Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

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ursus
Beiträge: 159
Registriert: 22. Apr 2004, 12:52

Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von ursus »

Hallo,

nach der ersten Abmahnung und einigen ernsten Gesprächen mit dem Arbeitgeber sowie mit der Betriebsärztin überlege ich ernsthaft, ob ich die Anerkennung als Schwerbehinderter beantragen soll.

Mein Problem: Eigentlich möchte ich den Antrag nicht stellen. Ich fühle mich zu "jung" (37 Jahre) und befinde mich außerdem, wie auch meine Ärzte und der Therapeut meinen, auf dem Wege der Besserung. Aber der Arbeitgeber verliert langsam die Geduld, und ich habe mittlerweile ernsthaft Sorgen um meine relativ gute Stelle. Leider kann ich momentan die Kernarbeitszeit nicht zuverlässig einhalten - ich bin des öfteren verspätet, und das fällt natürlich auf. Ich denke, darin liegt der Kern der Kritik. Was die Qualität meiner Arbeit angeht, glaube ich, inzwischen wieder respektable Resultate abzuliefern, aber der Arbeitgeber sieht es offenbar anders, und von meinem Vorgesetzten (zu dem ich ohnehin ein ziemlich gespanntes Verhältnis habe) kommt so gut wie kein Feedback.

Kurz: Mit einem Schwerbehindertenausweis könnte ich mir mehr Rechtssicherheit verschaffen. Zwar denke ich an Stellenwechsel, wofür die Schwerbehinderung sicherlich ein Hindernis wäre, aber nach etlichen erfolglosen Bewerbungen sind meine diesbezüglichen Hoffnungen gesunken. Wenn es mir besser geht, will ich mich selbstständig machen.

Wer hat Erfahrungen und mag von sich berichten? Wer hat schon "bereut", einen Schwerbehindertenausweis beantragt zu haben?

Liebe Grüße
ursus
Simpl
Beiträge: 219
Registriert: 12. Feb 2006, 21:40

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von Simpl »

Hallo Ursus,

es gibt aus meiner Sicht keinen Grund einen Schwerbehindertenausweis zu bereuen. Ich kann mir auch schlecht vorstellen, dass Du deswegen schlechtere Vermittlungschancen hast. Notfalls bist Du (bin mir aber nicht 100% sicher) gar nicht verpflichtet den anzugeben.

Alleine die Stellung eines Antrags schützt Dich vor Kündigung ohne Einverständnis des Versorgungsamtes.

Und es gibt jüngere, die einen Schwerbeschädigtenausweis haben.

Gruß Simpl
Berlibi
Beiträge: 42
Registriert: 21. Mai 2005, 18:27

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von Berlibi »

Hallo, Ursus,
ich kann Simpl nur Recht geben: Beantrage die Anerkennung als schwerbehindert unbedingt. Man weiß nie, wofür's nochmal nützlich sein kann... Ich habe den Schritt im August '04 gemacht und habe zuerst 30% bekommen (mehrere orthopädische "Macken" + Depri). Da zwischen Antrag und Bescheid schon wieder einige Monate lagen, habe ich gleich "Antrag auf Neufeststellung wegen Verschlimmerung" gestellt und daraufhin 50% = Ausweis bekommen. Den Antrag kann man sich aus dem Netz holen (Homepage Deiner Stadt/ Sozialseiten). Ansehen kost' ja erstmal nix, oder?
Rennschlitten
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Registriert: 7. Jun 2005, 21:03
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Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von Rennschlitten »

Hallo Ursus,

ich kann dir nur empfehlen, dneAntrag zustellen. Mehr als dass, das Versorgungsamt verneint geht nicht. Außerdem hat dann der AG die Möglichkeit einen finaziellen Ausgleich für die "geringere" Leistung du du eventuell erbringst. Zudem als kleiner Bonbon: 5 Tage mehr Urlaub pro Jahr ab 50% GdB.
Viel wichtiger aber ist , dass du dann einen relativ festen Arbeitsplatz hast und das ist heute unbezahlbar. Du kannst dich ja auch mal vorsorglich mit dem Integrationsfachdienst in deiner Nähe in VErbindungs setzten, die habne wohlauch die Formulare.

Sylvia


ursus schrieb:
> Hallo,
>
> nach der ersten Abmahnung und einigen ernsten Gesprächen mit dem Arbeitgeber sowie mit der Betriebsärztin überlege ich ernsthaft, ob ich die Anerkennung als Schwerbehinderter beantragen soll.
>
> Mein Problem: Eigentlich möchte ich den Antrag nicht stellen. Ich fühle mich zu "jung" (37 Jahre) und befinde mich außerdem, wie auch meine Ärzte und der Therapeut meinen, auf dem Wege der Besserung. Aber der Arbeitgeber verliert langsam die Geduld, und ich habe mittlerweile ernsthaft Sorgen um meine relativ gute Stelle. Leider kann ich momentan die Kernarbeitszeit nicht zuverlässig einhalten - ich bin des öfteren verspätet, und das fällt natürlich auf. Ich denke, darin liegt der Kern der Kritik. Was die Qualität meiner Arbeit angeht, glaube ich, inzwischen wieder respektable Resultate abzuliefern, aber der Arbeitgeber sieht es offenbar anders, und von meinem Vorgesetzten (zu dem ich ohnehin ein ziemlich gespanntes Verhältnis habe) kommt so gut wie kein Feedback.
>
> Kurz: Mit einem Schwerbehindertenausweis könnte ich mir mehr Rechtssicherheit verschaffen. Zwar denke ich an Stellenwechsel, wofür die Schwerbehinderung sicherlich ein Hindernis wäre, aber nach etlichen erfolglosen Bewerbungen sind meine diesbezüglichen Hoffnungen gesunken. Wenn es mir besser geht, will ich mich selbstständig machen.
>
> Wer hat Erfahrungen und mag von sich berichten? Wer hat schon "bereut", einen Schwerbehindertenausweis beantragt zu haben?
>
> Liebe Grüße
> ursus
Sylvia Kunze
Twinkle
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Registriert: 28. Mär 2003, 15:55

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von Twinkle »

Hallo Ursus!

Wenn du eine anerkannte Schwerbehinderung von GdB 50 oder mehr hast, bist du auf alle Fälle verpflichtet dies dem Arbeitgeber mitzuteilen. Hältst du es geheim und kommt der Arbeitgeber dahinter, kannst du wegen arglistiger Täuschung gekündigt werden, besonderen Kündigungsschutz gibt es dann nicht mehr. Lediglich wenn du im Streitfall beweisen kannst, das diese Schwerbehinderung dich bei der Arbeit in keinster Weise beeinträchtigt, kannst du es riskieren es geheim zu halten.

Bitte lass dich von einem Fachmann beraten, wenn das für deinen weiteren beruflichen Weg ausschlaggebend ist.

Zudem kann ich aus eigener Erfahrung auch folgendes sagen. Ich war bevor ich Rente bekommen habe in der Schwerbehindertenvertretung meiner Dienststelle und hatte mit allen Einstellungen von Schwerbehinderten zu tun.
Leider, aber teils auch verständlicher Weise, ist KEIN Arbeitgeber begeistert einen Schwerbehinderten einzustellen. Ganz selten hat er damit wirklich keinen Ärger. Die Schwerbehindertenabgabe, die die Arbeitgeber zahlen müssen wenn sie die Quote nicht erfüllt haben, ist so niedrig, dass sie nicht ins Gewicht fällt. Selbst in einer weltbekannten Hilfsorganisation (sogar öffentlicher Dienst) hat sich die Personalabteilung mit Händen und Füßen gesträubt Schwerbehinderte einzustellen und wir haben gegen Windmühlen gekämpft.

Die immer wieder gerne gemachte Aussage, das Schwerbehinderte bei gleicher Eignung bevorzugt werden, halte ich für eine abgedroschene Floskel, die nicht der Realität entspricht. Gerade wenn man auf Arbeitssuche ist, kann eine anerkannte Schwerbehinderung ein Hinderniss sein.

Im bestehenden Arbeitsverhältnis gibts schon Vorteile. Mehr Urlaub, Steuervergünstigung, besonderer Kündigungsschutz. Bei uns wurden "lästige" Schwerbehinderte dann eben auf andere Weise gekündigt, so dass wir als Schwerbehindertenvertreter garnichts machen konnten und auch das Integrationsamt nur zustimmen konnte.

Gruß
Twinkle
Twinkle
Beiträge: 179
Registriert: 28. Mär 2003, 15:55

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von Twinkle »

Achja, noch was vergessen!

Simpl schreibt:
Alleine die Stellung eines Antrags schützt Dich vor Kündigung ohne Einverständnis des Versorgungsamtes.

Ja, das war mal so. Leider wurde das geändert und dieser Kündigungsschutz gilt erst bei der Feststellung der Behinderung.

Damit haben zuviele Nicht-Betroffene gespielt, indem sie bei drohender oder ausgesprochener Kündigung einfach mal nen Antrag gestellt haben und dadurch alles weitere blockiert haben, was für die Arbeitgeber nicht zumutbar ist.

Twinkle
ursus
Beiträge: 159
Registriert: 22. Apr 2004, 12:52

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von ursus »

Hallo Twinkle,

danke für Deinen ausführlichen und überlegten Beitrag. Etwas rätselhaft ist für mich folgende Aussage: "Bei uns wurden 'lästige' Schwerbehinderte dann eben auf andere Weise gekündigt, so dass wir als Schwerbehindertenvertreter garnichts machen konnten und auch das Integrationsamt nur zustimmen konnte."

Kannst Du das näher erläutern? Wenn ich einen Antrag stellen würde, dann in erster Linie wegen des Kündigungsschutzes - allerdings bin ich möglicherweise "lästig", zumindest für meinen Vorgesetzten, weil ich z.B. Kritik an den Arbeitsbedingungen mittlerweile mitunter recht offen zur Sprache bringe. Wie kann man denn anerkannten Schwerbehinderten einen Strick drehen, ohne dass das Integrationsamt Handhabe dagegen hat?

Viele Grüße
ursus
ursus
Beiträge: 159
Registriert: 22. Apr 2004, 12:52

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von ursus »

Hallo Twinkle,

vielen Dank für die wichtige Ergänzung. Habe gleich einmal in SGB IX nachgeschlagen; dort heißt es tatsächlich im §90:

"(2a) Die Vorschriften dieses Kapitels finden ferner keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte."

Das wusste ich nicht; ich habe auch gedacht, der Kündigungsschutz tritt mit Antragstellung in Kraft.

Liebe Grüße und vielen Dank
ursus
ursus
Beiträge: 159
Registriert: 22. Apr 2004, 12:52

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von ursus »

Hallo Simpl, Berlibi und Sylvia,

vielen Dank für eure schnellen und hilfreichen Beiträge. Es ist nach wie vor kein leichter Schritt, aber es wäre tatsächlich leichtfertig, das Beschäftigungsverhältnis zu riskieren. Insofern habt ihr mir bei der noch andauernden Entscheidungsfindung sehr geholfen.

Liebe Grüße
ursus
Kroki
Beiträge: 814
Registriert: 15. Mär 2004, 17:50

.

Beitrag von Kroki »

Simpl
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Registriert: 12. Feb 2006, 21:40

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von Simpl »

Hallo Twinkle, hallo Kroki,

Twinkle, das habe ich nicht gewusst, dass das schon geändert wurde. Mir war zwar bekannt, dass dies (berechtigterweise) geändert werden soll. Aber dass das schon durch ist wusste ich nicht.

Ja, Rechte der kleinen Bürger werden heute sehr schnell und unbürokratisch beschnitten. Achso, ist eine andere Baustelle - aber wir haben ja die Wahl im September.

Kroki, mit Bewerbungen und Schwerbehinderung habe ich keine Erfahrungen. Aber mir ist bekannt, dass Ämter und Behörden vorwiegend schwerbeschädigte eingestellt haben.

Auch Konzerne wie Versicherungen, Banken etc. rühmen sich manchmal ihrer schwerbeschädigten Beschäftigten.

Jede Firma muss eine Zwangsabgabe leisten, wenn sie nicht einen gewissen Anteil an schwerbeschädigten Mitarbeitern hat.

Dies nur zur Kenntnis.

Gruß Simpl
rowibo
Beiträge: 62
Registriert: 17. Apr 2003, 17:34

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von rowibo »

Hallo

Twinkle schrieb:

"Bei uns wurden "lästige" Schwerbehinderte dann eben auf andere Weise gekündigt, so dass wir als Schwerbehindertenvertreter garnichts machen konnten und auch das Integrationsamt nur zustimmen konnte"

Meines Wissens kann das Integrationsamt der Kündigung nur widersprechen, wenn sie etwas mit der Schwerbehinderung zu tun hat.
Beispielsweise bei einer Kündigung wegen einem möglicherweise "arbeitsvertragswidrigen Verhalten" siehts schlecht aus, aber auch eine solche Kündigung muß vom Integrationsamt genehmigt werden. Und das soll den Schwerbehinderten vor einer Entscheidung anhören.

Das soll jetzt nicht heißen, das eine Schwerbehinderteneigenschaft den bestehenden Arbeitsplatz nicht sicherer macht. Mach es, wenn Du einen Arbeitsplatz hast.

Bei Neu-Einstellungen kann ich die Aussage von Twinkle bestätigen. Vor allem wird der neue Arbeitgeber fragen, was für eine Behinderung das ist. Wenn es sich beispielsweise um ein steifes Bein handelt, könnte er sich vielleicht sagen: "kein Problem, bei mir kann er im Sitzen arbeiten, da spar ich mir die Ausgleichsabgabe". Wenn man aber seine psychische Behinderung angibt, wird das Einstellungsgespräch in den meisten Fällen gelaufen sein.

Aber ich würde mir in der Situation eine Neuorientierung sowieso schwer überlegen.

Wie gesagt, beantrage es, wenn Du einen Arbeitsplatz hast. Der SB-Status hat auch steuerliche Vorteile.
Nach meiner Erfahrung ist es aber leider gar nicht so einfach 50% anerkannt zu bekommen, ich hab nur 30% gekriegt.

Eine Frage noch an Twinkle:
Was sagt das Integrationsamt zu einer betriebsbedingten Kündigung? Da sollte doch ein Schwerbehinderter in der Sozialauswahl ganz hinten stehen, oder?

alle Gute

rowibo
Simpl
Beiträge: 219
Registriert: 12. Feb 2006, 21:40

Re: Soll ich Schwerbehinderung beantragen?

Beitrag von Simpl »

Hallo rowibo,

Du musst nicht angeben, dass Du psychische Probleme hast. Da kannst Du glatt etwas harmloseres angeben. Der Arbeitgeber bekommt das so und so nicht mit, weil es keinen Grund gibt, dass Du einen Arzt oder eine Behörde von der Schweigpflicht gegenüber Deinem Arbeitgeber entbinden musst.

Schwerbehinderte können nur dann gekündigt werden, wenn das Versorgungsamt zustimmt. Egal ob der Kündigungsgrund mit der Behinderung zu tun hat oder nicht.

Das Versorgungsamt wird eine Stellungnahme / Zustimmung nur nach Rücksprache mit Dir geben. Zustimmungen gibt es z.B. bei schweren Verfehlungen - Chef beleidigen, Diebstahl. Wobei, wenn das mit Deiner Behinderung zusammenhängt eine Zustimmung i.d.R. auch nicht erfolgt, dann werden andere Lösungen gesucht.

Zu Sozialplan: i.d.R. - ist jedesmal anders - gibt es verschiedene Gruppen im Sozialplan immer gibt es die Gruppe der Vollzeit- und Teilzeitkräfte. Dass es Behindertengruppen gibt, habe ich bisher noch nicht gehört.

Wenn Du in der Vollzeitgruppe bist, findest Du Dich in einem Punkteplan: Alter, Betriebszugehörigkeit, Versorgungspflichten usw. und irgendwann bekommst Du dann auch Punkte für Schwerbehinderung. Ist also im Falle eines Sozialplanes auch von Vorteil, einen GdB zu haben.

Gruß Simpl
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