Selbstmitleid

FönX
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Selbstmitleid

Beitrag von FönX »

Hallo,

abgesehen vom erfreulichen Ausstieg aus der Fluoxetin-Medikation, habe ich heute gemerkt, dass es einen sehr wunden Punkt in mir gibt. Ich schildere ihn mal kurz.

Als ich mit 40 das erste Mal im Leben arbeitslos wurde, stand ich an einer Gabelung: entweder im Beruf bleiben (technischer Einkauf) und aus der Heimat wegziehen oder im Norden bleiben und den Beruf wechseln (Versicherungsvertreter). Ich entschloss mich, Versicherungsvertreter zu werden. Dass dieser Weg der Falsche war, zeichnete sich recht schnell ab, auch wenn ich zu bestimmten Zeiten so viel Geld verdiente wie nie zuvor. Ich war einfach nicht glücklich und fühlte mich permanent überfordert, hatte aber mit niemandem darüber geredet. Dieser Zustand hielt fast zehn Jahre an. Ich "vergewaltigte" mich also jahrelang mit dem falschen Beruf und wagte keinen Neuanfang ("ich muss ja", "was soll ich denn sonst machen?" usw.).

Da ich viel im Außendienst war und ein riesiges Gebiet hatte, habe ich mir den Luxus gegönnt, auch mal schöne Wege zu fahren, etwa an der Flensburger Förde entlang oder in Nordfriesland auch mal auf den Deich, gucken, ob das Wasser noch da ist. Das war auch irgendwie schön. Aber ich konnte diese an sich schönen Momente nicht richtig genießen. Waren sie doch immer verbunden mit der Überwindung der Angst zu versagen, abgelehnt zu werden usw..

Heute machten wir eine kleine Fahrt in Richtung Außenförde. Als wir an einem Dorf vorbeikamen, fielen mir wieder 6 Leute ein, die ich dort als V-Vertreter besucht hatte. Mir steckte ein großer Kloß im Hals und ich war kurz vorm weinen. Dann kamen wir an einen Parkplatz der direkt an der Ostsee lag. Mir fiel sofort ein, dass ich vor ca. 11-12 Jahren dort mal zwischen zwei Kundenterminen eine gute halbe Stunde Pause gemacht hatte. Mich überkam wieder eine noch größere Traurigkeit, als die Erinnerung aufkam.

In dem Zusammenhang erzählte ich meiner Frau, dass mir vor etwa einem Vierteljahr meine Therapeutin die Frage stellte, ob ich mir verzeihen könne. Auf meine Nachfrage erklärte sie, dass sie die Zeit meinte, in der ich mich viel zu lange mit dem falschen Beruf vergewaltigt hätte. Und dass ich auf diese Frage hin weinen musste. Eben, weil es mir schwer fällt, mir zu verzeihen, obwohl mir im Kopf klar ist, dass ich mir den Ausstieg eben nicht leicht gemacht hatte, weil ich Alleinverdiener für vier Köpfe war.

Es ist alles wie eine offene Wunde. Es gibt in meinem Lebensbuch Seiten, die eine lange Zeit sehr weh taten, sie anzusehen. Wenn ich sie heute aufschlage, nehme ich sie zur Kenntnis. Emotionen kommen nicht mehr hoch. Auch der Gedanke an meinen kürzlich verstorbenen Vater erzeugt überhaupt keine Traurigkeit mehr. Nur die Erinnerung an DIESE SCH.....-Arbeit, die ich so gehasst hatte, und bei der ich mich so überfordert gefühlt hatte, die tut immer noch so weh.

Als ich es meiner Frau erzählte (ein Spaziergang an der Ostsee mit dem Blick nach Dänemark ist meine Seelenmüllsortierstation), erwähnte sie die Überlebenden des Massakers auf Utöya (Norwegen). Die wären auch noch einmal hingefahren und hätten den Eltern alles gezeigt und so die Trauer bearbeitet. Nur - bei denen waren es einige traumatische Stunden und ein einziger Ort. Bei mir geht es um einen Zeitraum von ca. zehn Jahren und unzählige Orte, bei denen sich mir noch heute die Kehle zuschnürte, wenn ich wieder dort wäre. Schier unmöglich, die gleiche Strategie wie die Amok-Überlebenden zu wählen.

In der kommenden Woche fällt meine Therapiestunde aus, so habe ich sie erst Mittwoch in einer Woche. Dort möchte ich das Thema gern besprechen. Ich hoffe aber, vielleicht von euch den einen oder anderen Hinweis zu erhalten, welche Art Trauerarbeit oder was auch immer ich leisten müsste. Und ob das überhaupt eine Sache des mir-Verzeihens ist. Wenn ich mich auf diese Weise etwas auf die Thera vorbereiten könnte, wäre das sehr schön. Ich habe nur noch sieben Sitzungen und weiß nicht, ob die Therapie verlängert werden kann.

Auf jeden Fall vielen Dank für eure Aufmerksamkeit bis hierher!

EDIT: Thema geändert.

Ganz liebe Grüße
FönX

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ghm
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Re: Ich kann mir nicht verzeihen

Beitrag von ghm »

Hallo Fönx,

wie Du Dir verzeihen kannst weiß ich nicht.

Aber bei mir kommt lange vor dem Verzeihen erstmal das Annehmen (es ist wie es ist), dann das mehrmalige (oder auch oftmalige) Hinfühlen, sich der Ängste /Schmerzen bewusst machen und erfahren, dass das Leben dennoch weiter geht und das Gewöhnen an das schei.. Gefühl.

Wenn ich nmich auch an dieses Gefühl "gewöhnt" habe, kann ich langsam an das "Erlösen" gehen.

Ich denke Du musst Dir Zeit geben (und die Gefühle zulassen)
~~ Göttin, lass es Hirn vom Himmel regnen (und nimm den Menschen die Regenschirme weg) ~~
kormoran
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Re: Ich kann mir nicht verzeihen

Beitrag von kormoran »

lieber fönX,

das mit dem sich selbst vergeben ist ein ganz wichtiges und ganz schwieriges thema, auch für mich. ich kann das gut nachvollziehen.

den vergleich mit utöya finde ich gewagt ... und einfach auch zwecklos.

nicht die anzahl von orten ist das problem, das vergeben an sich ist es. und diese versöhnung wird nicht über all diese orte stattfinden (auch wenn es vielleicht zu gegebener zeit ein ritueller anhaltspunkt sein kann), sondern einfach nur in dir. dass dich diese orte so quälen ist doch nur das symptom für diese unglaublich schwere last des ungelösten.

vergleiche hinken immer ... ich dachte eine weile nach der trennung von meinem langjährigen partner, ich könnte in dieser stadt unmöglich weiter überleben. es gibt kaum einen weg, einen platz, der nicht mit erinnerungen an die gemeinsame zeit verbunden ist. lange zeit war das so unerträglich schmerzlich und der schmerz ist natürlich oft auch über die orte aufgeflammt. aber es hilft nichts - selbst wenn ich geflüchtet wäre, wäre dich doch um eigentliche nachhaltige versöhnung mit der vergangenheit nicht herumgekommen.

beim mir-vergeben ging es ganz stark darum, dass ich so lange zeit im leben nicht meinen eigenen weg gefunden habe. was mir die therapeutin nach und nach einbläuen konnte : ich konnte zu der zeit nicht anders; irgendwann wurde ein verständnisvoller blick möglich auf die, die ich damals war, die ich nicht zufällig geworden war.

dir wird das auch gelingen, dafür ist auch die therapie da.

ganz lieber gruß
kormoranin
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*** zurück ins leben!
rm
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Re: Ich kann mir nicht verzeihen

Beitrag von rm »

>...ich konnte zu der zeit nicht anders; irgendwann wurde ein verständnisvoller blick möglich auf die, die ich damals war, die ich nicht zufällig geworden war....<

Lieber FönX,

da möchte ich mich gern dem Gesagten von Kormoranin anschließen:

Du bist nicht zufällig in diese Berufsentscheidung gekommen. Im Innersten war es wohl Dein Wunsch (so hab ich Dich jedenfalls verstanden) nicht vom Norden weggehen zu müssen. Es ist Dein Zuhause, da fühlst Du Dich wohl.

Ich kann es gut nachfühlen, daß Du da jeden Strohhalm wahrgenommen/ ergriffen hast, der Dir das zuhause-bleiben ermöglichte. Mir ging es mal ähnlich. Damals wurde mir von 'gutmeinender' Stelle gesagt, daß die Entscheidung (bei meiner Familie zu bleiben) der falsche Ansatz wäre. Ich ging ebenfalls in den Außendienst und hatte ein riesiges Gebiet.

Daß ich da dann im Endeffekt weniger zuhause war, als ich mir träumen ließ, sich gleichzeitig große Spannungen aufbauten - meist in mir selbst - durch Termin- und Umsatz-/Ertragsdruck soll nicht unerwähnt bleiben. Mein Perfektionismus, immer einer der Besten sein zu wollen (mangelndes Selbstvertrauen läßt grüßen ), kam erschwerend dazu.

Wenn andre schon längst zuhause bei der Familie saßen, kurvte ich noch immer in der Gegend rum, weil ich meinte, noch nicht genug geschafft zu haben. Ok, ich will jetzt nicht mehr von mir erzählen, denn es geht um Dich:

meiner Ansicht/ meinem Gespür nach hast Du irgendwo ähnliche Dinge durchlebt, Leistungsdruck eingeschlossen. Ich glaube auch, daß die Versicherungsbranche ein noch viel undankbarerer Job ist und Versicherungsvertreter in den Augen vieler eher negativ besetzt ist. Das muß zusätzlich belasten, glaube ich.

Insofern sei froh, daß diese Zeit vorbei ist und es wäre schön, wenn Du sie als Vergangenheit akzeptieren könntest, denn ändern kannst Du an der Vergangenheit sowieso nichts mehr. Aber eins ist doch auch wichtig: Du hast bestimmt auch wertvolle Erkenntnisse aus dieser Zeit mitgenommen. Und da denke ich z.B. an Begegnungen mit vielen unterschiedlichen Menschen.

Du hast ja best. auch fachliches know how mitgenommen, daß Dir privat bestimmt mal zugute kommen wird. Und so sehe ich eigentlich neben allen negativen Erlebnissen die Chance für Dich, die jetzige Zeit durch die Erfahrungen aus der Vergangenheit wohlwollender zu betrachten und vielleicht auch schon ab und an zu genießen.

Du, und das steht doch mal fest, bist nach meinen Eindrücken, die ich aus Deinen Posts lesen konnte, ein Familienmensch. Dies ist m.E. eine sehr wertvolle Eigenschaft, die Du jetzt eher leben kannst. Deshalb meine Meinung zum Verzeihen: Es gibt nichts zu verzeihen, denn die Außendienst-Zeit ist in Wirklichkeit keine verlorene Zeit, sondern Basis, die jetzige Zeit als kostbar zu erkennen und zu erleben.

Lieben Gruß,
Reinhart
FönX
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Re: Ich kann mir nicht verzeihen

Beitrag von FönX »

Danke einstweilen für eure Beiträge.

Ich wusste auch nicht, wie ich das Thema richtig wählen sollte. Ob es überhaupt die Angelegenheit des Verzeihens ist.

Was du, Reinhard, sagst, stimmt. Der Versicherungsvertreter hat unter allen Berufsgruppen das schlechteste Ansehen. Das wusste ich, und ich wollte mit einer sehr hohen Berufsethik dafür kämpfen, dass das Image bei mir nicht entsteht. Aber das artete in eine Art Don Quixoterie aus. Letztenendes brachte mich dieser Konflikt in die totale Lähmung, die manifeste Depression.

Dass ich eine Menge Lebenserfahrung extrahieren kann, war mir schon klar. Vielleicht muss ich - neben der langen Zeit, bis die Wunden heilen - meinen Fokus darauf richten.

Lieben Gruß
FönX

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Polarlicht
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Re: Ich kann mir nicht verzeihen

Beitrag von Polarlicht »

Hallo FönX,

ich habe Probleme, nachzuvollziehen, was Du Dir nicht verzeihen kannst. Vielleicht ist das ja schon die Ursache für Dein nicht abschliessen können, wie Du es mit anderen belastenden Situationen geschafft hast. Für die vermeintliche "Fehlentscheidung" hast Du einen sehr hohen Preis gezahlt und dem solltest Du spätestens jetzt ein Ende setzen, sonst zahlst Du dafür ewig und vergällst Dir weiterhin das Leben.
Ich kann nicht erkennen, was unverzeihlich sein soll - Du hast niemandem in böser Absicht etwas angetan. Das wäre unverzeihlich, nicht das Antun, sondern die böse Absicht.

Du musstest damals entscheiden, mit der Familie am Ort zu bleiben und einen Dich stark belastenden Job machen oder aber wegzugehen, d.h. also nicht nur Du, sondern auch Deine Familie aus dem gewohnten Umfeld zu reißen. Du hast damals die Entscheidung getroffen, die volle Last des Alleinverdieners auf Dich zu nehmen und den ungeliebten Job zu machen. Heute glaubst Du zu wissen, dass es die falsche Entscheidung war, aber Du weißt das nicht. Vielleicht wäre Deine Familie durch den Umzug sehr unglücklich geworden oder Du wärest am neuen Ort nicht heimisch geworden oder, oder, oder .... Du nimmst an, die andere Variante wäre in der Ideallinie verlaufen und ich denke, dass kann man mit Sicherheit nicht sagen.

Du schreibst auch, dass Du z.T. sehr viel Geld verdienen konntest, was sicherlich auch Deiner Familie zugute gekommen ist. Schau' auf diese Aspekte, dass Du das beste aus der Situation gemacht hast, was Dir damals möglich war. Such' Dir ein Ritual, über dass Du mit der Angelegenheit abschliessen kannst, vielleicht auch zusammen mit Deiner Frau, wenn Dir das hilft (alte Visitenkarten, Werbematerialen der Versicherung, Routenpläne, was auch immer in einen Karton tun und vergrbaen oder verbrennen o.ä.). Möglicherweise ist diese Fahrt mit Deiner Frau und das aussprechen Deines Leidens ja schon so eine Anfang des Abschiednehmens gewesen. Bestimmt ist hier im Forum jemand mit Schamanismus vertraut und kann Dir einen Tipp geben. Und lass' vor allen Dingen nicht zu, dass Dir die Erinnerung an die für Dich ungeeigneten Arbeitsbedingungen in der Vergangenheit das Leben heute und in der Zukunft vergällen und auch die Freude an unserer wunderschönen norddeutschen Landschaft.

Ich musste übrigens auch das Berufsfeld wechseln, weil sich frühzeitig zeigte, dass ich für meine Berufswahl psychisch nicht ausreichend stabil war. Ich habe meinen Job geliebt, aber keine Nische gefunden, in welcher ich ihn ausüben konnte. Also war ein Wechsel nötig und den stelle ich nicht infrage. Manchmal kommt in den letzten Jahren in mir Traurigkeit hoch, weil das ein Berufsfeld war, indem alle viel von sich persönlich einbringen und, wenn ich dort hätte bleiben können, wäre ich sicherlich nicht so einsam, wie ich es heute bin.
Ich mache jetzt einen Job, in dem es auf's Funktionieren ankommt, große Konkurrenz herrscht usw - Bedingungen, die keine persönlichen Bindungen zulassen. Ich habe gute Kollegen, ich mache den Job mit einer sportlichen Einstellung, hohe Ansprüche und er macht mir sogar Spass. Aber er ist nicht das, was ich mal wollte - etwas, tun, was mir persönlich wichtig ist.
In einem Punkt bin ich mir ganz sicher, wenn ich zulassen würde, dem nachzutrauern, ginge es mir noch viel schlechter. Ich habe einfach akzeptiert, dass es so sein musste und wer weiß, wie es sich entwickelt hätte, wenn .....

sei nett zu Dir,
Polarlicht
Antiope
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Re: Ich kann mir nicht verzeihen

Beitrag von Antiope »

Hallo FönX,

für mich klingt "verzeihen" oder "nicht verzeihen" für die im Nachhinein falsche Entscheidung irgendwie nicht stimmig.

Das würde bedeuten, Du hast Schuld Dir selbst gegenüber aufgeladen, müsstest mit Dir selbst zu Gericht gehen - jedenfalls sind das so meine Verbindungen dazu.

Andersherum: wenn Du diese Entscheidung anders getroffen hättest, dann wäre Deine Familie nicht versorgt gewesen oder Du hättest sie kaum mehr gesehen, dann hättest Du soviel an Kummer und Sorgen ertragen müssen, Schuldgefühle Deiner Frau und Deinen Kindern gegenüber.

Nochmal zurück: die Entscheidung wurde aus bestimmten Gründen und mit bestimmter Hoffnung getroffen. Und die waren damals zu diesem Zeitpunkt richtig oder stimmig - sonst hättest Du anders gewählt.
Was dann gewesen wäre, keiner kann es sagen. Depression wg. Familientrennung?

Ja, es kann sein, dass Du für Dich selbst nicht so gesorgt hast, wie man sich es heute im Rückblick wünscht. Aber in anderer Hinsicht hast Du für das gesorgt, was Dir damals besonders wichtig war: Familie, Frau, Kinder. Und das ist doch das, was Dich *heute* auffängt. Das ist auch heute noch ein ganz wichtiger Teil Deines Lebens, Deines Ichs.

Ich glaube, aus dieser Entscheidungssituation hättest Du nicht unverletzt draus hervorgehen können.
Du hast viel und lange versucht, die Situation auszuhalten. Weil Deine Werte Dir das wichtig erscheinen ließen und lassen.

Nein, "verzeihen" wäre nicht richtig. Die Umstände zu sehen und den Weg zu sehen, der zu allem anderen geführt hat - nur zu sehen - das ist es, was es braucht.
Wenn verzeihen, dann nur, dass Du Dir das vorwirfst ...

Verzeihen und Schuld - Themen der Depression.

"Es ist, was es ist, sagt die Liebe."
FönX
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Re: Ich kann mir nicht verzeihen

Beitrag von FönX »

Moin!

Ich merke schon, euer Missbehagen beim Wort "Verzeihen" scheint begründet. Schon beim Aufschreiben meines Themas "Ich kann mir nicht verzeihen" dachte ich daran " - oder was ist das?" ranzuhängen. Denn, wie ihr schon schriebt, hatte ich gute Gründe, keinen übereilten Absprung zu wagen, sondern meiner Verantwortung als Familienvater und Alleinverdiener gewissenhaft nachzukommen.

Ich kann mein Problem auch mittlerweile darauf reduzieren, dass mich beim Durchfahren des Dorfes, das mich an damalige Geschäftsaktionen erinnerte und das Fahren auf den Parkplatz mit Blick auf die Ostsee, wo ich zwischen zweit Terminen Rast gemacht hatte, eine tiefe, schmerzliche Trauer überkam. Im Sinne von "FönX tut sich unendlich leid", schlicht und ergreifend Selbstmitleid. Und das kam eben auch hoch und tat sehr weh, als mich die Therapeutin gefragt hatte, ob ich mir verzeihen könne. Darauf basiert meine gestrige nicht ganz geglückte Themenwahl.

Ich werde auf jeden Fall nächste Woche mit der Thera drüber reden. Und bis dahin bemühe ich mich, wenn mich die Trauerwelle überrollen sollte, mich drauf einzulassen.

Ich danke allen, die sich mit meinem Anliegen beschäftigt haben. Ob mit oder ohne Beitrag. Allein euer Interesse stärkt mich.

Edit: Thema geändert in "Selbstmitleid".

Lieben Gruß
FönX

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uss12345
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von uss12345 »

hab mal eine doofe frage: seit wann ist verischerungsvertreter die am schlechtesten angesehene berufsgruppe? da kann ich mir noch schlimmere sachen vorstellen;-)

aber gut: es kommt ja auch immer drauf an was man draus macht und ob man über sich selbst lachen kann usw.

beim lesen ging mir auch durch den kopf, dass ich den vergleich mit dem massaker in norwegen nicht passend finde. das ist mir zu surreal und unbegreiflich schrecklich, als dass ich es mit deiner situation in verbindung bringen könnte. zu dramatisch... apropos "selbstmitleid";-)

aber mir ging auch durch den kopf, dass du als alleinverdiener offenbar deiner familie überhaupt keine mitschuld an deinen negativen gefühlen gibst. das finde, wenn ich es richtig rausgelesen habe, sehr, sehr positiv. ich kenne deine familiäre situation ja überhaupt nicht, aber ich denke, so eine "subjektive" qual durchzustehen ist nicht einfach und kann wahnsinnige spannungen erzeugen. daran kann ja einiges zerbrechen.
daher fände ich es auch toll, wenn du dich deswegen nicht so runterputzen würdest und deine eigene leistung (ev. über jahre??) siehst oder das alles im kopf als leistung umwandeln kannst!

und viel glück weiterhin beim ausstieg;-)
Clown
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von Clown »

Lieber FönX,

nur kurz, habe gerade nicht wirklich Zeit.

Dein Eingangsposting hatte ich schon gestern gelesen, jetzt sehe ich, dass du den Titel des Threads in "Selbstmitleid" geändert hast.

Mir kam gestern schon vor, dass da ein wichtiger, wertvoller Teil in dir noch Mitgefühl von dir selbst braucht.

Mitgefühl ist etwas ganz anderes als Selbstmitleid.

Später mehr, liebe (und stürmische!) Grüße von West nach Ost,

Clown
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Eckhart Tolle
FönX
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von FönX »

Moinsen,

ja, Selbstmitleid klingt auch sehr negativ besetzt. Aber ich lass das jetzt mal so. Auch wenn "Mitgefühl" besser klingt (:hello: Clown).

@penny S.:
Das ist tatsächlich so, jedenfalls, wenn man Bild.de glaubt (http://bit.ly/o1Uqz5). Der Feuerwehrmann hat das größte Ansehen in der Gesellschaft und der Versicherungsvertreter das geringste. Auf meinen Visitenkarten stand auch "Direktionsbeauftragter für Ärzte", später "Bezirksleiter", dann "Finanzmakler", obwohl das ein und das selbe war. Aber das bestimmte Unwort stand jedenfalls nicht drauf. Auf der Gewerbeanmeldung schon.

Beste Grüße von hier nach da und besonders von Nordost nach Südwest.
FönX

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FönX
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von FönX »

Fällt mir grad die Aussage eines Kunden ein, der nach einem längeren Gespräch meinte, ich hätte Politiker werden sollen. Damit hätte ich das Minus-Ansehen des Versicherungsvertreters noch ein Stück getoppt. Ich habe dann doch von einer Beleidigungsklage abgesehen.
FönX

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Schwert10
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von Schwert10 »

Clown hat recht, wenn er sagt, daß mitgefühl etwas anderes ist als Selbstmitleid. Selbstmitleid klingt so abwertend, so unberechtigt. Deine Trauer, lieber Fönx, beweist allerdings, daß von unberechtigt keine Rede sein kann. Ich weiß nicht , worüber genau du so traurig bist, ist es die Tatsache, daß du dich selbst so lange vergewaltigt hast, ist es die Tatsache, daß zu Zeit vergeudet zu haben glaubst, oder ist es die Erinnerung an die Überforderung?

Ich habe 20 Semester lang studiert, obwohl ich schon nach 10 hätte wissen sollen, daß ich meinen Berufswunsch hätte ändern müssen. Aber schon da hatte ich den Boden unter den Füßen verloren und jede Ahnung, was ich statt dessen hätte tun wollen. Ich habe es nie geschafft, heute bin ich "geringfügig beschäftigt" und ohne Berufsausbildung.

Bei mir ist da schon noch Scham gegenüber der Gesellschaft, aber auch Trauer über meine Unfähigkeit, einen Weg zu finden, manchmal Schrecken über die verlorene Zeit - aber auch Ärger darüber, daß ich nicht schon früher wußte, daß ich schon damals depressiv war. Wobei der Ärger bekanntlich die unproduktivste Emotion ist.

Ich versuche die negativen Gefühle langsam abzubauen, indem ich sie wahrnehme und durchlebe, immer so weit es gerade geht. Ich glaube, daß das auch der einzige Weg ist, mir mein Unvermögen zu verzeihen, denn so ganz geschafft habe ich das noch nicht.

Ich glaube sowieso, Verzeihen wird oft zu früh verlangt, ob nun sich selbst oder anderen. Für mich ist das ein Prozess ähnlich wie ein Trauerprozess. Es gibt Phasen, die man durchleben muß, überspringen geht nicht wirklich. Ob es etwas zu verzeihen gibt, weißt nur du selbst. Ich glaube, daß ein mögliches Ende dieses Prozesses das Mitgefühl mit sich selbst ist.

lg wakora
Das Leben ist wertvoll

ob es nun strahlend ist wie ein diamant

oder dunkel wie kohle

beide sind aus demselben stoff.
FönX
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von FönX »

@wakora
> Ich weiß nicht , worüber genau du so traurig bist, ist es die Tatsache, daß du dich selbst so lange vergewaltigt hast, ist es die Tatsache, daß zu viel Zeit vergeudet zu haben glaubst, oder ist es die Erinnerung an die Überforderung? (Zitat gering modifiziert)
Ich auch nicht. Genaugenommen sind es alle drei Aspekte gleichzeitig. Und nun? Wie gehe ich damit um? Du erwähnst Zeit. Es sind nun schon so viele Jahre vergangen. Und ich glaube, es reicht noch nicht.
FönX

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uss12345
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von uss12345 »

hallo nochmal!

ich glaube bild.de nicht und statistiken schon gar nicht!!!!!!! habe das studiert bzw. bin immer noch dabei

kenne verlorene zeit nur zu gut und komme über meine verlorenen Jahre auch leider nur schwer hinweg. aber es geht nicht anders als das beste daraus/damit für die zukunft zu machen!!!
Antiope
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von Antiope »

auch mit "Selbstmitleid" bin ich überhaupt nicht einverstanden.

Es ist doch eher die Art von (Lebens-)Bilanz, die ein an Depression Erkrankter macht, und sieht: es kommt nichts raus. Weil er die falschen Werte genommen hat, das Richtige falsch gewichtet, ...

Eine Frage: war der Weg, den Du gegangen bist, notwendig? War er so, wie er war, Dir und Deinem Inneren, Deiner Seele, Deinen Wertmaßstäben, Deinem damaligen Ist-Zustand angemessen?
*Konntest* Du ihn wirklich anders, ganz anders gehen?

Hinterher zu sagen, ab da und da hat die Krankheit beeinträchtigt. Ja, das ist ganz leicht.
Es ist doch genauso, wie wenn man einen ganz langen Pfad den Berg hinaufgeht. Ab wann wird er *wirklich* steil? Ab wann ist die Hälfte der Energie verbraucht?
Das kann man erst hinterher sagen. Oder man hat schon einiges an Erfahrung mit Bergpfaden.

Andere Frage: es gab doch sicher auch Momente in diesem Berufsleben, wo Du dachtest, geht schon, oder das ist es wert? Und Dir daraus Vorwürfe zu machen, das ist doch Käse. Depressiv Erkrankte sind arge Kämpfer - und geben halt sehr lange nicht auf.

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Hintergrund: Ich war 11 Jahre in einem Job gefangen, von dem ich am zweiten Tag sagte, mache ich keinen Tag länger. Meine Eltern, meine Umgebung beredeten mich, doch sowas nicht einfach so hinzuwerfen. Nach knapp zwei Jahren begann ein bisschen Psychoterror. Nach drei Jahren wurde es ein bisschen mehr. Nach 5 Jahren war es so heftig, dass ich mich nicht mehr woanders bewerben konnte. Ein Jahr später usw usw ... bis ich dann voller Verzweiflung nach 11 Jahren aus dem Urlaub nicht mehr in die Firma zurückgekehrt bin.
Daher kenne ich dieses Gefangensein, diese Vorwürfe im Rückblick, dieses Spielchen "hättest/solltest". Erst als ich verstanden hatte, dass der Weg nicht anders hätte gehen können, erst da gab es "Ruhe". Weh tut es immer noch, aber es ist kein Aufruhr mehr da.
Polarlicht
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von Polarlicht »

Hallo FönX,

der Begriff "Selbstmitleid" ist ebenfalls nicht angemessen - typisch depressive Sebstabwertung. Meine Güte, wir machen es Dir hier aber auch nicht leicht.
Du bis traurig über die "verlorenen Jahre" oder "enttäuscht über Dich selber" , weil Du meinst, nicht den Mut gehabt zu haben, eine echte Veränderung zu wagen. So kann man das natürlich sehen, muss man aber nicht und ich denke, es wird dem, was Du gemacht und geleistet hast, nicht gerecht.
Du brauchst garnicht weiter das Internet zu durchflöhen und Möglichkeiten für weitere Selbstabwertungen zu suchen (Ansehen von Vertriebsmitarbeitern). Das kann man zu fast jedem Beruf finden - hey, wir sind in Deutschland, mit positivem Denken, Anerkennung usw. haben wir es nicht so.

Waren es wirklich verlorene Jahre ohne Anerkennung? Ich für meinen Teil habe einen Riesenrespekt vor Vertrieblern. Jeden Tag zu fremden Menschen gehen und mit denen reden, das hätte ich keine 12 Wochen durchgehalten. Das muss Dir erst mal jemand nachmachen, der das nicht gern macht oder eigentlich garnicht kann. Nicht nur wer Neues wagt, muss einen A... in der Hose haben, sondern auch, wer den steinigen Weg geht, um der Sicherheit seiner Familie willen.
Und glaubst Du nicht, dass Deine Frau, das nicht anerkennt, spätestens jetzt, wo Du sie an Deinem Kummer teilhaben lässt?

Schau' doch mal auf die positven Aspekte:
- dass Du zwischen den Terminen auch eine gewisse Freiheit hattest, mal Pause an schönen Orten machen zu können und nicht von missgünstigen Kollegen belauert wurdest, ob Du 10 Minuten länger wegbleibst
- dass Du schöne Orte kennenlernen konntest, die Du wieder mit guten Gefühlen aufsuchen und geniessen kannst, wenn Du die negativen Erinnerungen hinter Dir lassen kannst
- dass Du allein eine Megalast für Deine Familie geschultert hast. Das muss man nicht nur abwerten, darauf kannst Du auch stolz sein.
- Deine Kinder mussten nicht umziehen, ihren Freundeskreis aufgeben, ggfs. Schuljahre wiederholen und was immer hätte schiefgehen können
- Du und Deine Frau, ihr konntet im vertrauten Umfeld bleiben und das wäre Dir nicht wichtig gewesen, wenn Du Dich nicht wohl gefühlt hättest
- Du hast ein Einkommen erzielt, was Euch ein gutes Leben ermöglicht hat. Guck' auf das Schöne was Ihr dadurch hattet. Das kannst Du doch mit einem Mal nicht zu Nichts erklären.

Weißt Du, in so einem Fall hilft der verhaltenstherapeutsiche Klassiker: aufschreiben, was war in den Jahren Gutes (zur Not lass' Dir von Deiner Frau dabei helfen) und was hätte bei der anderen Konstellation schiefgehen können (und hier mach' mal was Depressive besonders gut können: katastrophisieren). Ich denke, dann findest Du die Balance - die Wahrheit liegt in der Mitte. Die Jahre waren hammerhart, hatten aber auch ihr Gutes und die andere Variante barg Risiken, die Du wegen der Verantwortung für die Familie nicht eingehen konntest.

Ich wünsche Dir, dass Du die schönen Orte mit guten Gefühlen sehen kannst. Das hast Du Dir wirklich verdient und die norddeutsche Tiefebene auch.

Polarlicht
anna54
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Registriert: 14. Sep 2010, 15:08

Re: Selbstmitleid

Beitrag von anna54 »

Hallo zusammen
beim Lesen eurer Beiträge kam die Erinnerung,an die schlimme Zeit,wo ich schon zweimal depressiv erkrankt,aus dem Beruf "geworfen" wurde.
Ich glaube ganz sicher,die schleichende Erkrankung,die sehr späte Diagnose,dieses tägliche "reiß dich zusammen,du mußt",hat die Krankheit erst recht begünstigt.
Welch ein Schmerz es ist,seine Arbeit zu verlieren,nicht mehr zu funktionieren, das zeigen mir meine schlimmen Träume,noch 5Jahre später.
Mein Gefühl--- ich genüge nicht,dem setzt ich entgegen--- diese Krankheit ist das tückischste was man sich überhaupt vorstellen kann.
Es hat einmal jemand hier im Forum geschrieben,sollen alle die uns kritisieren oder runter machen--- erst mal 100 Tage in unseren Schuhen gehen.
anna54
FrauRossi
Beiträge: 3166
Registriert: 2. Jul 2011, 11:23

Re: Selbstmitleid

Beitrag von FrauRossi »

Hallo Fönx,

Ich mach noch nicht lange Therapie und bin daher nicht so bewandert in Fachbegriffen und Benennungen wie viele andere hier.

Ich hab nur meinen (zugegeben z.Zt. nicht besonders gesunden) Menschenverstand.

Es ist doch egal ob es Trauer heißt oder Selbstmitleid oder...
Es löste etwas in dir aus und das ist es was zählt. Genau ergründen wird das deine Therapeutin mit dir.

Bei deinem Eingangsposting schriebst du, du würdest gern die Orte nochmal besuchen so wie die Menschen nach dem Massaker.
(Ich finde übrigens nicht das du da Vergleiche zu deiner Situation angestellt hast)
Es waren aber zuviele Orte um das tatsächlich zu tun. Mein erster Gedanke beim Lesen war: Eine Landkarte! Nimm dir eine Landkarte, such dir einen ruhigen Tag aus und vielleicht stellvertretend einen der Orte, der bei dir in der Nähe ist. Da fährst du hin mit deiner Karte und kennzeichnest mit einem Stift alle Orte die für dich mit diesem Gefühl verbunden sind.
Dann nimmst du Abschied und legst die Karte in die Nordsee. Die hast du ja auf deinen Reisen gerne angeschaut.
Dann siehst du zu wie die die "schöne" Nordsee die Karte mit den Orten mitnimmt.

Ich empfehle dir ein Buch. Es ist kein Selbsthilfe Buch, aber es ist die Geschichte eines Mannes, er musste reisen er musste handeln.

Das Buch heißt: Seide

es ist die Geschichte von Herve Joncour. Herve
Joncour kaufte und verkaufte Seidenraupen.

Zitat aus dem Buch:

".... Bisweilen an windigen Tagen, ging er zum Meer hinunter und schaute hinaus
und es schien ihm als zeichnete sich dort das unruhevolle Schauspiel dessen ab, was sein Leben gewesen war...."

Es ist eine der (wenn nicht die) schönste/n Geschichte/n die ich je gelesen habe. Und ich glaube sie würde zu dir passen.

LG FrauRossi
Bastelfreund

Re: Selbstmitleid

Beitrag von Bastelfreund »

Auch ich habe sehr schlimmer Erfahrungen mit einem Arbeitgeber gemacht.Ich bin da nur mit einem von der Gewerkschaft (DGB) gestellten Anwalt rausgekommen.
Es kam zu einem Vergleich welcher für mich sehr Günstig ausfiel.
Und ich aus dieser Sache gerichtlich wieder herausgekommen bin. Allerdings gesundheitlich hatte es bei mir tiefe Spuren hinterlassen.

Trotzdem bekomme ich die ganzen Vorfälle nicht mehr aus dem Kopf. Welche nun schon fast 7 Jahre zurücklegen.
Seit dem bin ich auch in neurologischer Behandlung. Bei einen und den selben Doktor.
Welcher mir damals und auch heute sehr hilft.
Ich bin damals (vor sieben Jahren) bei ihn auch als Schmerzpatient sofort dran gekommen.
Das war zur damaligen Zeit mein erster Lichtblick gewesen.

Liebe Grüße.
FönX
Beiträge: 3373
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von FönX »

Hallo alle,

es ist nicht, dass ich keine Lust zum Antworten habe. Ich kann mich momentan nicht richtig auf das Thema einlassen, weil mich bei einigen eurer Aussagen eine große Trauer und teilweise auch Wut hochkommt.

Ich gehe aber gern nochmal auf den Titel "Selbstmitleid" ein. Sicherlich ist er bei einigen negativ besetzt. Das liegt daran, dass das Wort allgemein so negativ benutzt wird. Ich bin mit christlichen Werten erzogen, die ich auch heute noch hochhalte. In der Bibel ist auch das Wort "Eigenliebe" oder "Selbstliebe" oft negativ angewandt i.S.v. Egoismus, Selbstsucht usw.. Aber sogar Jesus Christus hat als das zweitwichtigste Gebot ja genannt: "Du sollst deinen Nächsten lieben WIE DICH SELBST.", was mir sagt, dass ich ohne eine gesunde Selbstliebe keine Nächstenliebe üben kann. Und in diesem Sinne ist dann auch "Selbstmitleid" nicht so von der Hand zu weisen. Mitleid mit mir selbst, der ich mich zehn Jahre lang fast pausenlos zusammenreißen musste, um zu funktionieren und mit niemandem richtig darüber reden konnte.

Auf einzelne sehr wertvolle Punkte in euren Posts werde ich kurzfristig eingehen.

Liebe Grüße
FönX

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Liber
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von Liber »

Hallo FönX,

dieses Hadern mit früheren Entscheidungen, und Lebensphasen kenne ich nur zu gut.

Lange hat sich dieses Gefühl irgendwie "ungut" angefühlt, so als klebe etwas (diese Entscheidung bzw. Lebensphase) an mir, und ich wolle es am liebsten loshaben, loswerden, irgendwie ungeschehen machen. Was natürlich nicht ging! Dieses Hadern war ein inneres Mich-Winden unter diesen Erinnerungen. Von Trauer oder Mitgefühl mit mir selbst keine Rede.

Deshalb habe ich Orte, die mich erinnerten, am liebsten völlig gemieden.

Im Lauf meiner Therapie wurde mir dann klar, dass der Weg genau umgekehrt ist: nicht Loswerden dieser Erfahrungen ist das Ziel (weil es schlichtweg auch gar nicht geht, sie loszuwerden!), sondern Annehmen und Integrieren.

Und dazu gehören Trauer und Mitgefühl mit mir selbst.

Es ist schwer, und ohne therapeutische Hilfe für mich nicht zu bewältigen.

Der Unterschied zwischen Selbstmitleid und Selbstliebe ist für mich der, dass Selbstmitleid bedeutet, sich selbst zu bedauern "ach, geht es mir aber schlecht, ist das alles aber ungerecht, ich armer Wurm blablabla", Selbstliebe aber bedeuten würde, sich selbst MIT diesen Erfahrungen anzunehmen, sie weder abzulehnen noch schönzureden, sondern sie als Teil von mir so anzunehmen, wie sie sind.


Lieben Gruß
Brittka
Schwert10
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von Schwert10 »

Schöner Vorschlag von dir Frau Rossi! Könnte glatt von einem Therapeuten kommen!


Übrigens ist es natürlich egal, wie man selbst seine Gefühle nennt, ist bloß im Austausch mit anderen blöd, wenn man aneinandere vorbeiredet. Ich habe übrigens auch noch keine Therapie gemacht, bin aber allgemein an Psychologie interessiert. Wobei mir dann gelegentlich auch auffällt, daß der Gesunde Menschenverstand vieles längst wußte und auch viel weniger kompliziert ausdrückt! Find ich immer wieder klasse!

Fönx, du brauchst auch nicht zu antworten, und lies nur, wenn es dich nicht überfordert. Kann gut sein, daß dieser von dir angefangene Faden von anderen weitergestrickt wird und du dir das Ergebnis dann als warmen Schal um den Hals legen kannst!

lg wakora
Das Leben ist wertvoll

ob es nun strahlend ist wie ein diamant

oder dunkel wie kohle

beide sind aus demselben stoff.
FönX
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von FönX »

Hallo, Ihr Lieben,

vielen Dank für alle Gedanken, die ihr zum Thema zugefügt habt. Den Vorschlag von Frau Rossi finde ich auch sehr gut. Ich habe mir schon eine Landkarte hervorgeholt und werde sie in den nächsten Tagen an den Stellen kennzeichnen, an denen ich Angst verspürt habe. Ich glaube, am Ende werden sehr viele Punkt drauf sein. Die fertige Karte werde ich irgendwo am Strand verbrennen und der See die Asche übergeben. Ihr habt mir auch gezeigt, dass ich das Thema auch noch mit der Therapeutin bearbeiten muss. Das werde ich auch tun. Mein Ziel ist es, diese Seite in meinem "Lebensbuch" aufzuschlagen, anzusehen, den Inhalt ohne Trauer zur Kenntnis zu nehmen und das Gefühl zu haben, mit mir im Reinen zu sein. Der Weg dahin wird wohl nur über die Annahme des Schmerzes gehen. Wie gut, dass ich für diesen Weg einige Stützen habe.

Lieben Gruß an euch alle!
FönX

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FönX
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Re: Selbstmitleid

Beitrag von FönX »

Hallo, hier eine wichtige Statusmeldung:

Meine Frau und ich haben einen weiteren Ausflug zum Ostseestrand Habernis gemacht. Vorher hatte ich eine Landkarte an all den Orten und Strecken markiert, wo ich in meiner Zeit als Versicherungsaußendienstler regelrecht Angst verspürt hatte. Wir beide waren am Strand allein, Badegäste waren keine dort. Die Karte habe ich vorher meiner Frau gezeigt, die Punkte erklärt, viele Erinnerungen kamen schmerzlich hoch.

Dann zündete ich die Karte an und verbrannte sie vollständig. Die Asche habe ich dann mit etwas Sand in die Ostsee geworfen. Danach musste ich weinen, weil es immer noch sehr weh tat. Aber ich denke, ich habe diesen Schmerz jetzt angenommen und ihn ein weiteres Stück verarbeiten können. Es war jedenfalls ein schöner Tag und ein wichtiger Meilenstein.

Lieben Gruß
FönX

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