Selbstkritik

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aquamarin
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Registriert: 2. Jul 2011, 19:14

Selbstkritik

Beitrag von aquamarin »

Hallo @all,

gerade stehe ich mal wieder total mit mir selbst im "Kampf".

Alles, was ich tue, ist einfach nicht gut genug, nicht schnell genug, überhaupt nicht genug und schon gar nicht gut...
Mein Kopf weiß, dass in der momentanen Situation nicht so viel geht, wie ich es von mir gewöhnt bin. Mir ist auch (eigentlich) klar - so sagt es zumindest Giger-Bütler in seinen mir sehr hilfreichen Ausführungen - dass es zuallererst darum geht, den Ist-Zustand ANZUNEHMEN und dann anzufangen, auf sich selbst zu achten.

Ich schaff es aber nicht, dass umzusetzen und es treibt mich gerade in den Wahnsinn. Verbunden mit den "schönsten" psychosomatischen Beschwerden, die mich noch weniger ertragen lassen, wie es mir gerade geht.
Anstatt mich über das zu freuen, was ich schon geschafft habe, ist vor meinem inneren Auge nur das zu sehen und zu fühlen, was ich IMMER SCHON MAl machen wollte, was ich UNBEDINGT NOCH tun sollte, was schon SO LANGE darauf wartet, getan zu werden...

Ich weiß, dass es Geduld braucht, um eine so tückische Krankheit in den Griff zu bekommen, deren Muster sich über viele Jahre aufgebaut haben. ABER ich habe diese Geduld nicht!! Wo soll ich sie hernehmen, wie kann ich lernen, mich mit allem, was ich nunmal bin, wirklich anzunehmen?

Vielleicht habt ihr Erfahrungen mit ähnlichen Situationen und Gefühlen und könnt mir einen Tipp geben?! ...

Grüße von aquamarin
ghm
Beiträge: 1665
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Re: Selbstkritik

Beitrag von ghm »

Hallo aquamarin,

erstmal sich vor keinem Gefühl verschliessen.

Ich bin bestrebt, jedes Gefühl erstmal kommen zu lassen, dann (wenn mir die Frage wichtig ist) herauszufinden wie es entsteht und (möglichst) wertfrei es zu haben.

Und ab und an, aus einer Situation (einem Gefühl) rausgehen, kann durchaus auch körperlich geschehen, ein Spaziergang, eine Dusch, was weiß ich, was Dir gut tut.
~~ Göttin, lass es Hirn vom Himmel regnen (und nimm den Menschen die Regenschirme weg) ~~
FrauRossi
Beiträge: 3165
Registriert: 2. Jul 2011, 11:23

Re: Selbstkritik

Beitrag von FrauRossi »

Hallo Auquamarin,

Die Antwort auf deine Frage würd mich auch interessieren. Mir geht es da ganz ähnlich wie dir.

Ich weiß nicht wie dieses sich selbst annehmem funktioniert und wie man es lernt, aber ich mache es ähnlich wie Gregor.

Ich lasse jetzt alle Gefühle auf mich zu kommen und lebe sie aus.
-Wenn mir nach heulen zumute ist - heule ich
-Wenn ich wütend werde - Schrei ich beim Autofahren laut herum
-Wenn ich mich einigeln und grübeln will - mache ich das.

Es ist nicht genug. Ja das kenne ich auch. Und so vieles will schon so lange erledigt werden. Auch das kenne ich gut.

Ich kann es aber nunmal nicht mehr. Daher versuche ich aktiv immer ein bischen zu machen. Das dauert lange und länger als früher. Aber wenn ich es nicht so mache, geschieht es garnicht, weil ich nicht mehr kann. Und da sage ich mir es ist besser wenn es lange dauert als das es nicht geschieht.

Das klappt noch nicht immer, oft gerate ich wieder in diese Erstarrung. Und schnell geht es mir auch wieder sehr schlecht.

Aber dann halte ich ganz bewußt inne. Und versuche heraus zufinden wo die Überforderung jetzt gerade herkommt. Wo die Traurigkeit herkommt etc.

Und dann versuche ich mich ganz bewußt mit Entspannungsübungen zu beruhigen. Das klappt schon ganz gut.

Das heist nicht dass ich mich selbst nicht mehr unter Druck setze. Soweit bin ich noch nicht. Aber mittlerweile merke ich es wenigstens und wue gesagt entspanne dann bewußt. Dass dieser Zustand nun möglicherweise für immer so bleibt, dass ich meine alte Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit vielleicht nie mehr zurück erlange. Das ist in meinem Kopf noch nicht angekommen.

Aber es dämmern mir zwei Dinge: einmal dass es wohl so sein wird und das aus gutem Grund und zweitens dass ich es wohlmöglich auch garnicht mehr will.

Es bleibt ein langer Weg auf dem man sich auch das kleinste immer wieder bewußt machen muss, bis es eines Tages in Fleisch und Blut übergeht.

LG FrauRossi
Antiope
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Re: Selbstkritik

Beitrag von Antiope »

Ich weiß nicht, wie das "Annehmen" funktioniert.

Nur irgendwann habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr dagegen ankämpfen kann, nicht mehr all die schönen Ziele und Wünsche erreichen konnte - und sie auch nicht mehr wollte. Ich habe (ein-)gesehen, dass ich sie nicht erreiche, dass ich damit, dass ich sie unbedingt erreichen wollte, alles verloren hatte.
Es hat lange gedauert, dass das "Nicht mehr können" einfach zu einem "Nicht mehr wollen" wurde, weil es nicht Mein Wollen war.

Aber das war nur die eine Seite. Die andere Seite ist die, dass ich andere Dinge mehr wert schätze, dass ich eher meine Stimme versuche zu leben und nicht das lebe, was die anderen wollen und auch nicht in deren Geschwindigkeit.

Wenn ich die Grenzen, die ich habe, nicht akzeptiere, dann werde ich jedesmal über sie hinwegleben und werde jedesmal eine sehr böse Erfahrung machen. Wenn mir jemand anders vorschreibt, was richtig ist, dann verliere ich mich selbst und mache eine weitere böse Erfahrung.
Und wenn ich versuche, die Grenze zu akzeptieren und an der Grenze entlang zu leben, dann kann ich mit viel Angst sie vielleicht verschieben, aber ich mache eine gute Erfahrung.
Gehe ich vorsichtig mit mir um, habe ich sehr viel Kraft und kann Neues hinzulernen.

(Bitte für die ungekämmten Gedanken entschuldigen, bei mir stürzt gerade ständig das Netz ab. So muss ich schneller schreibseln, wie Gedanken kämmen ...)

---
Vielleicht sind Deine Ansprüche an Dich selbst sehr hoch, vielleicht hast Du Angst, vor Dir selbst zu versagen?
Ich denke, etwas umzusetzen dauert sehr lange. Man muss mit "trial and error" arbeiten. Und wenn dann mal wieder "error" kommt, ist man frustriert.

Was wäre Dir als nächster Schritt wichtig? (Ein Schritt, nicht mehrere )
Und was wäre das Signal, dass Du auf dem richtigen Weg wärst? Also der erste Meilenstein? Und wie könnte der zweite, dritte, vierte, fünfte Meilenstein dahin aussehen? (also: den großen Schritt in kleine Schritte zerlegen, die für Dich überschaubar und machbar (!) sind und Dir ein Gefühl des richtigen Weges vermitteln)

Welchen Schritt hast Du letzthin nicht ganz erfolglos geschafft? Kannst Du Dich dafür ein bisschen auf die Schulter klopfen? (also: Dich selbst zu vergewissern, was Du erreicht hast)
Würdest Du nochmals jene vor vielen Monaten sein wollen, mit dem fehlenden Wissen, den noch nicht gemachten Erfahrungen und Gedanken?
aquamarin
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Registriert: 2. Jul 2011, 19:14

Re: Selbstkritik

Beitrag von aquamarin »

@ Gregor & FrauRossi, danke fürs Mitdenken!

Jetzt gerade geht es schon etwas besser, weil ich zunächst einmal das getan habe, was auch du, Gregor, angeregt hast: aus dem Gefühl wirklich körperlich herausgehen. Nach einem Spaziergang und einem leckeren Essen war dieses "ich-genüge-mir-selbst-nicht"-Gefühl nicht mehr ganz so stark. Aber ich würde gerne besser verstehen, warum es manchmal so heftig an die Oberfläche kommt. Und das an einem Tag, an dem ich doch eine ganze Menge kleiner Dinge gut geschafft habe...

FrauRossi, du sagst, dass in deinem Kopf noch nicht angekommen ist, dass der Zustand jetzt vielleicht für immer so bleibt - genau das ist auch mein Punkt! Ich WILL nicht, dass dieser Zustand bleibt, aber mir ist auch klar, dass jeder krampfhafte Versuch, den alten Zustand wiederherzustellen, mich noch weiter "hineinreitet". Je mehr ich gegen den Ist-Zustand ankämpfe, desto heftiger wird er, weil ich ja mit genau den Mitteln kämpfe, die mich krank gemacht haben: immer alles schaffen, nie Fehler machen, jede Aufgabe perfekt erledigen und alles muss immer schnell gehen...

Im Grunde will ich aber auch nicht wieder sein und agieren wie vorher. Das hat schließlich nicht zur Zufriedenheit geführt. Aber es hat die Außenwirkung aufrecht erhalten und die bröckelt jetzt. Und es bröckelt eben ganz stark mein eigenes Bild von mir. Oder zumindest von dem "ICH", das ich in den vergangenen langen Jahren gewesen bin. Das es nie wirklich ICH war, kommt erst so ganz langsam zum Vorschein.

Was mir wirklich zu schaffen macht, ist das ständige "Auf und Ab" der Gefühlszustände. Es braucht oft nur ganz wenig, dass es mir wieder schlecht geht und es ist so mühsam, immer wieder die Kraft aufzubringen, dann weiterzumachen.

Wer hat mir bloß vermittelt, dass es nur ausreicht, wenn man perfekt ist, alles mit Leichtigkeit erledigt, jeder Belastung standhält...? Ja, die Antwort kenne ich, aber wie komme ich nun daraus??

Ratlose Grüße, aquamarin
FrauRossi
Beiträge: 3165
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Re: Selbstkritik

Beitrag von FrauRossi »

Hallo Auamaun,

Ich hoffe wir kommen daraus durch:

bewusstes Erleben
ganz tief in uns hineinhören
durch ganz viel Übung im Erkennen und Zulassen der eigenen Gefühle.
Durch die Entdeckung und dann auch Wertschätzung des eigenen ich's
weg von dem Bild der anderen, hin zu einem eigenen (neuen?) Selbstbild.

LG FrauRossi

P.S. Bei mir reichen auch Kleinigkeiten um die Stimmung zu kippen. Letztens stand ich an der Ampel und eine Autoschlange, offensichtlich von einer Hochzeit, stand wild hupend auch dort. Da musste ich direkt weinen, obwohl die Stimmung vorher nicht schlecht war. Warum? Ich weis es nicht. Nehme es aber hin
aquamarin
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Registriert: 2. Jul 2011, 19:14

Re: Selbstkritik

Beitrag von aquamarin »

Antiope, auch dir danke fürs Mitdenken!

Das mit den Ansprüchen stimmt absolut - ich genüge nur vor mir selbst, wenn ich perfekt bin. Deshalb kann ich Unzulänglichkeit so schwer akzeptieren - und das nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen.
Ein Problem ist wohl, dass ich oft (immer?) nur Anerkennung bekam, wenn ich etwas GUT GEMACHT hatte - nicht einfach dafür, wie ich war oder einfach WEIL ICH WAR.
Das hängt mir nach und bestätigt sich ja zum Beispiel bei der Arbeit auch immer wieder - Anerkennung bekommst du, wenn du eine Sache gut gemacht hast - nicht, weil du ein netter, umgänglicher, sympathischer, kompetenter... Mensch oder Mitarbeiter bist...

Und NEIN, ich möchte nicht mehr die sein, die ich noch vor ein paar Monaten war - ich bin seitdem viele Schritte gegangen. Aber wenn ich mal einen Schritt erfolgreich geschafft habe, dann möchte ich am liebsten schon mit einem nächsten Schritt am Ziel ankommen - und dadurch erwächst meine Unzufriedenheit.

Im Kopf weiß ich vieles, aber es fehlt sozusagen die Übersetzung in die übrigen Anteile meiner selbst. Wissen allein reicht nicht, wenn mir die Gefühle immer wieder Streiche spielen.

Geht es euch eigentlich auch so, dass ihr, je mehr ihr an euch selbst zweifelt, nach Bestätigung von außen sucht? Ich ertappe mich dabei, dass ich jedes Wort Außenstehender auf die Goldwaage lege, daran zweifle, dass sie es gut mit mir meinen - kurz gesagt, ich erhoffe mir, dass ich das IN MIR fehlende Gefühl von außen bekomme. Was natürlich nicht klappt...

FrauRossi, wir kommen BESTIMMT dadurch - diese Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben. Aber der Weg ist beschwerlich, ich bin ungeduldig und hart mit mir selbst und auch sehr verunsichert, weil ich diesen - MEINEN - Weg nicht kenne und auch noch nie so wirklich für mich selbst geschaut habe.

Es erschüttert mich immer wieder, wie sehr mein Leben bisher von außen gesteuert war, und dass ich überhaupt kein Bewusstsein dafür habe, dass ich auch an mich selbst denken darf und mir einfach nur aus mir selbst heraus einen Wert geben kann. Dass ein für andere normaler Umgang mit sich selbst mir so fremd erscheint, macht mich ratlos und traurig...

aquamarin
ben1
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Re: Selbstkritik

Beitrag von ben1 »

Hallo Euch allen

vielen Dank an Frau Rossi, Gregor und Antiope für ganz ganz wichtige und richtige Gedanken.

Vielleicht darf ich noch einen hinzufügen - den des Erwachsenwerdens, der nicht nur zufällig was mit "Erwachen" (ist nur ein Buchstabe zum Erwachsen) zu tun hat.

Wir können die ganzen Prägungen, die wir in der Kindheit mitgekriegt haben (und da hat keiner Schuld!) nicht auslöschen. Aber wir können sie erkennen! Und wir können (oder müssen?) uns selbst neu (er)finden, um zu dem zu werden, was wir sein können.

Alle "tu das" und "lass dass" sind fest auf unserer Festplatte installiert. Das haben wir nicht zu verantworten. Wohl haben wir aber zu verantworten (nach dem Erwach(s)en)), uns mit diesen Gegebenheiten zu arrangieren, sie zu (über)prüfen und einen Umgang damit zu finden, der unser Leben so wenig wie möglich behindert.

Und wie soll das gehen?

Gute Frage.

Ich denke, wir sollten immer mal wieder die Grenzen unseres Denkens, unseres Autopiloten sprengen und zu gucken, wie es uns dabei geht. Das sich vieles anfangs "falsch" anfühlt, ist erst mal normal (unser Hirn funktiioniert da sehr konservativ). Mit der Zeit aber erweitern wir unseren Handlungsspielraum und nehmen uns immer mehr als agierend, statt reagierend wahr - mit allen Positiven (das Leben spüren, so wie es ist, mit allen "guten" und "schlechten" Seiten) und negativen ("Manomann, ich bin für alles, was mir jetzt gerade passiert, selbst verantwortlich") wahr.

Erwachsen werden bedeutet, über die kindliche Vorstellung "Ich verhalte mich so, dann passiert das, das weiß ich, das hab ich hundertmal erlebt" hinauszuwachsen und selber zum manchmal verzweifelten, manchmal souveränen, manchmal zögernden, manchmal sicheren Steuermann unseres Leben zu werden.

Stechen wir in See

Ben
Antiope
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Re: Selbstkritik

Beitrag von Antiope »

Hallo zusammen,

ganz so wie Ben sehe ich das nicht, was das Passive und Negativ Prägende der Kindheit angeht.

Wir haben bestimmte Dinge gelernt und geübt, weil es einen Zweck hatte: uns bestmöglichst an die gegebenen Umstände anpassen, damit wir durchkommen, erwachsen werden. Jedes Verhalten hat einen Nutzen.
Wenn ich mich nach außen orientiere: prinzipiell gut, da der Mensch ein soziales Wesen ist und Teil einer Gemeinschaft sein soll. Wenn jeder nur sein Ding machen würde ...? Mit der Außenorientierung kann ich Normen ("Du sollst nicht töten") und Verhaltensweisen ("Tritt nicht Deinen besten Freund") lernen, bewahre ich mich vor Fehlern und lerne, Teil der Gemeinschaft zu sein.
Kann ich das sehen, dann kann ich vielleicht eher den "inneren Kritiker", der Einhaltung sämtlicher Normen verlangt, verstehen als Schutz des sonst überbordenden Individuums und ihn an seinen Platz weisen. Dann muss ich nicht mehr so immens dagegen ankämpfen und Kräfte verschleudern.

Aquamarin, Du schreibst, Du kämpfst gegen den Jetzt-Zustand an, möchtest den alten wiederherstellen. Vielleicht hat der Jetzt-Zustand einen "Sinn"? Nämlich den, dass Du *nicht* mehr den alten wiederherstellen kannst und willst? Weil Du "eigentlich" darüber hinausgewachsen bist?
Gut, das bedeutet, Neues zu machen - und das macht Angst, kostet Energie. Und Ungeduld (alles jetzt sofort) ist auch eine Möglichkeit, diesen langen langen Pfad zur Änderung auszublenden, ihn überspringen zu wollen. Weil etwas in Dir weiß, es kostet Kraft und es kostet ganz sicher auch schlechte Erfahrungen.

Und daher wäre es wichtig, einen kleinen Erfolg anzunehmen und sich kurz dort "auszuruhen". Um das positive Gefühl, es dorthin geschafft zu haben, zu vertiefen und den inneren Kritiker mit guten Dingen zu füttern.

und hier komme ich wieder zu dem, was Ben geschrieben hat - und sehe es genauso . Nur: ich bin eher ein Küstensegler, kein Ozeandampfer ...
aquamarin
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Re: Selbstkritik

Beitrag von aquamarin »

Nach dem gestrigen Tag kann ich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass ich NICHT MEHR so werden möchte wie früher und dass der IST-Zustand zwar hart ist, aber wohl auch das Beste, was mir passieren konnte.

Antiope, ich bin mittlerweile in jedem Fall aus dem alten Zustand "hinausgewachsen" und freue mich auf die Herausforderung, etwas neues wachsen zu lassen. Aber es kommt diese Verunsicherung dazu, die Ben so schön beschreibt. Auf der einen Seite merke ich, wie wunderbar es ist, selbst steuern zu können, selbst zu entscheiden und zu agieren - aber auf der anderen Seite stelle ich manchmal mit Schrecken fest, dass damit auch die gesamte Verantwortung bei mir liegt.

Diese Tatsache habe ich in meinem bisherigen Leben gerne ausgeblendet - erst hatten meine Eltern die Verantwortung, dann habe ich sie an meinen Mann abgeben wollen. Da das nun gründlich schief gegangen ist, bleibt mir nichts mehr anderes übrig, als selbstverantwortlich zu handeln.

Den heutigen Tag bis hierher werde ich auf jeden Fall festhalten als kleinen Erfolg, so wie du es empfohlen hast, Antiope. Wenn diese umfassend guten Gefühle, die ich erlebt habe, ein bisschen nachklingen können, geben sie vielleicht auch Kraft für Momente, in denen es dann mal wieder holprig oder mühsam vorangeht.

Was ich mich frage: Wenn das alles Schritte des "Erwachsen-werdens" sind, warum gehen wir (oder zumindest ich) sie jetzt erst, wo doch schon ein ganzer Teil des Lebens vorbei ist, der allgemeingültig als Erwachsenenleben gilt?

Grüße, aquamarin
ben1
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Re: Selbstkritik

Beitrag von ben1 »

Hallo aquamarin

Eine gute Frage, die Du da zum Schluß Deines Postings stellst - warum gehen wir diese Schritte (erst) so spät?

Ich denke, es ist erst mal sehr angenehm und Energiesparend, im Autopilotenmodus zu leben. Alles ist klar wie Klosbrühe - was gut ist, was schlecht, was man machen darf, was nicht ...

Und irgendwann kommen wir, wenn wir Glück haben (wiederum Entschuldigung an alle akut Betroffenen für diese Formulierung) an den Punkt, an dem wir uns ganz erschrocken fragen "Was mach ich da eigentlich? Und wer ist dieses Ich überhaupt?". Das macht unheimlich Angst! Zur Veränderung braucht es häufig einen unheimlichen (und schrecklich anzufühlenden) Leidensdruck - das ist leider so. Aber wir können uns (wenn wir uns diesen Status des Neuanfangs zubilligen) neu und vielleicht erstmals entdecken und nach und nach (das ist kein Projekt, das in einer gewissen Zeit abgehandelt werden kann, das ist eine Lebensaufgabe!) das Leben führen, das zu uns passt. Diese Aufgabe ist eine lebenslange - und die ist nicht nur mühsam und kräftezehrend, sondern auch sehr spannend und abwechslungsreich. Um im Bild zu bleiben - wir verlassen die Koje auf unserem Schiff, die wir kennen (und die uns tödlich langweilt) und gehen ans Steuerrad, um selbst den Kurs zu bestimmen. Das ist Leben! Das bedeutet scheitern und erfolg haben, verzweifeln und glücklich sein. Das bedeutet Lernen und sich entwickeln.

Diese Definition des Lebens (die nur meine ist, also keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat) passt nicht zum Bild des Lebens, das gesellschafltich vermittelt wird - da heist es eher "kauf Dir x für Deine Koje" oder "bau Dir ein größeres Guckloch". Aber das ist Leben meiner Meinung nach nicht. Schau Dich mal um, wie viele Menschen in Deiner Umgebung sich die Koje angenehmer eingerichtet haben und nicht einen Gedanken ans Steuerrad verschwenden. Wie gesagt, so lange ich mich in meiner Koje wohlfühle, werde ich keinen Gedanken ans Steuerrad haben. Aber einige Menschen durchschauen diesen Mechanismus (unbewußt?) und drängen ans Steuer.

Viel Erfolg, viel Mut und viel Durchhaltevermögen wünscht

Ben

Der auch eher Küstensegler ist, aber ab und zu auch das offene Meer ansteuert

P.S. Antiope - ich geb Dir über frühkindliche Prägungen völlig recht - sehe aber keinen Widerspruch zu dem, was ich geschrieben habe. Wahrscheinlich meinen wir das selbst, allderdings hab ichs nicht so schön formuliert wie Du.
Madrugada
Beiträge: 2
Registriert: 10. Feb 2012, 16:44

Re: Selbstkritik

Beitrag von Madrugada »

Hallo Bin neu im Forum, und eben gerade über dieses Thema gestolpert...auch wenn es schon älter ist würde ich einfach gern noch was dazu sagen, weil ich mich in dem, was manche von euch beschrieben haben, perfekt wiederfinde.

Auch ich kenne diese völlig überzogene Selbstkritik - ich fange sehr oft an, an mir rumzukritteln und kann dann einfach kein gutes Haar an mir lassen. Ich bin völlig übersteigert perfektionistisch, und setze meine Ziele immer sehr hoch. Wenn ich dann doch eines erreiche, bin ich trotzdem nicht zufrieden. Denn erstens muss ich dann sofort das nächste, jetzt noch höher hängende Ziel in Angriff nehmen, zweitens gibt es ja immer wen, der besser ist in der jeweiligen Sache als ich. Auch das gehört bei mir immer dazu: Das ständige Vergleichen mit anderen. Besonders schlimm ist es immer wenn ich in einer Beziehung bin, so wie jetzt - fange immer sofort an, mich mit meinem Freund zu vergleichen. Zunächst in einzelnen Dingen, dann in so ziemlich allen "Fähigkeiten" und irgendwann auch, was den Charakter und die Einstellungen angeht. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen dass ich dabei gefühlt immer schlechter abschneide. Auch werdet ihr euch denken können, dass es für die Beziehung nicht einfach ist, weil er mir natürlich helfen will, ich ihn aber kaum an mich ranlassen kann in der Sache.

Die negative Folge meiner ätzenden Selbstkritik ist, dass ich kaum noch etwas anfangen möchte. Denn egal, was ich beginne, bald komme ich wieder an den Punkt an dem ich denke dass ich zu schlecht darin bin, und dan werfe ich es wieder hin. Hinterher mache ich mich dann fertig dafür, dass ich hingeworfen habe und nichts durchhalte. Außerdem wird man natürlich nie gut in etwas, wenn man nicht dabei bleibt und hinwirft. So wird das ganze zur selbsterfüllenden Prophezeiung und zum schönsten Teufelskreis. In letzter Zeit nimmt das wieder enorm zu - es gibt Tage da bin ich so wütend auf mich selber, da könnte ich mich an die Wand klatschen. An anderen Tagen geht es mir etwas besser.

Auf der "Gedankenebene" habe ich längst begriffen, dass ich keinen Grund habe mich immer so fertig zu machen. Ich weiß, dass ich immer perfekt sein will, weil ich unbewusst denke, nur dann geliebt zu werden. Wenn ich das Gefühl habe jemand in meiner Nähe ist besser als ich in etwas, fühle ich mich sofort "bedroht", weil ich dann fürchte dass ich neben im verblasse und keine Aufmerksamkeit mehr bekomme. Ich bin süchtig nach dieser Anerkennung von außen, weil ich sie mir selber nicht geben kann.
Aber all diese Erkenntnisse bringen mir noch nicht viel,weil ich es nicht schaffe sie auf die Gefühlsebene zu übertragen...

Momentan versuche ich mit mir selber "ins Gespräch zu kommen" und zu erforschen, woher all das kommt. Gleichzeitig versuche ich herauszufinden, was ich wirklich selbst will und was ich nur tu um Anerkennung dafür zu bekommen. Mal gelingt es mir, die negativen Gedanken zu verdrängen, an anderen Tagen (heute) ist das zwecklos und sie sind nicht wegzukriegen..
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