julcas
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Liebe Mosaic,

>Also z.B., wie oft in der Woche kannst du es aushalten, dass er sagt er geht in seine Wohnung und bleibt dann aber? Und wie reagierst du, wenn deine Grenze erreicht ist? Bist du wütend, lässt ihn aber bleiben oder verlangst du, dass er dann geht?>

Ich bin enttäuscht, wenn er nicht tut was er sagt. Ich bin traurig, das er meine Grenze ignoriert.
Bisher habe ich ihn bleiben lassen, doch das werde ich ändern.
Was meinst du, ich würde mich am WE mit ihm hinsetzen und ein paar Regeln ausarbeiten, ist das wohl hilfreich? Wenn notwendig würde ich diese Regeln auch aufschreiben und groß in die Küche hängen.

> aber ich fände es wichtig, dass er lernt sich festzulegen und es in die Tat umzusetzen - zumindest, um deine Grenzen nicht zu überschreiten.>

Damit hast du so recht. Ich finde es auch wichtig, dass er lernt sich festzulegen und es in die Tat umzusetzen.
Doch ich erwarte keine Wunder. Dieses sich nicht festlegen müssen, soll zum einen verhindern, das er nur sagt was ich seiner Meinung nach hören will, zum Anderen soll es ihn ermutigen, in sich hinein zu hören, um für sich zu entscheiden was er wirklich will. Ich hoffe das es ihm dann besser gelingt, das Gesagte auch zu tun.

>dennoch kommt bei mir die Frage auf, woher du die Energie für diese Beziehung nimmst - traue mich kaum zu fragen und du musst natürlich nicht antworten...>

Traurig aber wahr, ich muss darüber nachdenken, woher ich die Energie nehme.
Ich bin ein Mensch, der glaubt das jeder Mensch eine Chance verdient hat. Ich liebe diesen Mann. Ich nehme Energie aus der Gewissheit, das Depression behandelbar ist und mein Freund lernen kann, mit seiner Krankheit zu leben. Ich nehme Energie aus der Erinnerung an die schöne Zeit und aus der Hoffnung für die Zukunft. Ich nehme Energie aus der Liebe meines Freundes. Ich nehme Energie aus der Gewissheit, das ich immer eine Entscheidung treffen kann, bezüglich dieser Beziehung.

Und manchmal ist mein Akku leer, nix, null Energie da, gepaart mit Gefühlschaos. Dann wird es schwierig.

lg julcas
rosecottage
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von rosecottage »

Hallo julcas,

Ich hätte gerne mehr von deinem Optimismus und der Fähigkeit die Schwächen deines Partners mitzutragen... das Lesen bei den Angehörigen bringt mich immer wieder zu der Frage, ob ich das auch für meinen Partner tun würde.

Du schreibst:
"Was meinst du, ich würde mich am WE mit ihm hinsetzen und ein paar Regeln ausarbeiten, ist das wohl hilfreich? Wenn notwendig würde ich diese Regeln auch aufschreiben und groß in die Küche hängen."

Normalerweise würde ich sagen "Ja, macht das zusammen!", aber in eurem Fall würde ich eher davon abraten. Aus diesen Gründen:
Sowas kann man selbst in der Beziehung machen, wenn es um den Abwasch geht und darum die Zahnpastatube nach Gebrauch wieder zuzuschrauben. Sowas kann man theoretisch auch für schwierigere Themen machen... aber ihr seid in eurem rationalen Denken zur Zeit definitiv nicht gleichgestellt, was dazu führt, dass du so eine Art Erzieherrolle übernehmen würdest.

Dein Freund weiß nichteinmal wie es ihm in einer Stunde geht - er kann nicht für die nächsten 2 Monate planen und eine Art Garantie abgeben, dass er die Vereinbarungen einhält. Hinzukommt, dass in der tiefen Depression die Handlungsfähigkeit so eingeschränkt sein kann, dass solche Schriftlichen Abmachungen nichts oder Druck bewirken.

Ich habe in meinem vorige Beitrag gezielt nach deinen Grenzen gefragt. Nur du weißt wo die liegen. Ich würde empfehlen in der Situation klar auszusprechen, dass deine Grenze erreicht ist und ihm sagen: "ich möchte, dass du jetzt in deine Wohnung fährst."

Alles was Richtung Handlungsfähigkeit in der Zukunft geht, muss die Therapie leisten. Du bist nicht seine Therapeutin - du kannst und solltest das nicht leisten.
Du kannst nur für die Einhaltung deiner eigenen Grenzen sorgen.

Du schreibst:
"Ich finde es auch wichtig, dass er lernt sich festzulegen und es in die Tat umzusetzen.
Doch ich erwarte keine Wunder. Dieses sich nicht festlegen müssen, soll zum einen verhindern, das er nur sagt was ich seiner Meinung nach hören will, zum Anderen soll es ihn ermutigen, in sich hinein zu hören, um für sich zu entscheiden was er wirklich will. Ich hoffe das es ihm dann besser gelingt, das Gesagte auch zu tun."

Ich denke, in seinem jetzigen Zusstand ist dein Freund nicht in der Lage in sich zu hören und sich zu entscheiden - wir sprechen hier von jemandem, der in einem Tief steckt ( = Denk- und Gefühlschaos pur) und bei dem eine andere Persönlichkeitsstörung festgestellt wurde (das macht es nicht leichter...).

Du willst, dass er sich festlegt, aber du erwartest keine Wunder und du hoffst, das es ihm gelingt......
Das sind keine KLAREN Grenzen - das ist "wasch mich, aber mach mich nicht nass."
Sorry, ich klinge hart, aber die Grenze, die du ihm zeigst muss auf ihn wirken wir ein in alle Richtungen dehnbares Gummiband.

Du kannst die Probleme nicht für ihn und nicht mit ihm lösen - dazu macht er eine Therapie. Was du tun kannst ist für deine Grenzen zu sorgen - und wenn das einen positiven Effekt auf ihn hat, weil er merkt, dass er doch in seine Wohnung gehen kann, wenn er muss, ist es ein positiver Nebeneffekt.
Wenn du das Bedürfnis hast, mit ihm ein Plakat mit vereinbarungen zu schreiben - würde ich ein kleines Plakat wählen und nur eine Vereinbarung für den nächsten Tag drauf schreiben, damit der Druck nicht so groß wird - ansonsten würde ich aus der aktuellen Situation heraus handeln.

Das alles ist so ein Kraftakt... ich hoffe, du sorgst gut für dich.

Liebe Grüße
mosaic
julcas
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Mosaic,


> aber ihr seid in eurem rationalen Denken zur Zeit definitiv nicht gleichgestellt, was dazu führt, dass du so eine Art Erzieherrolle übernehmen würdest.>

okay, das liegt mir völlig fern. Ich dachte, das würde ihn vielleicht unterstützen. Doch du hast völlig recht. Ich habe es so nicht gesehen, danke für das Augenöffnen.

>Dein Freund weiß nichteinmal wie es ihm in einer Stunde geht>

Das ist ein Grund dafür, warum ich ihn bleiben lasse, auch wenn er gesagt hat das er geht.

> Ich würde empfehlen in der Situation klar auszusprechen, dass deine Grenze erreicht ist und ihm sagen: "ich möchte, dass du jetzt in deine Wohnung fährst.">

Das habe ich in der Vergangenheit erst einmal gemacht. Wir hatten das so besprochen ca. 2 Wochen lang. Am Tag X gehst du in deine Wohnung. Ich habe ihn am Tag X zu seiner Wohnung gefahren. Dem ging ein "Kampf" von mindestens 3 Stunden voraus. Er war völlig fertig und hat geweint wie ein Kind. Das war auch für mich emotionale Schwerstarbeit. Ich habe zwar auf die eine Grenze geachtet und sie eingehalten (er musste sie auch einhalten), doch ich habe damit eine andere persönliche Grenze überschritten. Das will ich nicht öfter wiederholen. Doch du hast recht, für mein Wohlbefinden ist das wichtig und es gibt sicher einen Weg, den muß und werde ich finden.

>Alles was Richtung Handlungsfähigkeit in der Zukunft geht, muss die Therapie leisten. Du bist nicht seine Therapeutin - du kannst und solltest das nicht leisten. Du kannst nur für die Einhaltung deiner eigenen Grenzen sorgen.>

Vielen Dank für die Erinnerung. Meine Grenzen werden mein aktuelles Thema.

>Du willst, dass er sich festlegt, aber du erwartest keine Wunder und du hoffst, das es ihm gelingt......>

Mit dem Hintergrundwissen der Depression, erwarte ich keine Wunder. Ich hoffe jedoch, das es ihm an besseren Tagen gelingt sich festzulegen und mit jedem kleinen Erfolg ein neuer Erfolg sich einstellt. Das ist wohl wieder Therapeutensache, oder? Ohje, ich werde es doch lernen.

> Was du tun kannst ist für deine Grenzen zu sorgen >

Ich wiederhole mich, das wird mein Thema.

In der letzten Zeit war das so, wenn er wieder nicht getan hat, was er gesagt hat, fand ich abends nur ein Häufchen Elend und Unglück vor. Zerfressen vom schlechten Gewissen, von Selbstzweifeln, Selbstvorwürfen. Selbst wenn ich damit eine meiner Grenze überschreite, ist es mir nicht möglich ihn in diesem Zustand in seine Wohnung zu schicken. Doch - für die Zukunft werde ich ihm sagen, für heute okay, aber morgen wirst du.... So, oder so ähnlich könnte es aussehen.

>ich hoffe, du sorgst gut für dich.>

So gut ich kann.

Liebe Mosaic, deine Antworten sind für mich so enorm wichtig. Sie helfen mir, auf mich zu achten und sie helfen mir, mich mit mir selbst auseinander zu setzen. Vielen Dank, dafür.

Liebe Grüße julcas
rosecottage
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von rosecottage »

Hallo julcas,

Du schreibst:
"In der letzten Zeit war das so, wenn er wieder nicht getan hat, was er gesagt hat, fand ich abends nur ein Häufchen Elend und Unglück vor. Zerfressen vom schlechten Gewissen, von Selbstzweifeln, Selbstvorwürfen. Selbst wenn ich damit eine meiner Grenze überschreite, ist es mir nicht möglich ihn in diesem Zustand in seine Wohnung zu schicken."

Ich will dir noch etwas aus meiner Betroffenensicht schreiben, weil ich als junger Mensch mit meinem Alltag - und mit dem "unbekannten Wesen Depression", das mir in vielen Bereichen meine Handlungsfähigkeit raubte - völlig überfordert war.

Damals war ich Anfang 20 und habe in meiner akuten Phase außer meinem Job nichts mehr auf die Reihe gekriegt. Ich habe keine Rechnungen bezahlt - bis die dritte Manhnung kam oder Telefon / Strom abgeschaltet wurden. Meine Wohnung habe ich vernachlässigt (vielleicht nicht ganz so wie dein Freund... aber das Geschirr türmte sich und die Wäsche machte ich nur, wenn ich nichts mehr zum Anziehen hatte...). Das Einkaufen erledigte mein Bruder - zu dem hatte ich zwar kaum Kontakt, aber er war chronisch pleite und ich habe ihm für den einen oder anderen Gefallen einfach Geld gegeben und mein Bruder tut für Geld so einiges... ich war Weltmeisterin im "Ausreden" erfinden, warum ich gerade irgendwas nicht kann und so wurde ich von meinem Umfeld immer mehr verschont. Natürlich redete ich mich nicht heraus, weil ich keine Lust hatte, sondern, weil die Depression die Kraft nahm all das zu erledigen, was das Leben in seiner breiten Farbpalette einem täglich abfordert - vom Müll raustragen bis zum Studium abschließen.

In dieser Zeit trat mein Freund in mein Leben und er ist - obwohl kein bißchen fürsorglich - ein sehr gutmütiger Mensch.
Wir hatten das gleiche Problem mit den getrennten Wohnungen. Ich wohnte damals nicht weit weg in einem anderen Stadtteil, aber nach einem Treffen und einer Übernachtung bei ihm, kam mir der Heinweg vor, als müsste ich einen Ozean überqueren.
Die 5 Minuten U-Bahnfahrt mit 1x Umsteigen und nochmal 10 Minuten Fahrt erschien mit wie der berühmte unüberwindbare Berg.

Als er abends von der Arbeit kam, fühlte ich mich wie der größte Versager des Universums. Er machte mir keine Vorwürfe, aber ich wusste, er wäre lieber allein gewesen, weil das unser Beziehungskonzept ist - jeder hat seinen Haushalt und wir sehen uns 1x unter der Woche und am Wochenende. Mir ging es auch gar nicht darum, dass ich nicht allein sein wollte - nein, ich wollte nach Hause, aber da saß ich - hatte es nicht geschafft...

Das wiederholte sich die nächsten 2 Jahre immer wieder. Mal schaffte ich es, mal nicht... immer wieder Gefühle des Versagens und die unausgesprochene Hilflosigkeit meinses Freundes, der mich nicht drängen wollte, der aber allein sein wollte, der mich liebte, aber mich in diesen Momenten auf den Mond wünschte, der mir kein schlechtes gewissen machen wollte und mir nie ein Ultimatum stellte.

Es wurde irgendwann besser, aber es brauchte Zeit - und viel Therapie

Ich lernte erst durch die Therapie, dass ich als Kind nie eine Struktur in meinem Leben hatte - alles war erlaubt, weil alles egal war. Keiner kümmerte sich um mich, weil ich irgendwie funktionierte... aber als erwachsener Mensch fehlt ohne erlernte Struktur die Fähigkeit, sein Leben zu gestalten.

Meine Therapie war genau an diesem Punkt zu ende und ich musste mit meinem Wissen allein weiter machen.
Also habe ich eine Art Struktur-Trainingsplan aufgestellt, einige Beispiele dafür waren:

*alles, was ich benutze wird danach sofort wieder aufgeräumt

*morgens wird das Bett gemacht und es ist den ganzen Tag tabu mich dorthin zu flüchten - außer bei akuter Migräne

*alle Rechnungen werden sofort bezahlt

*Wenn ich bei meinem Freund bin, gehe ich nach dem Aufstehen duschen und verlasse anschließend sofort das Haus

Nach weiteren 2-3 Jahren hatte ich einen Großteil meiner Handlungsfähigkeit zurück erobert. Nach einigen weiteren Jahren der Übung bin ich heute ein sehr strukturierter Mensch (ohne zwanghaft zu sein ) und denke rückblickend manchmal, für mich wäre es gut gewesen, mein Freund hätte mir klar gesagt, ich solle gehen. Denn jedesmal, wenn ich gegangen bin, wenn ich eine Rechnung sofort bezahlt hatte, wenn ich mein Geschirr direkt nach dem Essen gespült hatte usw. habe ich diese Erleichterung gespürt - aber die konnte ich nur durch die Umsetzung spüren. Im späteren Verlauf - und das ist eigentlich noch wichtiger - habe ich gelernt voraus zu denken, also: ich wusste vorher, dass es mir besser gehen würde, wenn ich eine Handlung vollziehe. Dadurch ging es in dem Moment mir noch nicht besser, aber ich hatte eine Aussicht darauf und ich bin dann tasächlich den Weg des "sich selbst Zwingens" gegangen.

Noch heute nimmte mein Freund mir Dinge ab, weil er merkt wie schwer mir manches Fällt - heute bin ich diejenige, die ihm sagt: es ist lieb gemeint, aber du tust mir keinen Gefallen damit.

Am Montag muss ich beim ADAC-Übungsplatz anrufen, weil meine Freundin mit mir fahren üben will... ich mach' mir in die Hose wegen dieses Anrufs und ich weiß nicht warum - ich habe Angst davor. Aber da muss ich durch - und danach werde ich sagen: die waren ganz nett, wozu hab' ich eigentlich wieder so 'ne Panik geschoben?

Hm, was will ich mit all dem sagen? Ich glaube ich möchte dir sagen, dass ich sowohl deine Lage verstehe, denn es ist hart seinen Partner so verzweifelt zu sehen, als auch die deines Freundes. Ich möchte versuchen damit ein kleines Stückchen Hoffnung zu vermitteln, dass - wie du ja im vorletzten Beitrag auch geschrieben hast - die Depression behandelbar ist. Und ich möchte dazu anregen zu sehen, dass zu viel Schonung für den Betroffene manchmal seinen Prozess verlangsamen oder stoppen kann. Natürlich sollst du ihn zu nichts zwingen, aber er wird keine Notwendigkeit sehen, sich selbst zu zwingen, wenn die Rahmenbedingungen so milde sind.

Auf den sich steigernden Antrieb zu "warten" reicht leider meist nicht - er muss schon handeln.

Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich in so einem Text aufschreibe, wie ich damals vorgegangen bin. Es hört sich - verpackt in ein paar zeilen - alles so harmlos und einfach an, aber das war es nicht und ich will nicht, dass das so rüberkommt und du dich verschaukelt fühlst... ich weiß schon, dass das alles ein sehr zäher Prozess und steiniger Weg ist.

Liebe Grüße
mosaic
julcas
Beiträge: 569
Registriert: 11. Mär 2011, 17:57

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Mosaic,

Danke für deine Offenheit. Was du schreibst, kommt mir sehr bekannt vor. Mein Freund kümmert sich auch erst, wenn die Luft brennt.

Als ich meinen Freund kennen lernte, war er Symptom frei. In dieser Zeit war er fast täglich in seiner Wohnung. Er war wöchentlich vielleicht 3 bis 4 Tage bei mir. Er kümmerte sich um sein Dinge, leistete viele Ratenzahlungen für seine alten Verbindlichkeiten und bemühte sich wirklich redlich alles am Laufen zu halten. Er belebte alte Kontakte zu Freunden, es ging ihm gut. Er sprühte vor Energie und Lebenslust.

>und die unausgesprochene Hilflosigkeit meinses Freundes, der mich nicht drängen wollte, der aber allein sein wollte, der mich liebte, aber mich in diesen Momenten auf den Mond wünschte, der mir kein schlechtes gewissen machen wollte und mir nie ein Ultimatum stellte.>

Oh ich weiß so gut was du meinst.

> und denke rückblickend manchmal, für mich wäre es gut gewesen, mein Freund hätte mir klar gesagt, ich solle gehen. Denn jedesmal, wenn ich gegangen bin, wenn ich eine Rechnung sofort bezahlt hatte, wenn ich mein Geschirr direkt nach dem Essen gespült hatte usw. habe ich diese Erleichterung gespürt - >

Als ich begann diesen Abschnitt deiner Antwort zu lesen, musste ich schmunzeln. Nicht, weil das so witzig ist, sondern weil ich ahnte, was du mir sagen möchtest.
Leider ist mein Freund vom Fühlen dieser Erleichterung noch weit weg. (Therapiearbeit!) Ich verstehe um was es dir geht, was ich begreifen muss. Ich werde für mich schauen, wie ich das Umsetzen kann, ohne emotional an meine Grenze zu kommen. Mir ist ja schon bewußt, das er keinen Grund hat um Irgendetwas zu kämpfen, wenn ich ihm Alles vor den Hintern trage. (überspitzt)

>Noch heute nimmte mein Freund mir Dinge ab,>

Ich bemühe mich sehr, das nicht zu tun. Ich biete auch nicht mehr ständig meine Hilfe an. Klar, wenn er darum bittet, ist das eine andere Geschichte.

>Am Montag muss ich beim ADAC-Übungsplatz anrufen, weil meine Freundin mit mir fahren üben will... ich mach' mir in die Hose wegen dieses Anrufs und ich weiß nicht warum - ich habe Angst davor. Aber da muss ich durch - und danach werde ich sagen: die waren ganz nett, wozu hab' ich eigentlich wieder so 'ne Panik geschoben?>

Solche Situationen kennt doch bestimmt jeder Mensch. Mit geht das z.Bsp. mit dem Zahnarzt so. Wenn ich dann dort war, denke ich auch, wieso hast du dich vorher wieder so fertig gemacht. Es war doch gar nicht schlimm.

>Ich möchte versuchen damit ein kleines Stückchen Hoffnung zu vermitteln, dass - wie du ja im vorletzten Beitrag auch geschrieben hast - die Depression behandelbar ist. Und ich möchte dazu anregen zu sehen, dass zu viel Schonung für den Betroffene manchmal seinen Prozess verlangsamen oder stoppen kann. Natürlich sollst du ihn zu nichts zwingen, aber er wird keine Notwendigkeit sehen, sich selbst zu zwingen, wenn die Rahmenbedingungen so milde sind.>

Da stimme ich voll mit dir überein. Die Schwierigkeit liegt glaube ich im Detail, sprich in seinem momentanen Zustand. An manchen Tagen geht es ihm ja wirklich besser, da wäre das nicht so schwer, ihm klar zu machen, das ich meinen Freiraum brauche.
Vielleicht können wir generell ein paar Tage in der Woche festlegen, an denen er in seiner Wohnung bleibt. So als strukturellen Anfang.?. Das ist dann etwas, was fest steht und muss nicht ständig neu verhandelt werden.

>Auf den sich steigernden Antrieb zu "warten" reicht leider meist nicht - er muss schon handeln.>

Auch da liegst du völlig richtig.

>Es hört sich - verpackt in ein paar zeilen - alles so harmlos und einfach an, aber das war es nicht und ich will nicht, dass das so rüberkommt und du dich verschaukelt fühlst... ich weiß schon, dass das alles ein sehr zäher Prozess und steiniger Weg ist.>

Liebe Mosaic, auf den Gedanken würde ich nie kommen. Ich habe keine Ahnung von Depression, doch Eines ist mir wirklich klar.
Das wird ein langer, steiniger und schwerer Weg. Für mich wird dieser Weg insofern "einfacher" weil ich dieses Forum gefunden habe und meine Sorgen und Ängste teilen kann. Die Sichtweisen von dir und den anderen Forumsteilnehmern, helfen mir wirklich sehr, mich nicht zu verlieren. Auch wenn ich mich wiederhole. Ich bin für diesen Austausch unendlich dankbar.

Liebe Grüße julcas
julcas
Beiträge: 569
Registriert: 11. Mär 2011, 17:57

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Mosaic,

ich wünsche dir viel Spaß und Erfolg beim Fahren.

schönes We.

lg julcas
rosecottage
Beiträge: 378
Registriert: 22. Dez 2011, 18:58

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von rosecottage »

Hallo julcas,

Danke! Jeder sagt, dass mir Autofahren Spass kann, wenn ich es erst kann... allein mir fehlt der Glaube .

Ich habe keine Chance zu entkommen - meine Freundin ist da unerbittlich. Dabei hätte ich so viel schöne und plausible Ausreden... aber auf dem Ohr ist sie taub - und genau das wird mir helfen, die Sache durchzuziehen .

Dir auch ein schönes Wochenende!
mosaic
julcas
Beiträge: 569
Registriert: 11. Mär 2011, 17:57

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Ihr Lieben,

heute ist der 1.Psychiatertermin meines Freundes. Ich hab ihm per sms versichert, das ich in Gedanken bei ihm bin. Ich hoffe er schafft das.

lg julcas
Blümli
Beiträge: 782
Registriert: 18. Jan 2011, 18:41

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von Blümli »

^^ Vielleicht muss man die Liebe gefühlt haben, um die Freundschaft richtig zu erkennen^^ Nicolas Chamfort
julcas
Beiträge: 569
Registriert: 11. Mär 2011, 17:57

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Blümli,

Vielen Dank für die "Geschichte" mit deiner Tochter und deinen Grenzen.
ich kann glaube ich verstehen, was du gefühlt hast, fühlst.
Du hast recht mit dem was du über Grenzen schreibst.
Meine Beziehung zu meinem depressiven Freund ist nicht einen Tag wie den anderen. Manchmal bin ich wirklich, wirklich, wirklich an meiner Grenze. Dann reagiert mein Freund darauf.
Obwohl, ja er reagiert darauf, so wie er auch bei anderen Dingen erst reagiert, wenn "die Luft brennt"

Dieser 1. Psychiatertermin hat nichts mit meiner Grenze zu tun.

Ich wünsche ihm, dass er diesen Termin wahrnehmen kann, damit er für sich einen Schritt weiter kommt.

Natürlich gibt es immer mal wieder eine Situation, wo ich meine, meine Grenze erreicht zu haben. Bei diesem Termin geht es nicht um meine Grenze. Es geht um die Gesundheit und das Leben meines Freundes. Ich wünsche ihm von Herzen, das er sich auf Hilfe einlassen kann, seine Krankheit annehmen kann und lernt mit seiner Krankheit zu leben. Dabei ist dieser Termin nur der 1. Schritt.

Ich weiß aber auch, das ich schon Situationen hatte, wo ich glaubte, es geht nichts mehr. Ich kann es leider nicht so schön formulieren, wie du liebe Blümli, doch ich weiss was du meinst.

lg julcas
rosecottage
Beiträge: 378
Registriert: 22. Dez 2011, 18:58

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von rosecottage »

Hallo Blümli,

Hab' ich's nicht gesagt? Ich werde mich nicht zurückhalten können und mich doch melden... dein Beitrag hat mich gerade irgendwie "angepiekst" - gar nicht mal so persönlich, sondern weil ich so oft Frauen begegnet bin, die Schwierigkeiten hatten mit dem Thema Grenzen aufzeigen.
Ich schreibe das jetzt, wie du, einfach mehr für mich - aber vielleicht kannst du ja etwas damit anfangen .

Ich denke, man kann die Kommunikation und Bedürftigkeit eines Kindes zwischen 1 und 3 Jahren nicht mit der eines erwachsenen Mannes vergleichen - auch wenn er depressiv ist. Das Kind ist abhängig von der Mutter, hat noch nicht die differenzierten Möglichkeiten von verbaler Kommunikation erlernt und greift auf Schreien, weinen und fühlen zurück. Okay, ich lese hier immer wieder über die Schwierigkeiten in der Kommunikation mit dem depressiven Partner - trotzdem würde ich den Vergleich zum Kleinkind nicht ziehen.
Aber das nur nebenbei.

Eigentlich geht es mir um etwas ganz anderes - nämlich um die Frage: wann zeigt man denn eine Grenze auf? Wenn - wie julcas schreibt - "die Luft brennt"? Und was hieße das? Muss man kurz vor einem Zusammenbruch stehen, damit der Partner die Grenze wahrnimmt?

Ist das Signal "wenn es so wie jetzt weitergeht, kann ich bald nicht mehr!" nicht eine klare Grenze im Sinne von "ich muss mich jetzt schützen, weil ich eben nicht erst zusammenbrechen will!" ?
Wann ist eine Grenze eine (wahre) Grenze?
Und wer legt das fest? Der "Genzen-Aufzeiger" oder der "Grenzen-Wahrnehmer"?

Dazu möchte ich ein Beispiel aus meiner Gruppentherapie erzählen.
Nachdem einige Frauen berichtet hatten, dass sie sich schwer abgrenzen können, schlug die Therapeutin eine Übung vor - die ging so:

Im Rollenspiel kam die Therapeutin zu Besuch in die Wohnung einer dieser Frauen.
Die Aufgabe bestand darin, dass die Therapeutin alle Türen, Schränke und Schubladen in der Wohnung öffnet wie es ihr gerade gefällt - sie also richtig grenzüberschreitend agiert - während die Frau aus der Gruppe ihre Grenze einzig mit dem Wort "nein" aufzeigt. Die Therapeutin wollte erst aufhören mit ihrer Grenzüberschreitung, wenn sie das "nein" auch als ernstgemeintes "nein" wahrnehmen konnte.

Beide standen also nun in der imaginären Wohnung. Die Therapeutin schaute sich neugierig um, öffnete die imaginäre Tür zum Kinderzimmer und fing an zu kommentieren: "ach, ist ja nicht gerade aufgeräumt..." , die Klientin sagte zaghaft "nein". Völlig unbeeindruckt ging die Therapeutin weiter vor... öffnete imaginäre Schubladen, Schränke, die Schlafzimmertür und gab ihre spitzen Kommentare ab.
Die Klientin fand die unterschiedlichsten Varianten von "nein" - sie sagte es laut, leise, zog es in die Länge, "lachte es" verzweifelt usw. Zum Schluss war sie den Tränen nah und die Therapeutin brach ab.

Nachdem alle von uns diese Übung durchlaufen hatten, besprachen wir welches "nein" überzeugend gewirkt hatte und warum. Das war eine der interessantesten Übungen, die ich je in einer Therapie gemacht habe. Und sie fiel mir spontan zu deinem Beitrag ein, liebe Blümli.

Ich denke, jeder Mensch hat das Recht VOR der endgültigen Erschöpfung seine Grenze aufzuzeigen. Die Frage ist für mich weniger, wann nimmt mein gegenüber meine Grenze als echt wahr. Viel wichtiger finde ich, wann nehme ich mir das recht meine Grenze deutlich zu machen und wie mache ich meine Grenze zu meiner gegenwärtigen Grenze - also wann nehme ich selbst wahr, dass meine Grenze bald erreicht ist und kann sie so äußern, dass es da keinen Spielraum für eine Mißachtung bzw. eine weitere Überschreitung gibt.

Ich habe vor zwei Jahren mit Menschen gearbeitet, die scheinbar keine Grenzen kannten und teilweise sogar übergriffig wurden. Das war ein gutes Übungsfeld - ich war erstaunt, was man allein durch den Einsatz der Stimme erreichen kann - wenn man SELBST weiß, wie weit man den anderen gehen lassen will - und genau das sehe ich als Voraussetzung für das Verdeutlichen der eigenen Grenzen - und die sollte, meiner Ansicht nach, zum eigenen Schutz weit, weit vor der kompletten Erschöpfung liegen.

Denn wenn erst die Erschöpfung für mich sprechen muss, habe ich selbst schon 10x jemanden über meine Grenze springen lassen...

Du schreibst an julcas:
"Vielleicht kannst Du mit meinem langen Sermon hier etwas anfangen, ansonsten... macht auch nix "

Gilt auch für meine Sermon

Liebe Grüße
mosaic
wiwi
Beiträge: 99
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von wiwi »

ui das ist ein spannendes thema. im grenzen aufzeigen bin ich auch kein meister. allerdings sehe ich es auch so, das man eher vor dem totalen down seine grenzen zeigen sollte.

ich kann es bei den hunden z.b. klarer sehen: wenn ich selber klar bin und mir meiner sache sicher und das auch so rüberbringe (dabei nicht laut werden muss oder ähnliches) können sie es nehmen und reagieren auch auf signale besser. ich sehe da viele paralellen zu uns menschen.
manchmal sind wir so hin und hergerissen und selber noch unsicher. das spürt auch das gegenüber und wir können dann auch grenzen schlecht zeigen.

liebe grüße,
wiwi
Blümli
Beiträge: 782
Registriert: 18. Jan 2011, 18:41

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von Blümli »

^^ Vielleicht muss man die Liebe gefühlt haben, um die Freundschaft richtig zu erkennen^^ Nicolas Chamfort
julcas
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Registriert: 11. Mär 2011, 17:57

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo wiwi,

>ich kann es bei den hunden z.b. klarer sehen: wenn ich selber klar bin und mir meiner sache sicher und das auch so rüberbringe (dabei nicht laut werden muss oder ähnliches) können sie es nehmen und reagieren auch auf signale besser. ich sehe da viele paralellen zu uns menschen.>

Da hast du zu 100% recht. Wobei es bei den Hunden nicht um meine Grenzen geht, sondern um das Zusammen leben. Den Hunden geht es sehr viel besser wenn Mann (Frau) konsequent und klar ist.

lg julcas
julcas
Beiträge: 569
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Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Mosaic,
Hallo Blümli,

das Thema persönliche Grenzen ist wohl noch viel interessanter, als ich dachte.

Ihr beide schreibt das wirklich klasse und habt auch beide recht.

Letztenendes tut es weder mir, noch meinem Freund gut, wenn ich meine Grenzen nicht erkenne, oder sie nicht einhalte, sprich verschiebe.

Es ist auch im Miteinander einfacher, wenn ich weiß woran ich bin, das gilt genauso für meinen Freund. Ich dachte immer, das ich meine Grenzen gut kenne, gut einhalte und sie auch meinem Gegenüber klar machen kann. Bei meinem Freund gelingt mir das, seitdem er krank ist, nicht mehr so gut.

Ich habe es ja schon geschrieben, Es wird mein Thema, denn auch meinem Freund geht es besser, wenn ich klar bin mit meinen Grenzen.

Übrigens, mein Freund war gestern beim Psychiater. Er bekam Citalopram beta und hat in 4 Wochen den nächsten Termin. Ich bin sehr stolz auf ihn, denn kurz vor dem Termin hat er gezaudert. Aber er wahr dort.

lg julcas
julcas
Beiträge: 569
Registriert: 11. Mär 2011, 17:57

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Hallo Ihr Lieben,

mein Freund ist jetzt die 2. Woche in seiner Wohnung und es geht ihm nicht gut. Er nimmt seine Medikamente und wartet darauf das sie wirken. (seine Worte) Gerade versprach er mir am Telefon, heute mittag wenigstens ein paar Minuten raus zu gehen.

Mir geht es heute auch nicht wirklich gut. Gestern abend habe ich "Tsunami" geschaut, seitdem kommen mir immer wieder die Tränen.

Gestern mittag erhielt ich einen Anruf, das mein jüngerer Bruder in Ägypten im Krankenhaus liegt mit Hirnbluten. Er wird von Maschinen am Leben gehalten. Seine Freundin sitzt mit 3 Kindern im Hotel und weiß überhaupt gar nicht was sie tun soll. Ich fühl mich grad so hilflos und stelle mir ernsthaft die Frage was ICH tun kann. Die Antwort lautet NICHTS.

Und wir machen uns das Leben schwer, hecheln täglich der Kohle hinterher, haben Existenzangst, regen uns übers Wetter auf u.s.w.

lg julcas
rosecottage
Beiträge: 378
Registriert: 22. Dez 2011, 18:58

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von rosecottage »

Hallo julcas,

Ich kann deine Gefühle sehr gut verstehen. Angesichts solcher Sorgen und offenbarer Hilflosigkeit erscheint einem alles andere nichtig.

Es tut mir so leid, dass dein Bruder so krank ist. Was sagen die Ärzte? Gibt es noch Hoffnung - weißt du etwas darüber?

Mir helfen in so schlimmen Situationen Rituale. Wenn ich nichts tun kann, kann ich dennoch ein Zeichen "schicken"... das könnte ein Brief sein an deinen Bruder, in dem du festhälst, was er dir bedeutet- auch wenn er ihn nicht lesen kann... oder eine Kerze, die du für ihn anzündest. Es ist nicht viel... nur ein kleines Ritual... ich denke an dich und wünsche dir Kraft!

Liebe Grüße
mosaic
julcas
Beiträge: 569
Registriert: 11. Mär 2011, 17:57

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von julcas »

Liebe Mosaic,

ja, du hast recht. das mit dem Ritual ist eine tröstliche Idee. Nein, es gibt wohl keine Hoffnung. Alle Körperfunktionen sind ausgefallen. Er liegt in einem fremden Land, unfähig zu leben. Passiert in der schönsten Zeit des Jahres, im Urlaub.

Als ob das nicht schlimm genug wäre. Ich kenne die neue Freundin nicht, habe keinerlei Kontakt zu ihr. Ich mache mir auch um das Mädel und die Kinder große Sorgen. Sie waren dabei, als mein Bruder zusammen brach. Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf. Wird er nach Deutschland gebracht, wie, von wem, wann? Besteht wirklich keine Hoffnung mehr? werden die Maschinen einfach abgeschaltet? Wer entscheidet das?

Es ist etwas was die Welt nicht braucht und doch passiert es einfach. Mein Bruder ist gerade 43 Jahre jung.

Ich werde heute abend eine Kerze für ihn anzünden. Der Gedanke ist wirklich tröstend.

Liebe Mosaic, ich hoffe das es dir jeden Tag ein wenig besser geht und du voran kommst auf deinem Weg. Ich empfinde vor dir Hochachtung, du bist eine ganz starke Frau.

Pass weiter gut auf dich auf.

lg julcas
bigappel
Beiträge: 1488
Registriert: 10. Dez 2010, 08:10

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von bigappel »

Liebe Julcas,

ich bin sozusagen gerade sprachlos, dies hier zu lesen.

Ich fühle mit Dir.

Ich weiß gar nicht, ob ich antworten soll, weil es eh wieder Mutmassungen sind, und nix Genaues.

Also in Deutschland ist es so, dass bei Hirntod die Ärzte entscheiden, ob die Herz/Lungenmaschine, die die Körperfunktionen aufrecht erhält abgeschaltet werden.

Handelt es sich um den umgekehrten Fall (Gehirn noch funktionstüchtig, Organe versagen), entscheiden meines Wissens nach die Angehörigen.

Beim ersten Fall weiß ich es absolut genau.

Aber ich spreche hier von Deutschem Recht!

Julcas, es tut mir so Leid.

Bei jüngeren Menschen, wie Deinem Bruder, ist vielleicht eine OP zur Entlastung des Gehirndrucks möglich oder das Gerinsel von der Blutung löst sich auf und entlastet somit den Kopfdruck.

Ich denke an Dich!

Betroffen
Pia
Ein Tier zu retten, verändert nicht die Welt, aber die ganze Welt ändert sich für dieses Tier.
rosecottage
Beiträge: 378
Registriert: 22. Dez 2011, 18:58

Re: Boah, meine Grenze ist erreicht

Beitrag von rosecottage »

Liebe julcas,

Das ist eine verdammt schwer zu ertragende Situation - so wenig Informationen zu bekommen... ich weiß leider nicht, wie man mit so etwas umgeht, aber spontan hätte ich daran gedacht über die deutsche Botschaft zu versuchen Kontakt mit der Klinik aufzunehmen - vielleicht ist das eine naive Idee... aber ein Versuch wäre es.

Mit wem stehst du denn in Kontakt - woher hast du erfahren, was passiert ist?

Ich möchte dir noch einen Gedanken mitgeben - ich weiß nicht, ob er dich tröstet. Vor 2 Jahren habe ich mit Schlaganfallpatienten gearbeitet und ich habe einige Komapatienten behandelt. Obwohl wir sehr wenig über das Empfinden dieser Menschen wissen - mein Eindruck war zumindest, dass sie nicht leiden, weil sie keine Schmerzen empfinden und nicht bei Bewusstsein sind.

Das nimmt natürlich nicht den Schmerz und die Sorgen um den Geliebten Menschen und seine Kinder... und es ist schlimm und ungerecht, wenn ein so jungen Menschen eine so schwere Krankheit trifft.

Danke auch für deine Lieben Worte.

Ich hoffe, du kannst in den nächsten Tagen einen Weg finden, mehr Informationen und Gewissheit zu erhalten.

Alles Liebe
mosaic
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