nochmal zum Thema Abhängigkeit/nicht nur an Herrn Niedermeyer

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Anne2
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nochmal zum Thema Abhängigkeit/nicht nur an Herrn Niedermeyer

Beitrag von Anne2 »

Sehr geehrter Herr Dr.Niedermeyer!
Man sagte mir, daß sie Ende der Woche wieder im Lande seien und daß ich Sie mit meiner Frage nochmal direkt ansprechen soll. Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Urlaub.
Ich bin selbst vom Paroxetin-Absetzsyndrom sehr schwer betroffen gewesen, wie Sie meinen anderen Beiträgen entnehmen können. Ich habe etwa sechs Monate nach dem Wechsel von Paroxetin auf Citalopram und dem anschließenden abrupten Absetzen auch dieses Medikaments, unter, für mich unerklärlichen, Symptomen gelitten, die dann langsam nachließen und von selbst verschwanden.
Sie schreiben in einem ihrer Beiträge, daß Absetzerscheinungen nur etwa sieben Tage andauern und alles andere hätte andere Gründe. Meine Fragen an Sie sind jetzt: Woher wissen Sie das? Gibt es dazu Orginalliteratur (ich habe Zugang zu medizinischen Journalen, Sie können mir gerne Quellenangaben schreiben)? Welche Gründe könnten die Symptome sonst noch haben? Und wie würden Sie dieses Phänomen nachweisen?
Des weiteren behaupten Sie Absetzerscheinungen seien etwas anderes als Entzugserscheinungen. Ich habe diese sprachliche Differenziernung nie verstanden. Wären Sie so freundlich, mir das nochmal zu erläutern?
Dann behaupten Sie Abhängigkeit würde mit Suchtdruck einhergehn. Meiner Meinung nach sind das zwei verschiedene Dinge. Genauer: Suchtdruck hat meines Wissens etwas mit dem dopaminergen Rewardsystem zu tun. Abhängigkeit dagegen ist ein Prozeß, bei dem das Nervensystem auf Eingriffe in die Signaltransduktion der Synapse mit Ausgleichsmechanismen reagiert, die nach Wegfall der "Droge" (im Englischen "drug" für Drogen und Medikamente) zu einem Ungleichgewicht führen und damit zu körperlichen Entzugserscheiungen. Könnten Sie dazu noch etwas schreiben?
Vielen Dank,
Diplom-Biol. Anne H.
Nico Niedermeier
Moderator
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Re: nochmal zum thema Abhängigkeit/an Hern Niedermeyer

Beitrag von Nico Niedermeier »

Liebe Anne,
ich schaffe es heute nicht mehr ausführlich auf alles zu antworten...ich versuch einfach mal anzufangen...
Ich hatte vor einigen Jahren mal eine sehr heftige Auseinandersetzung mit meinem Chef bzgl. der Formulierung "Entzug" von nichtabhängig-machenden Schmerzmitteln..
Das ganze ist eine ziemliche Begriffsverwirrung..ich versuche es mal aufzudröseln soweit ich es verstanden und habe:
Obwohl es eine ofizielle ICD Codierung für einen "Entzug" von nichtabhängig-machenden Schmerzmitteln gibt, sieht das die offizielle Psychiatrie meistens anders..
"Entzug" ist ein Wort, das an den Begriff "Abhängigkeit" gekoppelt ist (und zwar im eigentlichen Sinne sogar an eine körperliche Abhängigkeit!!. Diese Abhängigkeit ist wiederum durch einen starken Suchtdruck gekennzeichnet der einsetzt sobald das Medikament "entzogen" wird..und der psychische Suchtdruck ist das Ergebnis des physiologischen Abfalls (auf der Verhaltensebene: Entzug)der "abhängig machenden" Substanz..
Im Falle der SSRIs gibt es keinerlei Suchtdruck (weder rein psychisch noch physisch getriggert) also auch keine Abhängigkeit und damit auch keinen Entzug. Was passiert (soweit ein normaler Mediziner wie ich das überhaupt beurteilen kann) ist, dass es (durch das Absetzen des SSRIs)wieder zu einer Verschiebung des Serotoningleichgewichtes kommt und das macht die bekannten Symptome.
Ich versuche Mo oder Di den Rest zu beantworten..
herzliche Grüsse
Dr.Niedermeier
Anne2
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Re: nochmal zum thema Abhängigkeit/an Hern Niedermeyer

Beitrag von Anne2 »

Sehr geehrter Herr Niedermeyer!
Vielen Dank für ihre freundliche Antwort. Sie sprechen mir mit dem Satz "Das ganze ist eine ziemliche Begriffsverwirrung" aus dem Herzen. Ich würde mich freuen, wenn es in diesem thread wenigstens teilweise gelingen würde die Begriffsverwirrung aufzuklären. Dann wird, so denke ich, auch die unglaubliche Emotionalität, mit der dieses Thema diskutiert wird etwas abkühlen.

Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich, sozusagen als Diskussionsgrundlage für alle, die sich an diesem Thema mitbeteiligen wollen die offizielle Definition des ICD-10 hier hereinstelle:

Abhängigkeitssyndrom
Die sichere Diagnose "Abhängigkeit" sollte nur gestellt werden, wenn irgentwann während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien gleichzeitig vorhanden waren:
(1) Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren
(2) Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums.
(3) Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch die substanzspezifischen Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.
(4) Nachweis einer Toleranz. Um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung der psychotropen Substanz hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich (eindeutige Beispiele hierfür sind die Tagesdosen von Alkoholikern und Opiatabhängigen, die bei Konsumenten ohne Toleranzentwicklung zu einer schweren Beeinträchtigung oder sogar zum Tode führen würden).
5) Fortschreitende Vernachläßigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
(6) Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, wie z.B. Leberschädigung durch exessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starken Substanzkonsums oder drogenbedingter Verschlechterung kognitiver Funktionen. Es sollte dabei festgestellt werden, daß der Konsument sich tatsächlich über Art und Außmaß der schädlichen Folgen im Klaren war oder daß zumindest davon auszugehen ist.

Soweit das ICD-10. Ich erdreiste mich noch eine weitere Passage hier hineinzustellen:


Die Weltgesundheitsbehörde definiert den Begriff Abhängigkeit in ihrem Kommentar zum Thema SSRIs und Abhängigkeit so (aus: „WHO Drug Information“, 1998, 12, 3, 136-138):
Es gibt offensichtlich einige Verwirrung über das Konzept der Abhängigkeit ... die einfachste Definition von Drogenabhängigkeit der WHO ist, wenn sich beim Entzug der Droge, die über einen längeren Zeitraum gewohnheitsmäßig eingenommen wurde, Missbehagen und Beschwerden zeigen. Als weiteres Merkmal gilt, dass diese Erscheinungen durch die neuerliche Zufuhr der Droge (oder einer ähnlich wirkenden Droge) wieder zum Abklingen gebracht werden können.
Die Menschen, die Probleme haben die Einnahme eines Medikamentes trotz langsamer Dosisreduzierung zu stoppen, sind deshalb als abhängig von diesem Medikament zu betrachten, es sei denn ein Rückfall in die Depression ist der Grund für ihre Unfähigkeit, die Medikation zu stoppen.
Im Allgemeinen haben alle unangenehmen Absetzerscheinungen ein gewisses Potenzial Abhängigkeit zu erzeugen – dieses Risiko mag von Person zu Person variieren. Es wird keine Abhängigkeit auftreten, wenn die Absetzerscheinungen so mild sind, dass alle Patienten sie einfach tolerieren können. Mit wachsender Stärke wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass dies zur Abhängigkeit führt. Obwohl die Melderaten von SSRI Absetzsymptomen im Vergleich mit der verschriebenen Menge niedrig erscheint, ist es ratsam, das Beobachten der Absetzproblematik bei Patienten zu empfehlen, selbst wenn das SSRI in einer moderaten Dosis verschrieben wird.

Soviel für heute,
Freundliche Grüße, Anne
olliwawallta

Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/an Herrn Niedermeyer

Beitrag von olliwawallta »

Hallo Anne.

Dann ist es also so, daß die WHO eine Abhängigkeit schon als gegeben ansieht, wenn man das Medikament nur weiternimmt, um die Entzugserscheinungen *tschuldigung* Absetzsymptome zu vermeiden ... kein Suchtdruck, keine Vernachlässigung des sozialen Umfeldes - einfach nur schlichte, langweilige Vermeidung von Leid ...interessant.

Scheint, als wäre die Meinung der WHO nicht sehr gefragt was solche Dinge angeht, sonst hätte sich das doch schon rumgesprochen - ist ja schliesslich schon ein paar Jahre her ...

Alles Gute
Oliver
knurrli
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Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/an Herrn Niedermeyer

Beitrag von knurrli »

Hallo Oliver,

dass Du im Zusammenhang mit Deprivorbeugung schreibst "einfach nur schlichte, langweilige Vermeidung von Leid" ist wohl ziemlich das letzte. Da hast Du wohl eine angenehme Depri "erwischt", wenn Du Dich zu deren Vorbeugung dermassen zynisch äussern kannst. Vielleicht könntest Du ja mal mitteilen, wie Dein Exemplar heisst. Das dürfte alle interessieren, die gegen eine leider "unangenehme" kämpfen müssen.

Gruss
Mara
Und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir: "Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen!" Ich lächelte und war froh, und es kam schlimmer.
CloneX
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Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/an Herrn Niedermeyer

Beitrag von CloneX »

Mara, Oliver hat sich nicht auf Depressionen bezogen. Ist wohl ein Mißverständnis denke ich



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Anne2
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Registriert: 24. Okt 2003, 11:17

Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/an Herrn Niedermeyer

Beitrag von Anne2 »

Sehr geehrter Herr Dr. Niedermeyer!

Ich weiß, daß Sie sich inzwischen über dieses Thema ärgern. Sie hatten mir jedoch zugesichtert mir noch auf meine anderen Fragen zu antworten. Es wäre mir wichtig. Ich habe Paroxetin vier Monate mit (meinem Empfinden nach) relativ schweren Nebenwirkungen genommen und nach dem abrupten Absetzen (vorher noch der Versuch auf Citalopram zu wechseln) unter sehr heftigen Erscheinungen gelitten. Darunter Suizidgedanken und -gesten, aggressive Zwangsgedanken, Selbstverletzungen und extreme emotionale Vulnerabilität. Diese Symptome waren mir bis dahin zum Teil gänzlich, zum Teil in der hohen Intensität unbekannt. Sie kamen in Schüben und dauerten etwa ein halbes Jahr an, wobei die Intervalle zwischen den Schüben größer wurden. Nach diesem halben Jahr hatte ich nur noch meine bis dahin schon bekannten Symptome.
Sie sagten, alles was über sieben Tage hinausgeht seien keine Absetzerscheinungen mehr. Ich würde nun gerne wissen, welche anderen Erklärungen Sie meinen. Ich erkläre mir die Phänomene zur Zeit noch mit Absetzerscheinungen und Rebound-Phänomenen (soweit ich weiß, wird dieser Ausdruck eigentlich nur für durch das abrupte Absetzen von Neuroleptika ausgelöste Psychosen verwendet). Besonders wichtig wäre mir zu wissen, wie ein praktischer Arzt zwischen diesen Erklärungen (Absetzerscheinungen, Rebound-Phänomene und alternative Erklärungen) unterscheiden kann. Natürlich fände ich es auch wichtig über die Definition von Entzugserscheinungen und Absetzerscheinungen und so weiter zu diskutieren, aber lasse mir auch gerne sagen, daß das Haarspalterei sei. Mir ist es im Prinzip egal wie das genannt wird. Wichtig wäre mir jedoch die Ursache herauszufinden, denn das ist nicht ganz unerheblich für die Einschätzung des Phänomens und die Einschätzung ist sehr wichtig für die weitere Behandlung. Und es wäre mir wichtig, daß anerkannt wird, daß diese Symptome wirklich ein Gang durch die Hölle waren und mit dem Wort "mild" nicht angemessen zu beschreiben sind.
Mit freundlichen Grüßen, Anne
Nico Niedermeier
Moderator
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Registriert: 21. Mär 2003, 11:10

Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/an Herrn Niedermeyer

Beitrag von Nico Niedermeier »

Liebe Anne,
ich werde, soweit ich das kann, versuchen Ihnen darauf zu antworten...
vorweg noch einmal der Versuch klar zu machen warum ich so stark versuche mich aus dieser Diskussion rauszuhalten. Dieses Forum ist bewusst als Selbsthilfeforum konzipiert, in dem Betroffene miteinander sprechen können und sollen. Es ist kein: Ask the doctor..Forum. Dies erklärt warum ich oder wir häufig nur sehr zurückhaltend antworten.
Aber jetzt ganz konkret:
Absetzphänomene sind im Gegensatz zu den hier geäusserten Vermutungen etwas eher seltenes. Wenn z.B. in Deutschland 500.000 bis eine Million Menschen in den letzten 10 Jahren einen SSRI genommen haben dann haben höchstens 25000 Menschen ein solches Phänomen erlebt. Wobei es sicherlich wiederum 23000 als "relativ harmlos" beschreiben würden". Was ist mit den restlichen 2000...
Ich bin mit den SSRIs in der Psychiatrie von Beginn an konfrontiert und ich hatte lange bevor die "Abstzphänomene" z.B. in den Beipackzettel aufgenommen wurden den klinischen Eindruck, dass manche Patienten bei schnellem Absetzen von solch einem Phänomen betroffen werden. Das Phänomen hat eine sehr charakteristische Symptomatik: Müdigkeit, Schwindel, aber auch Unruhe und Nervosität und Ängstlichkeit, sehr häufig Kopfschmerzen und oft auch ein generelles Krankheitsgefühl und das ganze dauert 5 bis 7 Tage. Meiner klinischen Erfahrung nach sind das die Symptome die eindeutig als Absetzphänomen zu identifizieren sind. Das trifft für die 23000 aus o.g. Gruppe zu. 2000 berichten über weitergehende Symptome (also vieleicht jeder 250-500. Patient der SSRis nimmt). Häufig wird in dieser Gruppe über eine deutliche Verschlechterung der Symptomatik insgesamt geklagt. Ein mögliches Erklärungsmodell wäre ein Reboundphänomen das man auch bei anderen Medikamenten (klassischerweise z.B. den Benzodiazepinen) immer wieder beobachtet. Eine weitere Möglichkeit ist z.B. dass es sich um ein psychologisches Phänomen handelt.
Ich habe 2 Patienten erlebt die beim Absetzen unter heftigsten Symptomen litten, die mittels psychotherapeutischer Intervention sehr rasch komplett zu beseitigen waren. Dieses Phänomen gibt es also auch. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass es sich einfach um eine natürliche Verschlechterung einer bestehenden Störung handelt. Auch ohne SSRIs erleben wir es dauernd, dass Patienten die an einem psychischen Problem leiden plötzlich rapide Verschlechterungen in Ihrer Befindlichkeit erfahren müssen. Rein statistisch gesehen wäre es sogar fast wenig wenn unter 1 Million Medikamentenusern nur 2000 eine Verschlechterung der Symptomatik exakt zum Zeitpunkt des Absetzens erfahren würden...und natürlich wäre es auch ein normopsychologisches Denken und Handeln wenn man diese Verschlechterung dann auf den SSRi fokussieren würde..wenngleich diese Attribution dann falsch wäre. Ich kann dies gerne noch einmal am Beispiel von (sorry wenn ich jetzt einen Fehler mach ich bin mir nicht ganz sicher ob es Clone X oder Oliver war)Paroxetin und Halluzinationen geben.
Einer von beiden schrieb, dass er dieses Symptom vom Paroxetin hatte und das dies gar nicht selten sei. In Wirklichkeit wird es nicht einmal in der roten Liste als Nebenwirkung geführt, was immerhin besagt dass es weniger als jeder 100.000 User unter Paroxetin eine Halluzination erlebt. Aber jeder 10000 Deutsche erkrankt schon einfach spontan an einer Halluzination pro Jahr. Unter Menschen mit Depressionen sind Hallizinationen sicher bei jedem 100 vorübergehend anzutreffen...folglich ist die statistische Wahrscheinlichkeit weit höher dass es von einer Depression kommt, als das es vom Medikament kommt.
Nichtsdetotrotz kann all das was Sie beschreiben auch von einem SSRi kommen und es ist einfach so selten, dass es sich statistisch (bis dato zumindest) nicht sichern lässt..Diese Grauzone ist einfach da und ich wüsste auch nicht wie man das (momentan) endgültig klären könnte. Ich würde an Ihrer Stelle immer auch Kontakt zum Hersteller suchen, die in der Regel (entgegen dem was Clone X oder Oliver vertreten) sehr auskunftsfreudig sind und (auch aus Angst vor Regressen)immer möglichst viel offenlegen.. Vieleicht könnten die Ihnen sagen ob es einen anderen beschriebenen Fall gibt der Ihrem gleicht..
Noch ein Beispiel von mir...ich muss gegenwärtig ein Medikament einnehmen (Gelenke und Haut) bei dem 10 Jahre lang keine gefährlichen Nebenwirkungen bekannt waren. Jetzt plötzlich taucht in dem Beipackzettel der Hinweis: "Kann in sehr seltenen Fällen akute Leukämie auslösen" auf.
Verunsichert wie ich war habe ich sofort beim Hersteller angerufen (und mich nicht als Arzt ausgegeben)und habe eine sehr umfassende ehrliche Antwort bekommen. Dass nähmlich im Falle meines Medikamentes 4 von 20000 überprüften Usern im Laufe von 15 Jahren an einer Leukämie erkrankt sind. Die Spontanerkrankungsrate würde 3 von 20000 in 15 Jahren bedeuten...ist dieser eine mehr nun Zufall oder eine Nebenwirkung des Medikamentes? Man kann es nicht sagen. Die Firma will rechtlich gesehen aber auf jeden Fall auf der juristich sichern Seite sein und nimmt dies sofort in die Nebenwirkungsliste auf...
herzliche Grüsse
Dr. Niedermeier
CloneX
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Registriert: 30. Sep 2003, 22:55
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Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/an Herrn Niedermeyer

Beitrag von CloneX »

Herr Niedermeier,

das war ein interessanter Beitrag. Es ist für uns nämlich auch sehr wichtig zu erfahren, worauf die Aussagen von Ärzten beruhen und wie diese Zustande kommen.

Ich denke die Schwierigkeit bei der SSRI Absetzungsproblematik besteht in der schlechten Beweisbarkeit. Wenn ein Medikament (Gelenke und Haut) Leukämie verursacht, dann lässt sich das besser feststellen und beweisen, da es zum einem medizinisch "meßbar" ist und zum anderen in keinem Bezug zur eigentlichen Erkrankung steht (Gelenke und Haut).
Bei SSRI ist es wesentlich schwerer zu unterscheiden und zu beweisen, da beim Absetzen Symptome auftreten können die der eigentliche Erkrankung ähnlich sind, jedoch eine andere Ursache haben.
Das hat auch zur Folge, dass - nach unserer Erfahrung - Absetzungserscheinungen fälschlicherweise als Rückfall gedeutet werden. Dies hat zur Folge, dass so ein fall gar nicht in den Statistiken auftaucht. Da kann man weder Ihnen noch dem Patienten einen Strick draus drehen - wenn das Wissen über diese Problematik nicht vorliegt.
Ich selber habe nach dem ersten Absetzungsversuch auch meinem behandelnden Arzt geglaubt und die Symptome letztendlich doch als Rückfall gewertet. Bei dem zweiten Versuch wusste ich mehr und habe es nicht als Rückfall gewertet. Und wie sich für mich rausstellt sind es wirklich langanhaltende Absetzungserscheinungen und kein Rückfall.
Ein weiteres Problem ist der Mangel an Patienten die ihre schweren Absetzungserscheinungen wirklich den zuständigen Kontrollinstanzen melden. Diese geben selber zu (ich bin mir nicht sicher ob es die deutsche BfArM war oder die amerikanische FDA), dass nur ein kleiner Bruchteil Betroffener wirklich die Symptomatik meldet.

Zu den Halluziantionen: Ich habe mir dazu die aktuellen offziellen Verschreibungsinformationen von Paxil (Paroxetine) heruntergeladen (Link: http://us.gsk.com/products/assets/us_paxil.pdf). Dort werden Halluzinationen als "infrequent" entsprechend: 1/100 bis 1/1000 aufgeführt. Das weicht dann doch sehr von Ihrer roten Liste und den genannten 1/100000 ab. Das überrascht mich jetzt auch, da in diesem Fall die "Wissenslücke" nicht beim Hersteller zu suchen ist sondern, bei den behandelnden Ärzten oder den Institutionen die die Ärzte mit den Informationen versorgen (Ich bin selber kein Arzt und weiß nicht wie das dort abläuft).

Mich persönlich würden jetzt noch die Anzahl der "Rückfälle" interessieren, die Sie beobachtet haben. Denn dort befürchte ich - wie oben erwähnt - bei vielen nicht aufgeklärten Patienten, dass diese evtl. falsch diagnostiziert wurden, so wie es mir und vielen anderen ergangen Betroffenen ergangen ist. Auf Grund der umstrittenen Sachlage kann ich es einem Arzt nicht übelnehmen. Übel nehme ich es nur Ärzten die nicht offen sind für neue Informationen und den Erfahrungen ihrer Patienten.

Danke für Ihren Beitrag



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Anne2
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Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/nicht nur an Herrn Niedermeyer

Beitrag von Anne2 »

Sehr geehrter Herr Dr. Niedermeyer!
Ich kann es gut verstehn, daß dieses Forum nicht als ask-a-doctor-Forum mißbraucht werden soll. Ich habe mich deshalb nur auf die Aussagen bezogen, die Sie selbst an anderer Stelle gemacht haben.
Aber um dem ganzen eine andere Wendung zu geben habe ich den Titel des Beitrags geändert in "nicht nur an Herrn Dr. Niedermeyer" und hoffe, daß auch andere Forumsteilnehmer mitdiskutieren. Ich würde mich freuen, wenn es diesmal zu einer konstruktiven Diskussion kommt.
Ich danke Ihnen für den Tip mich an den Hersteller zu wenden. Das werde ich versuchen und hinterher hier im Forum berichten. Ich habe außerdem vor doch nochmal zu meinem vorherigen behandelden Arzt zu gehn und die ganze Geschichte an die Arzneikommission melden.
Leider war es bei mir so, daß eine psychotherapeutische Intervention nicht geholfen hat. Ich glaube auch nicht an die These, daß es sich um eine spontane Verschlechterung meiner Grundsymptomatik gehandelt hat, denn ich habe zu einem Zeitpunkt abgesetzt, als die auslösenden Faktoren meiner Krise bereits beseitigt waren und der ganze Druck schon einige Zeit von meinen Schultern genommen war.
Das Problem ist einfach (genauso wie CloneX das geschildert hat), daß meine Therapeutin, ein konsultierter Arzt und ich nicht daran gedacht haben, daß die Symptome mit dem Absetzen des Medikaments zu tun haben könnten. Wir waren auf dieses Thema überhaupt nicht sensibilisiert. Und nach allem was Sie jetzt geantwortet haben, gibt es anscheinend keine Möglichkeit wirklich zu unterscheiden ob es ein Rebound-Phänomen ist oder eine Verschlimmerung der Symptomatik. Ich befürchte genauso wie CloneX, das es sein könnte, daß Absetz- oder Rebounderscheinungen viel viel häufiger auftreten als offiziell beschrieben, da sie immer als Rückfall eingestuft werden und sofort wieder mit Medikamenten weiterbehandelt werden. Die Betroffenen kommen dann, wenn sie Pech haben, aus der Spirale von Medikamenteneinnahme, Absetzversuchen, "Rückfällen" und erneuter Einnahme von Medikamenten nicht mehr heraus...

Mit freundlichen Grüßen, Anne
Nico Niedermeier
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Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/nicht nur an Herrn Niedermeyer

Beitrag von Nico Niedermeier »

Liebe Anne,
diese Befürchtung habe ich durchaus auch, wobei ich schon auch daran glaube, dass die meisten behandelnden Ärzte über dieses Problem informiert sind und eher Ihre Patienten ermutigen (sollten)diese Absetzphase durchzustehen, da sich die Symptomatik dann wieder bessern wird
Dr. Niedermeier
Nico Niedermeier
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Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/nicht nur an Herrn Niedermeyer

Beitrag von Nico Niedermeier »

Lieber Clone X,
ich bin sehr knapp in der Zeit heute, insofern nur ein kurzer Versuch einer Antwort..vieles von dem was Sie schreiben finde ich sehr sinnig und auch nachvollziehbar. Ich habe Abetzphänomene vor allem bei sehr schnellem absetzen beobachtet und falls dies gegeben war, vieleicht bei jedem fünften Patienten. Hierbei wiederum waren alle (und das ist wirklich ehrlich so)nach ner Woche wieder beschwerdefrei...aber ich habe durchaus einige Patienten erlebt die furchtbare Angst hatten, dass jetzt alles wieder von vorne losgeht; diese Angst lies sich durch das Aufklären (über das was gerade im Körper passiert)in allen Fällen nehmen. Ich hatte soweit mir erinnerlich keinen Patienten bei dem wir gleich wieder mit der Dosis hoch sind , weil es sonst "nicht gegangen" wäre. Alle meine Patienten wissen, dass ich dieses Forum moderiere, ein Grossteil liest zumindest sporadisch mit....folglich hoffe ich mal dass dies meine Glaubhaftigkeit diesbezüglich etwas erhöht
Grüsse
Dr. Niedermeier
Data

Re: nochmal zum Thema Abhängigkeit/nicht nur an Herrn Niedermeyer

Beitrag von Data »

Hi Wuschel,

was'n los, warum löscht du alles, hast du was besonderes vor, willst du das Forum oder die Welt für immer verlassen?

Gruß, Data
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