Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

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Nachtflug
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Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von Nachtflug »

Hallo,

ich wollte mal Fragen, wie ihr euch nach einer schweren depressiven Episode gefühlt und verändert habt. Wie waren die ersten Schritte für euch als die Symptome abgeklungen waren? Wie habt ihr zu einem neuen Leben, einem neuen Ich gefunden und wie habt ihr euch mit diesem vertraut gemacht?

Ich bin im Moment mit dem Ärgsten über den Berg und muss nun leider gleich wieder 120% geben um mein Studium zu bestehen. Werde mittlerweile auch therapeutisch begleitet.

Doch ich merke wie sehr ich mich innerhalb des letzten Jahres verändert habe, manchmal fühle ich mich als wäre ich ein Jahr lang tot gewesen und nun aufgewacht und ein ganz anderer Mensch. Ich schäme mich für viele peinliche Dinge, die ich während der Depression getan habe - manche auch in der Öffentlichkeit, Uni. Mich belastet es, dass mich alle hier von Anfang an nur "depressiv" also als apathisch, abwesend, schlecht drauf, verwirrt, vergesslich usw. kennengelernt haben. Ich fühle mich verletzlich, weil ich einigen Menschen von meiner Depression (unitechnisch) erzählen musste, damit ich nicht rausgeworfen werde.

Noch dazu habe ich meine Entscheidung zum Studium schwer depressiv, etwas gedrängt vom Umfeld getroffen. Manchmal denke ich mir: Hm, ok dass es so verlaufen ist. Ich habe mich mit dem Ort hier arrangiert, es ist nicht super, aber ok. Und ich mag meine Wohnung und meine Freunde hier, die mich aufgefangen haben. Der Inhalt passt zumindest so zur Hälfte - also ich bin nicht so unzufrieden, dass ich deswegen wirklich mir nochmal den Stress eines Umzugs oder Umfeldwechsels antun würde.
Aber hätte ich erstmal meine Krankheit ausgeheilt, wäre ich wohl erstmal was leichtes Arbeiten gegangen, um wieder Selbstvertrauen aufzubauen, etwas Unabhängigkeit zu gewinnen.

Ich schäme mich am meisten für so manches Verhalten, dass ich aus Erschöpfung, Überforderung bei z.B. Referaten an den Tag gelegt habe, sodass das Bild entstand, ich wäre nicht reif genug für ein Studium. Faul. Unmotiviert. Stur. Professoren, bei denen ich nun keinen Kurs mehr belegen kann, weil ich ihnen nicht damit in die Augen sehen kann. Weil es ein Typ von Menschenschlag ist, der kein Verständnis für eine Krankheit dieser Art hat, denen ich das deshalb auch verschwiegen habe.

Viele Werte, Prioritäten und Ansichten haben sich in mir geändert. Es ist wie als müsste ich mich neu erfinden, neu entdecken und ich fühle mich manchmal fremd dem allen gegenüber. Als hätte ich mich die Jahre vor der Episode nie richtig gekannt? Die kleinen, kostbaren Dinge des Alltags nie wertgeschätzt? Nie gewusst was eigentlich wichtig im Leben ist?

Ich kann mich wieder etwas freuen, lachen, weinen, wütend sein - soweit, so gut. Aber meine frühere Unbeschwertheit ist weg - wird sie jemals wiederkommen? Ich gehe nicht mehr so offen auf Menschen zu, bin vorsichtiger geworden, verschlossener. Oder ist das Erleben der kompletten Hilfosigkeit, den Verlust über das Leben, Gefühle, Gedanken und Handlungen zu einschneidend, zu groß die Angst vor dem nächsten Abgrund?

Kennt ihr das auch, dass ihr Menschen jetzt viel genauer beobachtet und ganz anders beurteilt? Als hättet ihr auf einmal ganz feinfühlige Antennen bekommen? Menschen die ich früher als "etwas schüchtern und nichts selbstbewusst" erlebt hätte, beurteile ich jetzt dagegen als selbstbewusster als so manche Rampensau, weil ich spüre wie abhängig sie doch von dem Applaus der Menge ist.

Veränderte Weltsicht, Verändertes Ich. Ich erwache aus dem Winterschlaf und die Welt steht auf dem Kopf? Verwirrung???
anna54
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Registriert: 14. Sep 2010, 15:08

Re: Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von anna54 »

Hallo Nachtflug
ich habe sehr gebannt,deine Zeilen gelesen,als hätte ich es geschrieben,du hast es so gut beschrieben.
Blindflug,so habe ich mich gefühlt,erwacht,aufgetaut aus der eisigen Kälte,wer bin ich,war ich das,oh Gott,das war doch nicht ich,ich mach so etwas nicht.
Aggression war ein Problem,was denken die nur jetzt von mir,da kann ich mich nie wieder sehen lassen.
Dann hab ich das alles über Bord geworfen,ich hatte kein Fitzelchen Kraft übrig um in der Vergangenheit aufzuräumen.
Ich wollte vorwärts,kannte mich nicht mehr,meinen Haushalt,meine Dinge,ich hatte nichts mehr--- das war doch nicht ich???

Irgendwann,nach Monaten bekam ich langsam Kontakt zu der Frau---die ich nun war.
Nicht links und nicht rechts mich mit Altlasten beladen,nur vorwärts.
Bei mir kamen auch unsägliche Verletzungen aus der Zeit in der Geschlossenen dazu.
Keine Kraft,das aufzuarbeiten,nicht mehr daran rühren,es ist so unheimlich,welche Verletzungen sich dann zeigen.
Ich kannte mich nicht mehr,meine Alltagskompetenzen verloren,Schritt für Schritt wiedergefunden.
Jetzt nach drei Jahren,auch seit kurzem in der Therapie kann ich damit gut umgehen,ich könnte nicht sagen,ob mein Weg richtig war,es gab keinen anderen.
So selbstbewusst ich mich jetzt wieder öffentlich zeige,in dem Maß werde ich beachtet, und ich kann wieder Boden unter den Füßen spüren.
Achtsamkeit,endlich verstanden,Grenzen setzen,nicht jedermanns Liebling,mit Kanten und Ecken zeige ich ein trotziges Gesicht,lächeln heute wieder möglich.
Frag mich nicht nach meinen Wunden,ich stehe noch.
Die Depression hat mir alle Masken geklaut,nackt steht man da,bloßgestellt,verletzt.
Wenn ich mir klar mache,das war die Krankheit,kann ich mich wieder wertschätzen.
Ich habe meine Gedanken spontan geschrieben,weiß nicht ob du damit etwas anfangen kannst.
Dir alles Gute,nur Mut!!!
anna54
Nachtflug
Beiträge: 253
Registriert: 3. Apr 2012, 23:15

Re: Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von Nachtflug »

Hallo Anna,

vielen Dank für deine Zeilen, ich finde sie treffen den Punkt.
Den Scham, den muss ich über Board werfen. Mit dem Bewusstsein zu sagen "Ich war schwer krank, noch dazu nicht in Behandlung" fällt es leichter. Aber dieses "ich bin krank" für keine Ausflüchte in der Gegenwart zu benutzen, das ist ein schmaler Grat. Wieder an die Schmerzgrenzen zu gehen, die Belastungen des Alltags angehen anstatt ihnen auszuweichen. Den Schutzraum der Depression, ohne den ich in meiner schweren Phase nicht hätte leben können nun verlassen.

Mit der Vergangenheit muss ich abschließen, meine Verletzungen nun vielleicht eine Weile ruhen lassen, um nach vorne zu gehen und zu schauen.

Alle meine Fassaden wurden eingerissen und ich habe das Gefühl nie wieder auch nur eine einzige Fassade aufbauen zu können. Ich kann nur noch bedingungslos ich selbst sein, sonst spüre ich, dass es bergab geht.
Ecken und Kanten haben, kann anstrengend sein. Gerade wenn man noch nicht ganz stabil in der Normalität angekommen ist. Leute schütteln den Kopf, sind verägert, lassen einen ihren Unmut spüren - es ist nicht immer leicht das auszuhalten, wenn man doch gewöhnt war einfach immer unkompliziert "Everybody's Darling" gewesen zu sein. Aber es ist notwendig, ich spüre es hat auch etwas zutiefst Befriedigendes authentisch ich selbst zu sein.

Doch noch läuft das neue Ich auf Krücken, muss aber schon die Anforderungen eines vollkommen stabilen Ichs erfüllen. Das ist anstrengend, der Druck erzeugt einen schmalen Grat, auf dem es nun zu wandern giilt. Leider kann ich nicht allzu "langsam" zurück in das Leben, meine Schonfrist ist nun schlagartig vorbei. Ich werde mein bestes tun, aber meine Gesundheit ist mein höchstes Gut und ich will sie dabei erhalten. Ich hoffe so sehr, dass mir beides gelingt: Die Hürde nehmen und dabei gesund bleiben!

Alles Gute,
Nachtflug
2304.1900
Beiträge: 260
Registriert: 21. Nov 2010, 00:19

Re: Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von 2304.1900 »

Hallo Nachtflug ,


das "ICH"- ist zwar nicht so unveränderlich wie es scheint ; aber was du meinst,sind die Spieglungen/Masken des "EGO"s. Also der Dinge die du gelernt hast zu sein , ohne das du sie wirklich je gewesen bist.
Und ja ,schlaue Bücher berichten was der unerfahrene nicht Begreifen kann.

Das EGO braucht dein ICH um Leben und überleben zu können; aber das ICH nicht das EGO. Das ICH braucht das EGO, um in einer Welt die auf Lügen und Täuschungen beruht, überleben zu können.


doch je stärker das EGO das ICH täuschen/Fesseln kann ...

den rest kennst du aus jetzt eigener Erfahrung.

als analogie gesehen:


Der Moderne Mensch an sich läuft nicht Nackt umher sondern trägt Kleidung.
Der nackte Mensch wäre also das eigentliche "ICH" und das EGO die Kleidung.

Du lernst Kleidung zu tragen um dich vor wind ,wetter und Regen zu schützen.Modisch zu Kleiden,die Harre zu richten ; dich zu Schminken etc. All das wird für dich zur selbstverständlichkeit und mann lernt es als ausdruck der Persönlichkeit, sogar als die Persönlichkeit an sich zu sehen/übertragen.

In der Depression sind die Masken gefallen ,du hast erfahren was es heist wind und wetter fast schutzlos ausgeliefert zu sein und die Kraft gespürt die es braucht trotz aller Scham ,sich den Blicken und der meist holen Meinung anderer auszusetzen.

Du hast überlebt ,bist erfahrener und reifer geworden. Aber das wahrscheinlich wichtigste ist , das du das Leben aus einem anderen Blickwinkel betrachten und nutzen gelernt hast.


viele Grüße ,
Stefan
anna54
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Registriert: 14. Sep 2010, 15:08

Re: Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von anna54 »

Hallo zusammen
mir haben die Ausführungen von Stefan geholfen,wünsche mir einen weichen,warmen wunderschönen Mantel.
anna54
OMG
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Re: Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von OMG »

Hallo zusammen,

Stefan hat es so großartig beschrieben und ich werde mir seine Worte kopieren, da sie so unglaublich treffend sind und auch berührt haben. Diese Veranschaulichung ist ganz große klasse und dafür bedanke ich mich sehr herzlich.

Viele Grüße von
Ursula.
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"Wenn Euer Leben Euch wie ein mühseeliger Aufstieg vorkommt, dann denkt an die Aussicht, die Ihr von dort oben haben werdet!" Anonym
Lerana
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Re: Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von Lerana »

Hallo Nachtflug,

wow, im Moment gibt es ja wirklich einige tolle Threads hier!

ICH oder Ego, das ist hier die Frage und auch, wie erkenne ich die Trennlinie? Oft denke ich, ja das will mein ICH nur, um dann festzustellen, dass mich da wohl doch schon wieder meine Ego reingelegt hat.

Jetzt breche ich aber mal eine Lanze für mein Ego. Mein Ego ist mein Beschützer! Ich kann mich darauf verlassen, denn es ist zuverlässig. Ich habe es in der Therapie modifiziert und überarbeitet, aber es funktioniert ganz gut. Neu ist, es steht in engem Kontakt zum ICH. Die sind sich mittlerweil oft ziemlich einig und das ist ein wunderbares Gefühl. Hin und wieder merke ich, wie mein Ego sich entfernt und dann gilt es gegenzusteuern. Aber ich möchte meinen Beschützer nicht missen.

Ich will nur nicht, dass das Ego hier so schlecht wegkommt!

So und jetzt zu der verdammten Scham! Mein EGO hat früher so viel Mist gebaut! Ich habe vor kurzem auf einer Hochzeit Uni-Bekannte von früher (puh und meine Studienzeit ist schon über 10 Jahre her) getroffen. Ich habe mich so geschämt, dass ich auf dem Klo erstmal heulen musst. Aber ich versuche Frieden mit meinem früheren Ego zu schließen. Denn es hat auf völlig verrückte Weise versucht, mich zu schützen (so wie ein Mantel). Und das rechne ich ihm hoch an. Also daher: Scham wofür? Es nicht anders gekonnt, es nicht besser gewusst, es nicht echter gefühlt, es nicht lauter gesagt, es nicht leiser runtergeschluckt zu haben?

Nein, nein: Ein Hoch auf unser altes Ego! Wir brauchen uns nicht zu schämen, aber wir können ihm heute den Platz weisen, denn wir wissen: unser ICH, das hält das jetzt aus, soviel Schutz brauchen wir nicht mehr! Und das ist viel wert!

Weg mit der Scham!

Herzliche Grüße
Lerana
Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. (Francis Picabia)
CHF
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Registriert: 9. Feb 2012, 20:04

Re: Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von CHF »

Hallo Nachtflug,

ich war nun seit mehr als 5 Jahren Depressiv mit Panickattacken und dem ganzen Paket an Therapien die möglich waren. Klinikaufenthalt, Medikation und ambulatne Therapien.

Seit ca. 4 Monaten geht es mir gut. Ich habe es allerdings ganz langsam gemerkt.

Es ging alles ganz langsam. Immer wieder gab und gibt es Sachen die mir auf einmal wieder von der Hand gehen.

Ich habe mich allerdings auch geändert.

Gegenüber den Menschen bin ich auch vorsichtiger geworden. Ich würde von mir jetzt behaupten, dass ich vorher naiv, gutgläubig und zu sehr behilflich gewesen bin. Jetzt gehe ich alles "langsamer" an. Die Bauchentscheidungen in Bezug auf Menschen gibt es nicht mehr in der heftigen Art wie früher. Ich wäge ab, was ich für wen tun kann und "will". Und vor allem bringe ich es jetzt auch fertig, wenn jemand was von mir will und ich dies aber nicht tun will, auch mal deutlich nein zu sagen.

Ich habe auch einiges während der Depression gemacht was mir heute peinlich ist oder leid tut. Aber ich belasse es dabei. Ich denke heute nicht mehr drüber nach. Ich sehe nur noch nach vorne. Und wenn es mal vorkommt, dass Situationen auftauchen in der ich früher ander reagiert habe und Menschen mich auch darauf ansprechen, dann erkläre ich, dass ich damals eine andere Denkweise hatte, die aber nicht unbedingt mit meinem Handeln einherging. Und selbstverständlich sage ich auch, dass ich depressiv gewesen bin.

Ich bin heute in der Hinsicht relativ offen geworden. Ich sage offen und ehrlich, wie es ist und war. Ich gebe offen zu, dass ich depressiv gewesen bin. Und ich gebe auch mittlerweile offen zu, dass ich manisch-depressiv bin (Bipolar) bin. Gebe aber direkt an, dass ich medikamentös momentan sehr gut eingestellt bin. Lasse aber ebenfalls offen, dass gerade bei Bipolarität die Rückfallquote in die Depression oder die Manie gross ist.

Mein Chef weiss sehr genau Bescheid. Und er passt auf der Arbeit sehr darauf auf, dass ich nicht abhebe. er macht mich darauf aufmerksam, wenn er der Meinung ist, das ich mich überschätze und mehr annehme als ich leisten kann.

Heir zu Hause sagt mein Mann mir, wenn mal wieder die Linie nicht gerade ist sondern steil nach oben oder unten zeigt.

Sollten jetzt ein paar von euch Bipolar sein, kann ich nur sagen, versucht offen damit umzugehen. Dasselbe gilt natürlich auch für die ganz vielen Depressiven.

Es ist schwer, aber sowie man sich selbst ändert so wird das Umfeld eine Art Mitläufer. Und mitlaufen mit einem tun nur die, die Interesse an einem zeigen.

Meine eigen Meinung, auf alle diejenigen die damals und auch heute nicht mit mir laufen, auf die kann ich gut verzichten.

Hoffe jetzt nicht zuviel Blödsinn geschrieben zu haben und wünsche allen einen schönen Abend noch und eine kommenden offenen Tag.

LG
CHF
CHF
Nachtflug
Beiträge: 253
Registriert: 3. Apr 2012, 23:15

Re: Veränderung durch die Depression - ein neues Ich?

Beitrag von Nachtflug »

Hallo ihr,

vielen Dank für eure reflektierten Zeilen, ich finde sie sind sehr hilfreich.

@CHF: Ich habe momentan den selben Verdacht. Er wird mal abgeschwächt, mal wieder herangezogen und verstärkt je nachdem bei wem ich gerade bin. Das alles macht mir sehr große Angst, vor allem diese Ungewissheit, mit der man mich immer wieder alleine lässt. Möchtest du vielleicht mit mir per E-Mail in Kontakt treten?

@Nojono: Schade, dass du deine Beiträge/Anmerkungen editiert hast. Ich fand sie ganz und gar nicht überflüssig!

Alles Gute,
Nachtflug
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