Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

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otterchen
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Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Hallo zusammen!

Ich stöbere gerade im Angehörigenteil herum und lese zum wiederholten Male, dass Betroffene sich scheuen, sich in Behandlung zu begeben.

Vielleicht lesen hier dennoch ein paar Menschen mit, die depressiv sind, aber sich bislang weder an einen Psychiater noch an einen Psychotherapeuten gewandt haben?
Und an diese Menschen soll dieser Thread gerichtet sein.

Welche Bedenken gibt es, wie können wir diese zerstreuen?

Mir fallen da folgende Argumente ein:
• ich bin doch nicht verrückt!
• das funktioniert bei mir alles nicht
• ich lasse doch keinen Fremden in meinen Kopf
• ich schlucke dieses Zeug nicht, das verändert meine Persönlichkeit
• ADs machen abhängig
• ich muss nur mein Leben in den Griff bekommen, das ist nicht krankhaft
• depressiv zu sein ist ein Zeichen von Schwäche
• eine Therapie wird versuchen, mich grundlegend zu ändern, und das will ich nicht

Was wabert noch in den Köpfen der Menschen herum und hält sie davon ab, sich fachliche Hilfe zu suchen?


Wer von Euch möchte hier mit dazu beitragen, diese Bedenken zu zerstreuen?
Wie kann man diese Menschen ermutigen, diesen Schritt zu gehen?
mein gelerntes Sammelsurium: https://otterchenblog.wordpress.com/
elas
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von elas »

Guten Tag.


Ich gehe als Leseratte mal fremd. Thread_fremd.
Ich poste dies jetzt nicht in dem herrlichen Thread "Bücher-Mein Leseerlebnis"
sondern stelle dieses Buch hier herein:

Andrea Jolander
Da gehen doch nur Bekloppte hin
Aus dem Alltag einer Psychotherapeutin.

Sehr humorig wird berichtet, wer zu einem PT geht, warum, so in etwa, wie sich das abspielt etc.

Dieses Buch wurde schon einmal hier im Forum empfohlen. Dadurch wurde ich darauf aufmerksam.
Herrlich-amüsante Lektüre für Menschen, die sich noch nicht so ganz an eine Psychotherapie herangetrauen.



Selas
________________________________

Der Weg ist das Ziel



Lebensringe sind auch Themenringe
otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Ich möchte direkt meine ersten Gedanken zu dieser Fragestellung aufschreiben:

"ich bin doch nicht verrückt"

Das ist immer noch in vielen Köpfen vorhanden
und ich habe es selbst schon gehört.

Was aber hat "verrückt" damit zu tun?
Es gibt (leider) die Vorstellung von "Irrenhäusern", die uns vornehmlich über Kino/TV vermittelt wird.
DAS TRIFFT NICHT ZU.
Depressive sind so nicht! Kliniken sind so nicht.

Depressive stehen nicht in Morgenmänteln im Flur herum, halten sich für Napoleon und geben seltsame Geräusche von sich.
Das ist nicht die Realität der Depression.

Und es braucht niemand Angst zu haben, sich plötzlich in einer derartigen Situation wiederzufinden.

Depression hat nichts mit "verrückt" zu tun.
"Verrückt" würde ich auf eine Störung des GEISTES, nicht der SEELE beziehen.
Eine Depression ist eine seelische Störung.
Unser Geist ist jedoch oftmals noch sehr scharf und wach.
Geist würde ich mit Verstand gleichsetzen, Seele mit Gefühl.
Die Depression ist eine Veränderung unserer Gefühlswelt.

Ich würde es mal so formulieren:
wir brauchen einen gesunden Geist, um unserer Seele helfen zu können.

Also: wer depressiv ist, ist nicht "verrückt"!
Aber weil viele Menschen dieser Erkrankung noch immer dieses Etikett anheften, kann man seine Behandlung ja für sich behalten. Ich breite das auch nicht aus. Ich will darüber nicht mit "Unwissenden" debattieren - das führt zu nichts.
Sollen die doch denken, was sie wollen - WIR wissen es besser. DIE sind nur unaufgeklärte Konsumenten von Halbwahrheiten und nicht kompetent, da mitzureden.


ABER:
es kommt bei dieser Erkrankung tatsächlich zu "seltsamen" Gedanken.
Diese Gedanken kreisen dann vielleicht um gewisse Themen, drehen sich im Kreis, nehmen eine andere Richtung als früher, erschaffen seltsame Bilder, die uns befremden...
Ja, manche von uns haben schonmal den Gedanken gehabt "ich werde verrückt" - ich selbst auch. Ich hatte den Eindruck, meine Synapsen würden Funken sprühen, so sehr war ich gestresst, verkrampft, in einem Thema gefangen, konnte nicht raus aus meiner Haut, war total neben der Spur...
Das ist wohl passiert, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass ich mich eigentlich schon längst in therapeutische Behandlung hätte begeben sollen.




Hallo Selas,
danke fürs Mitmachen!
Ich erlaube mir mal, einen Amazon-Link einzustellen: hier kann man direkt einen Blick ins Buch werfen:
http://tinyurl.com/otrurgf
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Rudi-Reiter
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von Rudi-Reiter »

Hallo in die Runde

Nun vielleicht sollte man aufhören sich selbst zu belügen und akzeptieren
dass man krank ist. Je früher desto besser.
Irgendwann kann man es sowieso nicht mehr leugnen vor sich und
Anderen.

Ich weis mein Denken ist verrückt, im Wortsinn.
Wenn ich nicht auf mich achte rutscht in Stresssituationen mein Denken
und Fühlen schnell ab ins Negative, auf Dauer ungesunde.

Dass die Therapie bei mir nicht funktioniert, dachte ich auch lange Zeit,
sie kann nicht in kurzer Zeit Denkweisen ändern, die Jahrzehntelang
eingeschliffen sind. Doch es wird besser langsam halt.

Warum soll ich keinen Therapeuten *in meinen Kopf lassen*?
Er will mir helfen, dazu muss ich mich aber öffnen. Ist halt nicht immer
leicht. Sollte es beim ersten nicht klappen, lieber einen Anderen suchen!
Bei einer OP lassen wir ja auch den Chirurgen in unseren Körper
eindringen um unsere Krankheit zu heilen.

AD’s sind nach meiner Meinung mit Krücken zu vergleichen. Sie heilen
nicht, dämpfen nur. Also Medis einwerfen und weitermachen wie bisher
wird nicht lange gut gehen.

Ich habe 17 Monate lang eines genommen, war nicht wirklich gut, doch
vermutlich haben mir die Tabletten das Leben gerettet.
Durch die Fortschritte in der Therapie brauchte ich sie dann nicht mehr.

Ich wurde auch nicht süchtig, hab in Absprache mit der Psychiaterin
ausgeschlichen und komm seitdem ohne zurecht.

Depressiv zu sein ist kein Zeichen von Schwäche, sondern kommt oft
daher, dass man lange Zeit stärker sein wollte, als man ist,
die eigenen Grenzen nicht achtete.

Ich habe in der Therapie gelernt krankmachende Verhaltensweisen zu
erkennen und abzubauen, auch falsche Glaubenssätze erkannt, die in
meiner Kindheit wichtig für mich waren, aber jetzt hinderlich für mich sind,
lerne meine Gefühle zu erkennen und zuzulassen usw.........

Natürlich habe ich mich verändert, schließlich ist der Mensch der ich früher
war psychisch krank geworden.


LG Rudi
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wenn ich es wirklich will!
otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Als ich einmal einem Menschen gegenüber das Thema Psychotherapie erwähnte, kam die Aussage
"das funktioniert bei mir alles nicht"
(ohne das er sich jemals näher mit dieser Fragestellung beschäftigt hätte - is' klar, ne?)

Er hatte die Einstellung, dass er eben fühlte, was er fühlte,
und dass das nichts mit seinen Gedanken und der Sichtweise auf seine Welt zu tun hatte.
Dass Denken + Fühlen + Handeln durchaus sehr viel miteinander zu tun haben, war für ihn ausgeschlossen.
Er sah die Dinge nun einmal so "wie sie sind" und hatte ein entsprechendes Bild von sich und seiner Welt.
Für ihn gab es da nichts zu hinterfragen, nichts zu verändern.

Aber hat er sich gut gefühlt dabei? Konnte er sich selbst leiden?
(dies ist eine rhetorische Frage...)


Ich finde es sehr schade, dass Menschen manchmal einer neuen Sache keine Chance geben.

Wir können in einer Psychotherapie etwas LERNEN!
Sie BEREICHERT uns.
Und es funktioniert tatsächlich - wenn man sich nicht sperrt und dicht macht!
Wer natürlich stumm und abwehrend einem Therapeuten gegenübersitzt, kann nicht erwarten, dass dieser etwas macht ("na, dann machen Sie mal...!") und schon geht es einem besser.
Man müsste sich schon darauf einlassen. Es wenigstens einmal probieren.
Was hat man schon zu verlieren?!?!
Ich finde, man kann nur gewinnen. Nämlich Wissen.

"Eine Therapie verändert mich" <-- ???
ja natürlich! Das soll sie auch! Aber im POSITIVEN Sinne.
Jedes Lesen eines Buches verändert mich, jedes Schauen eines Films, jeder Kontakt mit meiner Umwelt -
weil das INPUT ist.
Es verändert mich, weil es mich bereichert. Ich kann wachsen, dazulernen.

"Ich bin schon so alt, da ändert sich der Mensch nicht mehr" <-- ???
Sorry, halte ich als Pauschalaussage für Quatsch.
Das kommt wohl von Menschen, die nicht mehr dazulernen wollen?
Obwohl... ich kann mir schon vorstellen, dass mensch irgendwann denkt "ich will nicht immer nur besser werden, irgendwann möchte ich auch mal sein können, wie ich bin - reicht das denn nicht? ich habe schon so lange versucht, mich zu ändern - ist denn nicht irgendwann mal Schluss damit? - ich habe keine Kraft mehr, mich zu verändern"

Ja, das hat natürlich seine Berechtigung.
Aber was, wenn die Therapie einem dazu verhilft, sein wahres Selbst noch weiter und besser herauszuarbeiten? Sich endlich mit sich selbst wohlzufühlen? Sich selbst annehmen zu können?
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otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

"ich schlucke dieses Zeug nicht, das verändert meine Persönlichkeit"

Ich nehme jetzt seit Jahren Citalopram.
Es hilft mir bei meinem Serotoninspiegel.

Hat es meine Persönlichkeit verändert?
In keinster Weise, würde ich sagen.
Es hilft mir allerdings, nicht alles so negativ zu sehen wie früher. Ich kann mich deshalb besser auf meine Therapie einlassen.

It es eine "rosarote Brille"?
Nein, überhaupt nicht.
Ich laufe nicht happy grinsend durch die Gegend und finde alles fluffig.
Aber meine Welt fühlt sich jetzt nicht mehr durchweg so "schwer und dunkel" an.
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Rudi-Reiter
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von Rudi-Reiter »

Ich kenne Die Angst vor Veränderung, vor der Ungewissheit.
Sie kann unser Verhalten stark beeinflussen.

Manche Menschen bleiben lieber in einem bekanntem Elend,
statt ihr Leben zu verändern.

Viele Menschen bleiben z.B. in einer Beziehung, in der sie misshandelt
und gedemütigt werden.

Viele verfallen in Depressionen, aber wollen nichts verändern,
manche kostet das das Leben.

Sich einzugestehen, dass man depressiv ist und sich Hilfe zu suchen
ist kein leichter Schritt.

Aber Hilfe ist möglich, bei jedem Menschen!!!


Der Satz

Ich weis nicht ob es besser wird, wenn es sich ändert,
aber ich weis, dass es sich ändern muss, damit es besser werden kann!

passt hier gut.


LG Rudi
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otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

"ich lasse doch keinen Fremden in meinen Kopf"

Wie Rudi schon schrieb:
... aber einen Arzt lasse ich meinen Körper öffnen?

Naja - das zeigt vielleicht, dass wir die Seele noch über unseren Körper stellen.
Da stellt sich für mich allerdings die Frage: wenn uns unsere Seele so wichtig ist, dass wir sie unbedingt schützen möchten - warum lassen wir sie dann so leiden?


Doch es ist natürlich schwer, sich einem Fremden gegenüber zu öffnen, keine Frage.
Bei mir persönlich klappte das mit der Einstellung der "Dienstleistung":
Da ist ein Mensch, der das extra gelernt hat,
und der ist dafür ausgebildet worden, mir zu helfen.
Der kennt Menschen wie mich, der hat Erfahrungen damit,
und es ist sein Job, mir bei meinen Problemen zu helfen.

Ich hatte somit die innere Einstellung, dass ich diesem Menschen alles vor die Füße legen konnte, was in mir so los war - und dann haben wir geschaut, was man daraus machen kann.

Natürlich ist dieser Therapeut nicht unfehlbar. Aber wir haben ZUSAMMEN daran gearbeitet, Wege zu finden, wie es mir besser gehen könnte.
Und da der Therapeut mein "Dienstleister" ist, habe ich als "Kunde" durchaus Mitspracherecht. Ich muss nicht alles tun und gutheißen, was mir angeboten wird. Das gab hier und da auch schonmal ein Ringen um das weitere Vorgehen, wenn ich spürte, dass mir irgendwas so gar nicht entsprach oder nicht zutraf oder sich einfach falsch anfühlte. Doch vieles, was mir vorgeschlagen wurde, habe ich ausprobiert, und das, was etwas Besserung gebracht hat, habe ich für mich übernommen.
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otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Hier eine Liste von berühmten Persönlichkeiten, die an Depression erkrankt sind/waren:

http://www.depressionen-depression.net/ ... ersoen.htm

http://tinyurl.com/o4xryoo
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gost
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von gost »

Hallo Otterchen,
(ups)und natürlich alle anderen,

ich glaube in vielen Köpfen ist das Bild vorhanden, das Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit bedeutet. Von der WHO wird das so definiert.

>Die Gesundheit wird in der Verfassung der WHO definiert als „ein Zustand von vollständigem physischen, geistigen und sozialen Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet“.
Quelle Wikipedia

Das eine bedingt sozusagen das andere.
Ich denke die Verbreitung zum Verständnis dafür, das der Geist genauso erkranken kann wie der Körper, würde helfen die Hürden zu überwinden. Es ist „normal“ das die Psyche krank werden kann.
Bei Bauchschmerzen ist es das normalste der Welt das man zum Arzt geht.

Aber ich glaube auch das es in letzter Zeit schon etwas „normaler“ geworden ist. Die Burn Out Zahlen sprechen für sich. Nur, Burn Out ist gesellschaftsfähig in unserer Leistungsbezogenen Gesellschaft, Depressionen nicht. Das bedeutet das man selbst etwas falsch gemacht hat. Wer gesteht sich das schon gerne ein?

Als ich mir nicht mehr selbst helfen konnte und der Leidensdruck groß genug war, konnte ich leicht zum Psychiater gehen. Aber muss es immer erst so weit kommen?
Ich denke der Umgang mit Depressionen ist auch ein gesellschaftliches Problem aber das würde hier zu weit führen.

LG
otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

"Das wird schon irgendwann besser"
oder
"das ist von selbst gekommen, das wird auch von selbst wieder gehen"

Dem kann ich nur entgegnen:
wer das tut, was er immer tut,
wird nur das bekommen, was er immer bekommt.

Sprich: wer so weitermacht wie bisher,
wird seine aktuelle Situation nicht verbessern können.

Da müsste man andere Wege finden. Nur wo? und wie?

Wenn die Situation sich ändern soll, hilft es oft nicht, einfach nur auszuharren und abzuwarten. Man kann es mal versuchen - aber für wie lange?
Irgendwann sollte man sich die Frage stellen: wie lange halte ich das schon aus? Und wie lange will und kann ich das noch aushalten? Zumal es sich ja immer schlimmer anfühlt und nicht besser wird...



@ Rudi
auch Dir ein liebes Dankeschön fürs Mitmachen!
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otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

"Ich will nicht darüber reden, was in meiner Vergangenheit passiert ist. Das war zu belastend, das will ich nicht wieder hervorholen"

Diese Einstellung kann ich verstehen. Aber: genau diese Vergangenheit ist irgendwie immer präsent. Manchmal unterschwellig und unbewusst, aber sie hat unser heutiges Leben beeinflusst und verhindert, dass wir im Hier und Jetzt unbeschwert und frei leben können.

Sich wieder in diesen Schmerz, in die Gefühle von damals zu begeben - das kann eine große Hürde darstellen.
Dennoch finde ich, dass es absolut nötig ist, um eine Heilung möglich zu machen.

Und sowas muss nicht direkt am Anfang einer Therapie geschehen. Wenn es ideal läuft, wird der Patient erst einmal stabilisiert, so dass er überhaupt in der Lage ist, dieses belastende Thema anzugehen.
Es gibt also Unterstützung!

Von meiner heutigen Warte aus würde ich sagen "das war es wert" -
es war schmerzhaft und tränenreich, aber mit der Zeit konnten alte Verletzungen geheilt und Narben versorgt werden.

Die Vergangenheit sitzt oft wie ein Stachel im Fleisch:
man ändert sein Leben so, dass man diese Stelle nicht berührt und belastet,
man handelt anders, bewegt sich anders... und läuft irgendwann total schief durch die Gegend, weil man diesen Stachel im Fleisch bloß nicht berühren möchte. Es würde ja weh tun.
Doch diesen Stachel kann man herausbekommen. Dies tut zwar weh, und auch die Heilung ist nicht einfach,
aber später kann man sich dann wieder in seiner Gesamtheit besser und freier bewegen.
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bigappel
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von bigappel »

@ Reiterluu: ich glaube, Du sprichst von meinem Mann ;-(.

Lieber im bekannten, schlechten Verharren, als die Angst vor Veränderung annehmen......

obwohl er aus meiner Perspektive betrachtet, alle Unterstützung der Welt hätte ........

@ Otterchen: es gibt für Angehörige keine Chance, auf die Heilung des gezogenen Stachels hinzuweisen, oder ;-( ?????

Hilflose Grüße
Pia
Ein Tier zu retten, verändert nicht die Welt, aber die ganze Welt ändert sich für dieses Tier.
otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Hallo Pia,

wer schmerzhafte Erfahrungen gemacht hat, wird wohl weitere Schmerzen scheuen und lieber mit einer chronischen Entzündung und anderen Beeinträchtigungen leben, fürchte ich.

Doch der gesunde Partner will geschmeidig tanzen - und der Partner mit dem Stachel im Fleisch wird das nicht hinbekommen. "Berühre mich nicht hier, diese Stelle kann ich nicht bewegen, lass uns diese Drehung vermeiden..." - so werden aus einem gemeinsamen Tanz nur holprige Schritte und steife Figuren.

Man könnte also vielleicht eine Wahl treffen:
die eigene Stimmung dauerhaft auf minus 5 Punkte akzeptieren,
oder aber eine absehbare Zeit größeren Schmerz zulassen, dann aber auf dem Stimmungsbarometer in den Bereich der positiven Zahlen kommen. Weil man mit seinem Partner endlich wieder tanzen möchte...


?
EINREDEN kann man jemandem eine Therapie wohl nicht -
wohl aber gewisse Vorbehalte zerstreuen.
Wer eine Therapie ablehnt, wird auch keinen Therapieerfolg erzielen können.
Dann aber muss sich derjenige auch bewusst sein, dass alles beim Alten bleibt bzw. die Spirale über die Zeit hinweg sogar immer weiter abwärts führt.
Und eine nicht getroffene Entscheidung ist ebenfalls eine Entscheidung!
Sich nicht FÜR eine Therapie zu entscheiden, heißt also, dass man den Status Quo noch weiter aushalten möchte oder kann.
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Cuore
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von Cuore »

Otterchen, nicht schlecht - anerkennender Knuff. Was für ein Thema!

Der tägliche Umgang mit Menschen, die ein Leben mit Depressionen, PTBS, Psychosen und andere seelischen Störungen zu bewältigen haben, hat mich schnell wissen lassen, was mit MIR los ist. Nur wahr haben wollen ich das nicht. Mir kann das doch nicht passieren: gefestigtes soziales Umfeld, keine traumatisierenden Erlebnisse (so dachte ich jedenfalls), gesunder Lebenswandel, mit beiden Beinen im Leben stehend, in mir ruhend....

Die Akzeptanz des Verrücktseins - in mir ist etwas verrückt, was mein Gefühlsleben verändert - hat gedauert. Der Wille, wieder zu "funktionieren" (welch Scheußlichkeit aus meiner heutigen Sicht - mein früheres Workaholic-Wesen ist sicher nicht mehr erstebenswert für mich), hat mich schnell zum Therapeuten geführt.
Mein Respekt vor den Psychopharmaka und ihren Nebenwirkungen hat mich lange von ihnen ferngehalten. Jetzt nehme ich sie seit einem viertel Jahr und weiß, dass sie mir gut tun.

Meine Überzeugung: Hilfe holen - alles andere ist selbstzerstörerisch!!!

Von Herzen Rike

PS: Meine Kaffeetasse auf Arbeit hat übrigens den Aufdruck: "Ich bin nicht gestört. Ich bin verhaltensoriginell!"
otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Oh ja!

"ich habe doch alles, was ich will: Partner, Haus, Kind, Job, Hund - da KANN es mir doch eigentlich gar nicht schlecht gehen"

Nun - kann es eben doch!
Man muss kein einschneidendes Erlebnis gehabt haben,
es muss nicht unbedingt ein Grund auf der Hand liegen,
man kann auch "einfach so" eine Depression oder depressive Episode bekommen.

Und MIT Behandlung besteht eben eher die Chance, dass sich das bald wieder bessert.
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Rudi-Reiter
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von Rudi-Reiter »

Man kann einschneidende Erlebnisse auch so weit verdrängen, dass man sie selbst nicht
mehr weiß.

Oder sich selbst belügen, immer und immer wieder.

Ich spreche da aus eigener Erfahrung, in der Therapie wurde das natürlich alles aufgedeckt.
Hat oft wehgetan, aber hat mir weitergeholfen!
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Nachtflug
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von Nachtflug »

Hallo Leute,

das ist jetzt besonders auf die ersten Posts von Otterchen bezogen:

Ich fände es ECHT super, wenn ihr die Enstigmatisierung der Depression ohne die gleichzeitige Stigmatisierung anderer psychischer Krankheiten betreiben würdet! Ich muss zugeben, ich bin über die Art und Weise wie hier über andere, sehr schwerwiegend erkrankte Menschen z.T. geredet wird, etwas wütend!

Das sage ich jetzt als Bipolare mit nur leichten Manien, aber ich finde es nicht in Ordnung für mehr Verständnis von Depression allgemein zu werben und im Nebensatz die "wirklich Verrückten" in eine gemeinsame Stigmatonne zu kloppen.

Es gibt psychische Erkankungen in den verschiedensten Auprägungen und Schweren an Verlaufsformen und man kann nicht pauschal sagen, das eine ist immer schlimmer als das andere. Es gibt Menschen mit milden Psychosen, die mehr Lebensqualität leben können als so manche chronischen Fälle der unipolaren Depression. Es gibt Depressionen mit psychotischen Symptomen oder zunächst unipolare Patienten, die nach mehreren Phasen eine Bipolarität entwickeln. Die Grenzen sind fließend und auch "unipolar" Diagnostizierte bzw. das Umfeld sollten beobachten, ob auch andere Symptome da sind/sich entwickeln.

Übrigens: Bei sehr schweren Depressionen treten neben der Störung der Befindlichkeit ja oft auch massive kognitive Störungen, die das Denken und die Konzentration betreffen. Läuft sie trotzdem etwa nur auf "Gefühlsebene" ab? Glaube ich ehrlich nicht...

Und es ist gut, dass auch solche "richtig verrückte" Menschen zu einem Psychiater, z.T Therapeuten, gehen und dort Behandlung finden. Es sollte die "weniger Verrückten" nicht stören, dass es andersartig Kranke gibt.Denn natürlich ist es für "die Depressiven" wichtig zu wissen, dass man nicht psychotisch sein muss, um bei einem Psychiater an der richtigen Stelle zu sein. Aber bei gleichzeitiger Stigmatisierung von Menschen mit Erkrankungen, die unbehandelt oft ebenfalls sehr schwerwiegende Folgen haben können wird der Arztbesuch für andere Erkrankungsformen auch nicht leichter.

Wenn man selbst Verständnis/Aufklärung fordert/betreiben will, sollte man doch selbst auch andere Erkrankungsformen mit ein wenig Taktgefühl behandeln können und sich ggf. mal über diese informieren.
Daher bitte: Auch "die Verrückten" sind Menschen mit einer Krankheit, die Behandlung bedarf und die sie sich wirklich nicht ausgesucht haben. Man muss keine Vorurteile über sie reproduzieren, um "normal unipolar Depressive" zu entstigamtisieren.


Alles Gute,
Nachtflug
otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Ja Nachtflug,
da hast Du Recht. Das war unüberlegt.

Was würdest Du denn einem Depressiven entgegnen, wenn er meint "Therapie - ich bin doch nicht verrückt"?

Überhaupt - ich finde diesen Begriff "verrückt" total daneben! Ich finde, das passt irgendwie auf keine Erkrankung!
Was wäre nach heutiger Definition denn noch "verrückt"??
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Nachtflug
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von Nachtflug »

Hallo Otterchen,

danke für deine Antwort. Und sorry, falls ich etwas scharf im Ton war

Ich finde verrückt übrigens nur angemessen, wenn man das Wort auseinanderzieht: Ver - rückt. Kann auf die Wahrnehmung eines Psychotikers zutreffen, diese ver - rückt oft. Die wirkliche Benutzung dieses Wortes findet aber sehr oft im abwertenden Kontext statt, deshalb finde ich es auch nicht so angemessen es zu verwenden.

Ich finde, man kann Depressionserkankten ja auch einfach erklären, dass es auch ganz andere Erkrankungen gibt, z.T. mit Realitätsverlust, aber das nur EIN Teil von Erkrankungen ist, die einer Behandlung bedürfen.
Eine klinische Depression mit all ihren schwerwiegenden Einschränkungen (bis hin zur Arbeitsunfähigkeit und dem Verlust der Fähigkeit soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, sowie ggf. unbehandelt tödlicher Ausgang) ist das AUCH! Natürlich werden Psychotiker, die in Akutzuständen hochgradig verwirrt sein können, von Psychiatern behandelt, aber das ist eben nur ein Teil ihrer Patienten. Und bedeutet eben, dass man nicht zu dieser Gruppe gehören muss, um von Behandlern wertvolle Hilfe bekommen zu können.

Alles Gute,
Nachtflug
otterchen
Beiträge: 5118
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Hi,

was meinen denn wohl die Menschen, die von sich sagen "ich bin doch nicht verrückt"?
Die beziehen das vermutlich doch auf Realitätsverlust? Darauf, sich für Napoleon oder Einstein zu halten? (so habe ich das bislang nämlich empfunden).

Etwas anderes, fundiertes können die ja eigentlich gar nicht meinen, oder?
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Nachtflug
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von Nachtflug »

Hi,

ja ich denke mal, sie beziehen sich auf solche krassen Fälle von z.B. Größenwahn/Realitätsverlust:
Unter hinter denen versteckt sich meistens eben eine Psychose:
Genau das sind meist Schizophrenie oder Bipolar-I-Erkrankungen. Bipolar-I-Patienten werden oft auch psychotisch, besonders in Mischphasen oder in heftigen Manien kommt es zu Realitätsverlust. Manche halluzinieren auch in solchen Phasen, daher ist es für Behandler gar nicht so einfach diese beiden Erkrankungen genau voneinander abzugrenzen. Gibt nicht umsonst auch die Mischform: "Schizoaffektive Störung".

Aber genauso gut gibt es auch als psychotisch definierte Symptome (Ich-Störungen), die alleine nicht ganz so schwerwiegend sein müssen wie zusammen mit Halluzinationen/Größenwahn, sodass man gleich im Bademantel durch die Gegend rennt:

Ich habe, als ich depressiv war, manchmal geglaubt, andere Leute verändern meine Gedanken durch ihre Anwesenheit. Meine Freunde und meine Familie schaden mir. Deshalb muss ich mich isolieren.
Ich habe vielleicht manchmal in mich hinein gemurmelt oder gekichert oder so - aber für Napoleon o.ä. habe ich mich nicht gehalten

Allerdings traten bei mir solche Symptome eben auch - glaube ich eher ungewöhnlicher für BiPos - im Rahmen einer depressiven Episode auf und nicht während einer (Hypo-)manie.

Aber gut, ich denke wir müssen langsam aufpassen, dass wir nicht zu sehr Offtopic werden. Ich wollte eben nur für die Entstigmatisierung aller psychischen Störungen eintreten bzw. einer Entstigmatisierung, die eben für andere Erkrankungen das nötige Taktgefühl aufbringt.

Alles Gute,
Nachtflug
otterchen
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von otterchen »

Wow, das wusste ich nicht.
Vielen Dank für Deine Erläuterungen!
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anna54
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Re: Psychotherapie? Psychiater? Ich bin doch nicht verrückt!!!

Beitrag von anna54 »

Hallo liebe Nachtflug
ich wollte dir mitteilen,dass ich deinen Beitrag sehr wertvoll fand.

Je mehr Information,um so besser kann ich mich und die anderen verstehen.

Liebe Grüße
anna54
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